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N ichts. Nicht einmal mehr Rauschen.
Klaras Antwort, wenn sie denn eine gegeben hatte, war irgendwo im Äther gestrandet.
Funkloch?
Der fortlaufenden Anzeige seines Displays nach stand die Verbindung zu Klara noch, obwohl sie seit seiner letzten Frage kein Wort mehr gesagt hatte. Die Uhr, die die Gesprächsdauer maß, grub sich sekündlich nach vorne in eine ungewisse, bedrohliche Zukunft; nicht nur für Klara, die sich während ihres nächtlichen Irrlaufs nach Martin und Yannick mit dem Fahrer an ihrer Seite womöglich einer weiteren männlichen Gefahrenquelle gegenübersah. Auch Jules fühlte sich von einer unsichtbaren Macht bedroht. Einer Person, die es geschafft hatte, unbemerkt zu ihm in die Wohnung einzudringen. Die, wenn er an den Holzblock neben der Spüle dachte, womöglich bewaffnet war.
Und die er mit sich gemeinsam hier eingesperrt hatte.
Das Schlüsselbund in seiner Hosentasche fühlte sich an, als hätte es auf einer Grillflamme gelegen. Auf seinem Weg in die Küche meinte Jules zu spüren, wie es sich durch den Stoff seiner Hose fraß, einem glühenden Schmiedeeisen gleich.
Jules überlegte, was ein normaler Mensch in dieser Situation tun würde, und entschied sich für das Nächstliegende. Bevor er Dritte um Hilfe bat, musste er sich selbst vergewissern und die Wohnung komplett und gründlich durchsuchen. Abgesehen davon, dass kein Polizist zu ihm kommen würde, einzig und allein wegen des Hinweises: »Kommen Sie schnell, meine Tochter und ich sind in Gefahr. Ich habe ein klimperndes Schlüsselbund gehört, und mir fehlt ein Küchenmesser.«
An einem Wochenende wie diesem, bei dem allein das Wetter die Stadt in den Ausnahmezustand versetzte, gab es für den Bezirk vielleicht drei Streifen, und die hatten gravierenderen Hinweisen nachzugehen.
Jules überlegte gerade, mit welchem Zimmer er die Durchsuchung beginnen sollte, als sein Handy vibrierte.
Keine Begrüßung, keine einleitenden Worte. Sein Vater kam gleich zur Sache: »So, ich hab mal ein paar Drähte glühen lassen, was um diese Uhrzeit nicht so easy ist, wie du dir vorstellen kannst, Junge. Aber ich hab da einen Premiumkontakt zu einer Eins-a-Krankenschwester.«
Aha. Premiumkontakt.
So bezeichnete er heute also seine sexuellen Eskapaden. Jules, mittlerweile in der Küche angekommen, wunderte sich, dass es immer noch genügend junge und meist sogar gut aussehende Frauen gab, die auf die Privatdetektiv-Masche dieses in die Jahre gekommenen Playboys hereinfielen. Vielleicht wurden sie von seiner dunklen Ader angezogen, die bisweilen durchschimmerte wie Falten unter brüchigem Make-up. Sein Vater hatte ihm bei einer Weihnachtsaussprache einmal unter Tränen versichert, wie sehr er sein damaliges gewalttätiges Verhalten bereue. Auch dass er seine Wut über sein verkorkstes Leben an seinem Sohn ausgelassen habe, nachdem er Mama aus dem gemeinsamen Leben geprügelt hatte. Doch Jules hatte ihm seine Reue nie geglaubt. Für ihn hatte es sich wie die Beteuerungen eines Alkoholikers angefühlt, der allen erzählt, dass er jetzt ein für alle Mal trocken bleiben will, während er sich schon eine Entzugsklinik in der Nähe seiner Stammkneipe ausgesucht hat.
»Was hast du für mich?«, fragte Jules und fuhr herum. Im matten Spiegel des verchromten Kühlschranks meinte er einen Schatten hinter sich gesehen zu haben, doch die Küche war leer.
»Zwei Worte: Vergiss es!«
»Gar nichts?«
»Ich meine: Du sollst die Tante vergessen. Die ist nicht ganz koscher. Ja, sie war im Berger Hof in Behandlung, aber nicht als Teilnehmerin eines Experiments, sondern weil sie wirklich unter einer dissoziativen Störung leidet – oder wie man das nennt, wenn man Wahn und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden kann.«
»Und?«
»Und? Was brauchst du denn noch, um zu kapieren, dass du dich verrannt hast? Schalt mal dein Helfersyndrom in den Pause-Modus. Wenn du schon die Welt retten willst, konzentrier dich auf reale Menschen. Auch von diesem Johannes Kiefer hat nie jemand etwas gehört. Es gab und gibt dort keinen Arzt mit diesem Namen.«
Jules zog sich einen Barhocker heran und setzte sich an den Arbeitsblock der Kücheninsel. Von hier aus hatte er einen guten Blick durch die offen stehende Küchentür den Flur hinunter. Sollte sich jemand dem Kinderzimmer nähern, würde er es sehen und hören.
