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K lara kannte die Theorie von Ockhams Rasiermesser. Sie wusste, dass die einfachste Erklärung oft die richtige war.
Getreu dem Motto: Wenn etwas wiehernd vor der Haustür vorbeigaloppiert, ist es vermutlich ein Pferd und kein Zebra. Doch die auf den englischen Philosophen Wilhelm von Ockham zurückgehende Lehre brachte Klara, die gerade herauszufinden versuchte, was sich da für eine Gestalt über sie beugte, keinerlei Erkenntnisgewinn.
Knollennasiges Gesicht, weißer Rauschebart, ein roter Umhang …?
Auch die einfachste aller Erklärungen ergab keinen Sinn.
Aber wenn sie sich auf die wahrscheinlichste Theorie konzentrierte, hing über ihr ein gutmütig dreinblickender, pausbäckiger Weihnachtsmann.
Ich halluziniere, dachte sie und schloss die Augen. Die Nachwehen des fehlgeschlagenen Experiments im Berger Hof.
Mit der Dunkelheit wuchs wieder die Überzeugung, Yannick ausgeliefert zu sein, der sich einen makabren Scherz mit ihr erlaubt hatte.
»Nun mach schon!«, forderte sie den falschen Weihnachtsmann auf. Die Kälte des Waldbodens, auf dem sie lag, kroch weiter in ihr hoch. Sie verkrampfte wie auf einem Zahnarztstuhl, kurz bevor der Bohrer auf den Nerv traf. Klara wusste, die Schmerzen würden kommen, und sie wusste, sie würden unerträglich sein, aber noch unerträglicher waren die Sekunden unmittelbar davor, in denen ihr Endgegner ein perverses Katz-und-Maus-Spiel zu beginnen schien.
»Geht es dir gut? Verdammte Scheiße. Wat machst du denn hier draußen, Mädel?«, hörte sie den Kostümierten sagen. Seine Worte rochen nach Alkohol und Tabakrauch, und allein das Sprechen schien dem beleibten Mann einiges abzuverlangen, denn er keuchte wie ein Paketbote nach einer Lieferung in den fünften Stock.
Klara öffnete wieder die Augen. »Du bist nicht Yannick«, stellte sie fest.
»Wer bin ick nich?«
Und auch nicht Martin. Ihr snobistischer Mann hasste Dialekte und würde sich eher die Zunge herausreißen, als »mit dem unverkennbaren Akzent der Unterschicht« zu sprechen, wie er das Berlinerische bezeichnete. Wobei der Kerl sich unverkennbar bemühte, hochdeutsch zu reden, und nur bei einzelnen Wörtern in den Dialekt verfiel.
»Mann, Mann, Mann, ick glaub, dich hat’s mächtig umgezwirbelt. Is wat gebrochen?«
Klara schaffte es, den Kopf zu heben. Ihre Gedanken tanzten wie das Schneeflockenkonfetti im Scheinwerferlicht des Wagens, aus dem der Mann gerade gestiegen war. Sie schätzte ihn auf Mitte fünfzig.
»Nee, beweg dich nich. Ick hab jehört, wenn wat mit der Wirbelsäule is, könnte es ungemütlich werden.«
Klara hätte am liebsten losgelacht. »Ungemütlich« passte auf ihre Gesamtsituation – und das wahrlich nicht erst seit heute Nacht. Was hingegen ganz und gar nicht passte, war der Santa Claus, der gerade sein Handy ans Ohr nahm.
»Halt!«, herrschte sie ihn an, kraftvoller, als sie sich zugetraut hätte.
»Schätzchen, wir müssen einen Krankenwagen holen, auch wenn ick keene Ahnung hab, wie der hier rinkommen soll. Verdammt, wat haste dir dabei gedacht, mir einfach so wie Bambi ausm Wald vor die Karre zu hüpfen?«
»Kein Problem, mir geht’s gut«, log Klara. »Nichts gebrochen«, sagte sie und hoffte, dass wenigstens das der Wahrheit entsprach. Sie biss die Zähne zusammen und schob sich in eine sitzende Position.
