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Klara
D
reißig Monster, die meisten von ihnen schliefen.
Um ihre Tochter bei längeren Autofahrten bei Laune zu halten, hatte Klara ihr erzählt, dass das Navigationssystem ein Monster-Navi wäre. Sobald es dunkel werde, zeige es die Anzahl und die Aktivität von Geistern auf ihrer Route an. Dunkelgrüne Flächen auf der Landkarte signalisierten schlafende Monster, hellere Farben auf dem Monitor diejenigen, die gerade auf Wanderschaft waren. Die Geschwindigkeitsanzeige stehe für die Gesamtzahl, aber Amelie müsse keine Angst haben, die Ummantelung des Wagens sei undurchdringlich für böse Gestalten; im Inneren eines Autos seien sie immer sicher.
Alles gelogen,
dachte Klara, während der Wagen die holprige Waldpiste verließ und auf die Teufelsseechaussee einbog. Ihr Handy steckte zwischen ihren Schenkeln, die langsam wieder auftauten, so wie der Rest ihres Körpers.
»Wieso trägt er noch immer seinen Weihnachtsmannbart?«
Seitdem Jules ihr diese Frage gestellt hatte, wünschte Klara, das Märchen vom Monster-Navi, das sie Amelie aufgetischt hatte, würde wenigstens in einem Punkt der Wahrheit entsprechen, doch natürlich gab es im wahren Leben keine für Bestien undurchdringlichen Barrieren. Und sehr wahrscheinlich saß sie im Auto neben einer.
Tatsächlich war Hendrik (wenn er überhaupt so hieß) noch immer in voller Weihnachtsmann-Montur, und er hatte den Bart auch jetzt noch nicht abgenommen.
In der Aufregung hatte sie nicht darüber nachgedacht, wie unsinnig das war. Allein die auf Hochtouren arbeitende Heizung hätte sie dazu gebracht, sich den weißen Filz aus dem Gesicht zu reißen (immerhin war Hendrik nicht wie sie durch die Kälte geirrt), doch er trug sogar die Handschuhe, die angeblich Pflicht für das perfekte Santa-Outfit waren (das hatte sie einmal in einer Frauenzeitschrift gelesen), da man mit Handschuhen am besten das wahre Alter des Weihnachtsmann-Darstellers verbergen konnte.
Kein Schmuck, keine Uhren, keine weißen Socken, keine billigen Jeans – nichts, was die Illusion bei den Kindern zerstören konnte, die von Natur aus misstrauisch waren.
»Ick glaube, am nächsten ist das Paulinenkrankenhaus an der Heerstraße, weiß aber nicht, ob die eine Notaufnahme haben.«
Hendrik brachte die Schaltung zum Knirschen, indem er einen Gang höher schaltete. Der Wind wütete hier draußen so stark, dass der Kleinwagen manchmal regelrecht ausgebremst wurde, so als würde sich ein unsichtbarer Riese hin und wieder aufs Dach setzen.
Die Anzeige des Monster-Navis hatte von dreißig auf fünfzig gewechselt. Auch die Furcht wuchs in Klara.
Allein die Tatsache, dass Hendrik um diese Uhrzeit noch unterwegs war, war Anzeichen genug, dass sie es mit einem Lügner zu tun hatte, der im harmlosesten Fall einfach nur exzentrisch, sehr wahrscheinlich aber gefährlich war. Weihnachtsmänner und Nikoläuse wurden zur Feier am Nachmittag ins Wohnzimmer bestellt, nicht zur Geisterstunde in den Grunewald.
»Willste mir bis dahin nicht erzählen, was dit alles soll? Ick meine, mir erst vor die Karre hopsen, um dann während der Fahrt in die Klinik Schlaflieder zu trällern, ick will ja nüscht sagen, aber meine ersten Dates laufen jeringfügig anders ab.«
Ach ja? Eher mit K.-o.-Tropfen, Kabelbinder und Paketklebeband?
Klara überlegte, ob sie das Nächstliegende tun und ihn einfach wegen seines Outfits befragen sollte, aber was für eine Antwort würde da schon kommen? »Ja, ich bin ein perverses Schwein, das sich gerne kostümiert, bevor es Frauen verschleppt und vergewaltigt. Es tut mir leid, ich hätte es Ihnen gleich sagen sollen.«
Nein, jetzt, da sie den Wald verlassen und etwas Strecke zwischen sich und die Laube gebracht hatten, musste sie nur so schnell wie möglich aus dem Auto kommen. Im Grunde war es ihr egal, ob Hendrik ein Psychopath oder ein harmloser Spinner war. So oder so würde sie ihm nicht ihre Privatadresse verraten, und doch wollte und musste sie so schnell wie möglich dorthin. Zu Amelie. Diese Sehnsucht hatte Jules in ihr geweckt. Klara wollte wenigstens ein letztes Mal das Gesicht ihrer Tochter sehen, ihre Hand halten, sie küssen, bevor Yannick oder Martin die Sache zu Ende bringen würden. So oder so, jeder auf seine Weise.
»Ich habe es mir anders überlegt«, sagte Klara. Sie passierten gerade das Kirchengebäude der Friedensgemeinde zu ihrer Linken. »Lassen Sie mich vorne am S-Bahnhof Heerstraße bitte aussteigen.«
Hendriks Antwort kam wie erwartet: »Auf gar keinen Fall.«
Er schaltete das Heizungsgebläse eine Stufe runter und den Scheibenwischer eine Stufe rauf, machte aber keine Anstalten, sich die Bartattrappe vom Gesicht zu reißen.
»Ein Kumpel von mir, Jürgen, wurde mal von einem Typen gerammt. Harmloser Zusammenstoß auf ner Kreuzung. Hatte zwar Nackenschmerzen und wollte sich erst nicht röntgen lassen. Zum Glück hat seine Olle ihn überredet. Und das Ende vom Lied: zwei Halswirbel jebrochen.«
»Bitte, ich will aussteigen.«
»Und ick will keinen Staatsanwalt, der mich fragt, wie ich es wagen konnte, eine Schwerverletzte mitten in der Nacht einfach wieder auszusetzen.«
»Ich bin nicht schwer verletzt.«
»Dachte Jürgen ooch und … hey, wat wird dit?«
Einer Eingebung folgend hatte Klara das Handschuhfach geöffnet. Und mit dem Inhalt, der aus der übervollen Ablage quoll, die Antwort auf die Frage gefunden, ob Hendrik ein harmloser Spinner oder ein gefährlicher Psycho war. Denn zwischen den Kondomen, Handschellen und Latexhandschuhen blitzten sowohl ein langes, gezacktes Messer als auch der Lauf einer Neun-Millimeter-Handfeuerwaffe hervor.