»Check noch mal unter dem Namen Yannick. Und was ist mit Kernik?«
»Ach ja, richtig, das ist der Oberhammer. Ihn hatte ich persönlich am Apparat.«
»Er lebt?«
»Putz und munter. Was wohl bedeutet, dass der Assistenzarzt nie aus dem Fenster gesprungen ist, wie deine Märchentante dir weismachen will.«
»Merkwürdig.«
Jules öffnete die oberste Schublade der Kücheninsel. Aus den sich darin befindlichen Backutensilien (Förmchen, Rundholz, Backpapier) konnte er sich keine brauchbare Bewaffnung bauen, gegen welchen Eindringling auch immer, sollte es denn überhaupt einen geben.
»Nicht merkwürdig. Sondern wahnsinnig. Leg einfach auf und vergiss sie. Ich geh wieder ins Bett.«
»Nein, das tust du nicht.«
Jules musste sich eingestehen, dass die Schlussfolgerung seines Vaters naheliegend war: Er hatte sich verrannt. Aber schon aus Prinzip wollte er ihn nicht so einfach von der Leine lassen. »Hast du Klaras Nachnamen in Erfahrung gebracht?«
»Nein. Und auch keine Adresse.«
Wie bitte?
»Woher wusste dann die Krankenschwester, von wem die Rede ist?«
»Weil sich noch alle gut an das verrückte Huhn erinnern können, das schreiend durch die Klinik lief und behauptete, ein Arzt hätte sich das Leben genommen. Kommt auch dort nicht so oft vor.«
Jules schüttelte den Kopf. Die Geschichte konnte so nicht stimmen. Sein Vater war müde und hatte einfach keine Lust auf eine korrekte Recherche. »Lass mich raten: Deine Quelle hat mitten in der Nacht keinen Zugriff auf die Datenbank mit den Patientendaten?«
»Bingo.«
»Nun gut, dann bleib dran. Ich will wissen, mit wem ich da spreche. Ach, und du musst für mich ins Le Zen
»Das Hotel?«
»Ganz genau.«
»Was soll ich da?«
Jules kniff die Augen zu, was etwas unsinnig war, war es doch kein visueller Reiz, der ihn gerade alarmiert hatte, sondern ein Knacken. Wobei das von den alten Fenstern rühren konnte. Draußen fiel noch immer Schneeregen, und der Wind rüttelte in böigen Abständen an allem, was sich ihm in den Weg stellte. Kein Wunder, dass es im Inneren der Wohnung hin und wieder im Gebälk und Gemäuer ächzte und krachte.
»Ich sag’s dir, wenn du in dreißig Minuten in der Lobby stehst«, sagte er zu seinem Vater, der postwendend protestierte: »Hast du mal einen Blick auf die Uhr und durchs Fenster geworfen? Ich hab keinen Bock, bei dem Wetter meine warme Hütte zu verlassen.«
»Und doch wirst du es tun.«
»Und wenn nicht?«
»Werde ich nie wieder in diesem Leben ein Wort mit dir wechseln.«
Die finale Drohung. Jules wusste, auch wenn er ihn ständig beschimpfte, so war er doch für seinen Vater im Grunde der einzig wirklich relevante Kontakt. Auf den ersten Blick wirkte H. C. Tannberg wie der Stamm einer mächtigen Eiche. Was dem Blick Außenstehender verborgen blieb, war, dass dieser Baum nur noch von wenigen im Erdreich verborgenen Wurzeln gehalten wurde. Die stärkste hatte er mit seiner Frau verloren, Freunde gab es nur wenige. Sollte er jetzt auch noch die Verbindung zu seinem Sohn kappen, würde er beim nächsten Sturm ins Wanken kommen und umstürzen.
»Okay, okay. Ich mache es«, kam es auch prompt. »Aber wenn du mich fragst, solltest du dir über etwas ganz anderes Gedanken machen.«
Jules musste blinzeln. »Und das wäre?«
»Nun, du sprichst mit dieser Tante Klara übers Notebook, richtig?«
»Korrekt.«
»Und das hast du heute von diesem Caesar bekommen?«
»Ja.« Worauf wollte sein Vater hinaus?
»Und der erste Anruf, kurz nachdem du dessen Schicht übernommen hast, kommt ausgerechnet von einer Selbstmordkandidatin, die wie Dajana im Berger Hof in Behandlung war?« Sein Vater schnalzte mit der Zunge. »Also wenn das nicht ein unglaublicher Zufall ist, dann weiß ich auch nicht.«
Du hast recht. Das alles hier kann kein Zufall sein, dachte Jules und legte erneut den Kopf schief. Wieder schloss er die Augen, was im Grunde unsinnig war, denn dadurch wurden seine Sinne auch nicht schärfer. Im Gegenteil. Sie spielten ihm vermutlich sogar einen Streich.
Unschlüssig, ob er nur ein Opfer seiner Vorstellungskraft war, drückte Jules seinen Vater weg, nahm das stumme Handy zur Hand, mit dem er hoffte, noch immer die Verbindung zu Klara zu halten, und folgte dem Geräusch eines tropfenden Wasserhahns.
Von wo immer es auf einmal auch herkam.