34
Jules
H
ab ich dich gefunden, du beschissene Schlampe …
Hatte er diesen Satz gerade einen Mann ins Telefon brüllen hören?
Jules schaltete sein Headset am Kopfhörerregler lauter, doch die Leitung war tot.
Verdammt!
Er hatte sie verloren.
Die emotional wie akustisch brüchige Verbindung zu Klara stand nicht mehr, und es war höchst unwahrscheinlich, dass sie ihn wieder anrufen würde, auch wenn er ihr vorhin seine Privatnummer diktiert hatte.
Schlampe …?
Er ahnte, dass Klara in größerer Gefahr war als je zuvor an diesem Abend, ausgerechnet jetzt, da er ihr noch nicht einmal eine digitale Rettungsleine zuwerfen konnte. Jules fühlte sich wie ein Versager, als er sein Headset auf dem Waschbeckenrand ablegte.
Der tropfende Wasserhahn, der ihn ins Badezimmer gelockt hatte, war von Zahnpastaresten verschmiert, typisch für einen Haushalt mit kleinen Kindern.
Vor dem Brand in der Prinzregentenstraße, als Valentin und Fabienne noch gemeinsam durch die für die vierköpfige Familie viel zu kleine Wohnung getobt waren, hatte sich der Schaum (Erdbeer- oder Himbeergeschmack), der nach dem Putzen im Waschbecken hätte landen sollen, auf den unmöglichsten Flächen und in den unmöglichsten Winkeln wiedergefunden. Verteilt von den kleinen, schlecht oder gar nicht gewaschenen Händen, die nicht müde wurden, eine Welt zu erkunden, die voller Geheimnisse, Verstecke und Abenteuer steckte.
Und tödlicher Gefahren.
Selbst in der eigenen Wohnung.
Nach dem Umzug gab es in Jules’ aktueller Wohnung sehr viel mehr Platz, aber kein Rumtoben mehr, nachdem Dajana an jenem verhängnisvollen, todbringenden Tag ihre Kinder eingeschlossen hatte, um das Licht, das in ihr brannte, für immer auszulöschen; ein Licht, das er für stark genug gehalten hatte, anderen den Weg zu weisen, und sogar für hell genug, dass andere sich an ihm wärmen konnten.
Wie konnte ich mich so irren?
Jules mied den Blick in den Spiegel über dem Waschbecken, weil er wusste, wie übermüdet und ungepflegt er aussah mit seinen dunklen Augenrändern und der trockenen Haut rund um die T-Zone zwischen Stirn, Nase und Mund. Er fragte sich, wie oft er sich allein in den letzten Stunden schon wieder geirrt hatte.
War Klara wirklich in Gefahr? Litt sie unter häuslicher Gewalt? Oder existierte ein Großteil von dem, was sie ihm erzählt hatte, nur in ihrer Fantasie, so wie sein Vater es behauptete?
»Du sollst die Tante vergessen. Die ist nicht ganz koscher. Ja, sie war im Berger Hof in Behandlung, aber nicht als Teilnehmerin eines Experiments, sondern weil sie wirklich an einer dissoziativen Störung leidet – oder wie man das nennt, wenn man Wahn und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden kann.«
Hatte sie heute Abend wirklich in ihrem Auto gesessen und versucht, sich das Leben zu nehmen? Fuhr sie in diesem Moment neben einem als Weihnachtsmann kostümierten Fremden durch die Nacht?
Und hat dieser Wasserhahn hier die ganze Zeit schon getropft?
Jules hatte ein gutes Gehör. Wenn er einschlafen wollte, musste es in der gesamten Wohnung ruhig sein. Dajana hatte sich über sein Fledermaus-Ultraschall-Gehör gerne lustig gemacht, wenn er das Schlafzimmer nach dem elektronischen Fiepen eines Geräts im Stand-by-Modus absuchte oder die Heizung zum x-ten Mal entlüftete, weil ihn das Gluckern in den Wahnsinn trieb. Es war für ihn kaum vorstellbar, dass er das Ploppen aus dem Badezimmer überhört haben sollte. Zudem befand sich Spritzwasser im Emaillewaschbecken, ein Zeichen dafür, dass der Hahn erst kürzlich benutzt und dann nicht wieder fest zugedreht worden war.