»Ernsthaft? Das war ein gewaltiger Rums.«
»Ja, ernsthaft. Wer sind Sie?«, fragte sie den Mann, dessen Gesicht nur aus Haaren und Bart zu bestehen schien, und hätte am liebsten nachgesetzt: Sind Sie real? Oder eine Nachwehe meines psychotischen Experiments?
In ihren eigenen Ohren hörte sie sich völlig unverständlich und vernuschelt an, doch sie bekam eine Antwort:
»Ick bin Hendrik, von Jimmy-Hendrik-Entertainment. Normalerweise steck ich neuen Bekanntschaften immer meine Karte zu. Aber ohne unhöflich sein zu wollen, du siehst nicht so aus, als ob du mich in nächster Zeit mal buchen willst.«
Klara lachte ungläubig auf und versuchte sich weiter aufzurichten. »Sie tun nur so?«
»Nee, ick bin wirklich Santa Claus.« Der Mann wandte sich kopfschüttelnd ab und murmelte zu sich selbst: »Alter, die ist schon vor dem Unfall offenbar einmal zu oft gegen ’ne Tanne gelatscht.«
Er sah zu seinem Wagen und kratzte sich am Hinterkopf. »Mann, Mann, Mann. Ick dachte schon, die verrückten Weiber im Forsthaus kann niemand toppen, aber das hier ist ja noch ein Stück heftiger. Obwohl, Moment mal.« Offenbar besann er sich darauf, dass er nicht alleine war, und drehte sich wieder zu Klara zurück. »Gehörst du zu den Waldarbeitern?«
»Zu wem?«
»Die haben das Forsthaus in Beschlag genommen und ziehen da eine Feier ab, dagegen ist Lollapalooza ein Kindergeburtstag, ick schwör’s dir. Eine von den Ollen hat mich ernsthaft gefragt, ob sie ihren Glühwein aus meinem Stiefel saufen darf. Und du wirkst mir so, als hättest du es ihr vorgemacht, um dich danach vor meine Karre zu schmeißen.«
Klara griff nach seiner ausgestreckten Hand und zog sich an ihr hoch. »Ich bin nicht betrunken«, lallte sie und schaffte es nicht, einen spitzen Schrei zu unterdrücken, als sie das Bein belastete.
»Klar, und ick bin mit meinen Rentieren unterwegs, hey, Moment mal.«
Schritt für Schritt stakste Klara dem Scheinwerferlicht des Kleinwagens entgegen, der sich dem Logo nach als irgendein Japaner oder Koreaner entpuppte, so gut kannte Klara sich da nicht aus.
»Wo willst du hin?«
Klara gab ihm keine Antwort, denn tatsächlich hatte sie keine Ahnung. Ihre vereiste Hose scheuerte im Schritt, ihr Körper zitterte gleichermaßen vor Erschöpfung und Kälte. Nur an die Schmerzen durch den Aufprall war sie gewöhnt. Sie fühlte sich wie verprügelt. Alles, was sie noch über die Lippen bekam, war ein »Mir ist kalt«. Dann riss sie die Wagentür auf und ließ sich auf den Beifahrersitz fallen.
»Allet klar, logisch. Kein Problem. Fühl dich ganz wie zu Hause, jetzt, wo wir uns so gut kennen«, hörte sie Hendrik hinter sich rufen. »Alter, Sachen jibt’s. Dit gloobt mir keener.«
Er kam ihr hinterher, öffnete die Fahrertür und drehte sich wie eine Schraube neben ihr in den Wagen. »Also, ick bring dich jetzt in eine Notaufnahme.«
Ein Wunder, dass er bei seinem Volumen überhaupt auf den Fahrersitz passte.
»Nein, könnten Sie mich bitte …« Klara hörte mitten im Satz auf zu reden, weil sie keine Ahnung hatte, wohin der kostümierte Unbekannte sie stattdessen fahren könnte. Allerdings machte der keine Anstalten, den Motor anzulassen.
»Ick fahr hier keinen Millimeter, bevor du mir nicht sagst, wat Sache ist. Wer biste? Und wat machste um diese Uhrzeit mitten im Nirgendwo?«
»Das ist eine lange Geschichte«, murmelte sie.
