35
Klara
S
elbst-mord
Fol-ter
Schmer-zen
Im Leben von Klara hatten viele zweisilbige Wörter eine grausame Bedeutung. Doch keines eine so grauenerregende wie: Mar-tin. Keines war ihr verhasster. Keines hatte sie im Laufe der Zeit so sehr fürchten gelernt. Keines hatte sich mit den Jahren so sehr gewandelt. Von Liebhaber zu Sa-dist. Von Zärtlichkeit zu Qua-len.
… von denen ich heute Nacht noch einige zu ertragen haben werde,
dachte Klara und wandte das Gesicht von Martin ab. Er hatte sich ans Steuer gesetzt, natürlich ohne sie von dem Haltegriff zu befreien, an den sie noch immer mit Hendriks Handschellen gekettet war. Ihr Handy hatte Martin bereits aus dem Fußraum geangelt und in der Innentasche seines Jacketts verschwinden lassen. Die Waffe, die er Hendrik zusammen mit dessen Mütze abgenommen hatte, lag außerhalb Klaras Reichweite im Seitenfach der Fahrertür.
Ohne hinzusehen, spürte sie Martins sadistisches Lächeln.
Bis auf die Beschimpfung zur Begrüßung hatte er kein Wort gesagt. Weder, als er den Motor startete, noch, als er mit schlitternden Reifen anfuhr. Anscheinend hatte er Hendrik auch den Autoschlüssel und damit nun auch den Wagen geklaut, mit dem er sie gerade entführte.
Wohin auch immer.
Alles, was sie über ihr Fahrziel wusste, war sein kryptischer Ausruf: »Dich Miststück bring ich in den Stall!«
Wohin fahren wir? Und was hast du mit Hendrik gemacht?,
hätte Klara ihn am liebsten gefragt, doch sie wusste, sie würde nur eine Ohrfeige oder Schlimmeres als Antwort bekommen. Trotz ihrer Angst war sie noch in der Lage, logisch zu kombinieren. Sie war an der Laube nicht vor Yannick davongelaufen, sondern vor ihrem Mann.
Martin ist mir gefolgt. Während ich durch den Wald irrte, hat er längst in seinem Wagen an der Teufelsseechaussee auf mich gewartet; der einzige Weg, der aus dem Forst zurück in die Zivilisation führt. Er ist im sicheren Abstand dem einzigen Fahrzeug hinterhergefahren, das auf einem Schleichpfad aus dem Wald gekommen ist, mit mir auf dem Beifahrersitz. Hat beobachtet, wie ich mich mit dem merkwürdig kostümierten Fahrer gestritten habe und zu fliehen versuchte. Und er hat die Gunst der Stunde genutzt, um Hendrik auf offener Straße niederzuschlagen.
Nur so konnte Klara sich erklären, wieso Hendrik wie vom Erdboden verschwunden war, als sie gerade verzweifelt versucht hatte, sich von der Fessel zu befreien.
Wahrscheinlich lag er reglos auf der vereisten Fahrbahn und wurde von zwei Gefahren gleichzeitig bedroht: entweder bewusstlos zu erfrieren oder von einem anderen Wagen in der Dunkelheit überfahren zu werden. Wieder einmal hatte Klara das Gefühl, in ihrem Leben in einer Endlosschleife gefangen zu sein, in der sie von einem Unglück in die nächste Katastrophe glitt, die das zuvor Erlittene in einem milderen Licht erscheinen ließ.
Wenn sie sich jetzt hätte entscheiden können, wäre sie lieber weiter in der Gewalt des Unbekannten gewesen als der Brutalität ihres Ehemanns ausgesetzt, der trotz der blanken Wut in seinen Augen so unverschämt attraktiv aussah wie an jenem ersten Tag, an dem sie auf ihn hereingefallen war. Martins Dreitagebart war akkurat gestutzt, die dichten Haare dank des zweiwöchentlichen Hundert-Euro-Haarschnitts perfekt frisiert, die Fingernägel der wohlgeformten Hände frisch manikürt. Selbst der Schneeregen hatte seinem Styling nichts anhaben können. Mit seinem eng an dem muskulösen Körper anliegenden Maßanzug und dem weißen Manschettenhemd unter dem dunklen Jackett mit roséfarbenem Einstecktuch sah er aus wie ein Fotomodell auf dem Weg zum Shooting einer Werbekampagne für Luxusgüter reifer Männer: Armbanduhren, Sportwagen, Jachten. Seine Stimme jedoch klang wie die eines Auftragskillers: »Wer war das?«, fragte er Klara. Kalt. Hart. Und unerbittlich.