Oder etwa nicht?
Jules fühlte den eigenen Herzschlag, der schneller ging als üblich, während er nach dem Ventil griff, um es abzudrehen. Dabei dachte er an das Schlüsselbund in seiner Hosentasche, an das fehlende Messer im Block und an die Sätze seines Ausbilders bei der Feuerwehr: »Achtet immer auf eure Intuition, Jungs. Helme, Arbeitskleidung, sämtliche Ausrüstung der Welt kann euch nicht so gut schützen wie eure innere, von Lebenserfahrung geschulte Stimme. Und wenn die euch sagt: ›Hier stimmt was nicht‹, dann stimmt meistens etwas nicht.«
Jules nickte unwillkürlich. Hier stimmte etwas nicht. Seine innere Stimme sagte es ihm nicht, sie schrie es ihm geradezu ins ausgezehrte Gesicht: »DU BIST NICHT ALLEIN
!«
Und da half es auch nichts, dass er sich beide Hände an die Schläfen presste, er konnte sie nicht zum Schweigen bringen, ganz im Gegenteil schien sie durch den Druck gegen die Schädeldecke sogar noch lauter zu werden: »IHR SEID BEIDE NICHT ALLEIN. DU UND DAS WUNDERVOLLE SCHLAFENDE WESEN, DAS DU EIGENTLICH VOR ALBTRÄUMEN BEWAHREN WOLLTEST UND NUN IN GEFAHR GEBRACHT HAST
!«
Weil er nicht auf Klara gehört hatte. Weil er nicht auflegte, als sie ihn darum bat.
»Er wird nicht glauben, dass es nur ein Versehen ist. Dass ich mich verwählt habe. Verdammt, wenn er herausfindet, dass ich Sie angerufen habe, wird er auch zu Ihnen kommen.«
»SCHLUSS JETZT
!«, schrie Jules und hämmerte mit der Faust gegen den Spiegel, der in seinem hölzernen Rahmen trocken knackte. Dieses unangenehme Geräusch einer irreparablen Zerstörung schaffte es, Jules’ Gedankenkarussell zu stoppen und die innere Stimme zum Verstummen zu bringen.
»So ein Blödsinn!«
Es gab keine Dämonen, die erst Klara nach dem Leben trachteten und sich nach ihrer erfolgreichen Mission erneut auf den Weg machten, um ihn heimzusuchen.
Jules schüttelte den Kopf und lachte über seine eigene Unvernunft, über die irrationalen Sorgen, getriggert durch das Klimpern von Schlüsseln, das durch einen Luftzug oder schwere Schritte in der Nachbarwohnung ausgelöst worden sein konnte. Seine Gedanken waren bei Licht betrachtet so absurd wie die Angst vor dem eigenen Spiegelbild, dem er sich jetzt stellte. Der Riss auf der Oberfläche teilte seinen Kopf in zwei unsymmetrische Hälften, aber natürlich war da kein Schatten, der hinter seinem Rücken verschwand, kein Gesicht, das zu einer Fratze verzerrt plötzlich auftauchte, und er spürte auch keinen kalten Hauch im Nacken.
Stattdessen hatte der Wasserhahn wieder zu tropfen begonnen. Er war anscheinend einfach nur kaputt, und wie fest man ihn auch zudrehte, er blieb undicht. Jules versuchte erneut, das Ventil zu schließen, doch es war sinnlos. Auch die Leitung bedurfte anscheinend der Reparatur. Das Wasser hatte auf einmal eine merkwürdige schmutzige Färbung.
Und während Jules sich noch wunderte, wieso er auf einmal so kraftlos war, tropfte noch mehr von der nach Eisen riechenden, zähen Flüssigkeit ins Waschbecken, die, wie er jetzt bemerkte, gar nicht aus dem Hahn kam.
Sie perlte ihm in dicken, rostroten Tropfen direkt aus der Nase.