»Ich hab Zeit.«
Klara musste trotz ihres erbärmlichen Zustands lächeln. Als sie darüber nachdachte, wie sich wohl die Wahrheit für ihren kostümierten Retter anhören würde, musste sie aufpassen, nicht wie irre loszulachen.
»Ich werde erpresst, entweder meinen Mann oder mich selbst zu töten. Da ich eine schwache Frau bin, wie mir jüngst am Begleittelefon bestätigt wurde, entschied ich mich für den Selbstmord, war aber zu blöd, am Teufelsberg vom Kletterfelsen zu springen, und auch das mit den Autoabgasen hab ich nicht hingekriegt. Weswegen ich jetzt auf der Flucht aus meiner Gartenlaube vor dem Kalender-Killer dem Weihnachtsmann vor seine Mini-Karre gelaufen bin.«
Da sie ihre Gedanken für sich behielt, übernahm Santa-Hendrik das Sprechen für sie: »Weißt du überhaupt, was du für eine Suppe hast? Ich hab hier ne Ausnahmegenehmigung von den Flitzpiepen bekommen. Hier darf normalerweise niemand langfahren, den Weg kennt sonst auch keiner, der nicht in den Wäldern arbeitet.«
Ihr Handy meldete sich mit einem Akkustandssignalton und erinnerte sie, dass sie maximal noch zwanzig Prozent Ladeleistung hatte.
Klara zog es aus der Hosentasche hervor und stellte erstaunt fest, dass die Verbindung mit Jules noch stand.
»Hallo? Hören Sie mich?«
Die Antwort kam beinahe umgehend, allerdings sehr leise. »Ja, ich bin noch dran. Alles gut bei Ihnen?«
»Hm, wie man’s nimmt.«
Sie sah zu Hendrik, der ihr einen skeptischen Blick zuwarf und sich vermutlich fragte, weshalb die Gestörte es vorzog, halb erfroren durch den Wald zu irren, als mit ihrem Handy Hilfe zu holen.
»Ich bin schwach, und mir ist kalt. Ich weiß nicht, wo ich hinsoll.«
Hendrik schüttelte konsterniert den Kopf, als könne er mit jeder Sekunde weniger fassen, in welche Situation er da hineingeschlittert war, aber immerhin startete er den Motor und damit die Heizung.
Jules sprach derweil noch leiser, beinahe flüsternd: »Sagen Sie mir, wo Sie sind. Ich hole Sie ab, Klara.«
»Ich weiß nicht, wo ich bin, ich sitze in einem Auto.«
»Ihr Auto?«
»Nein, ich wurde mitgenommen.«
»Von wem?«
»Vom Weihnachtsmann.« Sie lachte hysterisch auf. Oh Gott, auch Jules musste sie für besoffen halten. »Kein Witz, neben mir sitzt Santa in voller Montur. Mit Stiefeln, Mantel, Perücke und Vollbart.«
Eigentümlicherweise war es gerade die Absurdität dieser Kostümierung, die dafür sorgte, dass sie weniger Angst vor diesem Unbekannten hatte, als es angebracht gewesen wäre. Immerhin war sie schon mehrfach im Leben auf das sympathische Äußere eines Mannes hereingefallen.
»Geben Sie mir den Kerl«, forderte Jules sie auf.
Erst wollte sie protestieren, aber zu welchem Zweck? Sie hatte doch ohnehin keinen Plan mehr, den ihr Begleiter durchkreuzen könnte.
»Moment.«
Klara wollte Hendrik gerade den Hörer reichen, als sie ein extrem verstörendes Geräusch hörte.
»Was war das?«
Sie führte das Telefon zurück ans Ohr in der Hoffnung, sich getäuscht zu haben. Aber es wiederholte sich.
Abgehackt, verzerrt und dennoch unverkennbar.
Klara fragte sich, ob das wirklich sein konnte. Jules hatte doch gerade behauptet, seine Kinder wären bei dem Wohnungsbrand gestorben.
Valentin sofort. Fabienne hatte er angeblich beim Sterben zugesehen.
Und doch war es ganz sicher ein kleines Mädchen gewesen, das gerade eben auf Jules’ Seite der Leitung jämmerlich um Hilfe geschrien hatte.