Er beschleunigte und feuerte eine zweite Frage ab: »In wessen Auto sitzen wir hier?«
»Ich weiß es nicht.«
Der Schlag kam hart, aber nicht unerwartet, gefolgt von dem allzu vertrauten Geschmack von Blut, das aus einer aufgeplatzten Lippe tropft.
»Was für ein beschissener Scheißtag, echt. Erst musste ich feststellen, dass mein Auto aufgebrochen wurde. Aber meine Ehefrau interessiert das nicht, ist nicht für mich zu sprechen, geht nicht mal ans Telefon. Wie auch …« Jetzt brüllte er wieder: »Denn sie fickt mit einem Fremden!«
Speichelfäden flogen ihr ins Gesicht.
»Nein, ich …«
»Treibst es mit ihm in unserer Laube?«
»Das hab ich nicht, ich …«
»Na klar, es ist nicht so, wie es aussieht«, höhnte Martin und schlug erneut zu, diesmal mit der Handkante in die Magengrube. Klara wollte sich krümmen, schaffte es aber kaum wegen der Handfessel. Sie wurde nach links geschleudert, als Martin die Spur wechselte.
»Kostüme und Handschellen?« Er warf ihr einen verächtlichen Blick zu. »Ich dachte, du stehst nicht auf Rollenspiele.«
Klara röchelte, zum Antworten fehlte ihr die Luft. Außerdem benötigte sie alle Konzentration dazu, ihre Blase nicht auf den Sitz zu entleeren. Der Schmerz nach dem Schlag hatte sich wie eine Spitzhacke in ihren Unterleib gegraben und tobte sich dort mit kaum verminderter Kraft an ihren Eingeweiden aus.
Martin beschleunigte, um eine gelbe Ampel auf der Heerstraße noch zu erwischen; vermutlich wollte er nicht riskieren, neben einem Auto zu halten, dessen Fahrer neugierige Blicke zu ihr auf den Beifahrersitz warf, wobei dieser hinter der beschlagenen Scheibe wohl nur eine ängstliche Frau erkannt hätte, die sich am Haltegriff festklammerte.
»Ich habe über uns nachgedacht.« Unvermittelt wechselte Martin sowohl die Stimmung als auch das Thema. Das war seine Gabe oder seine Krankheit, je nachdem, wie man es betrachten wollte. Klara hasste seine Fähigkeit, von einer Sekunde auf die andere von aggressiv auf altväterlich umzuschalten.
»Besser gesagt, ich habe über das nachgedacht, was du mich gefragt hast.«
Er bog in den Kreisverkehr am Theodor-Heuss-Platz, und Klara presste die Stirn gegen die Scheibe.
Welche meiner Fragen meinst du? Weshalb du mir an Heiligabend den Christbaumständer auf den Fuß geschmissen und den großen Zeh gebrochen hast? Weshalb du meinen Körper mit brennend heißem Wasser abgeduscht hast, sodass ich eine Woche nicht zur Arbeit gehen konnte und danach einen »Solariumunfall« simulieren musste?
All diese Fragen stellte sie natürlich nicht.
Sie hatte gelernt, still zu sein. Selbst lange Gesprächspausen nicht mit Nachfragen zu füllen. Denn wie sehr sie sich auch bemühte, interessiert zu klingen, es bestand immer die Gefahr, dass sie einen von Martins Gedankengängen durchbrach und ihr das einen weiteren Bluterguss auf dem Rücken einbrachte.
»Weißt du noch, letztes Jahr, als ich dich nach Potsdam in die Notaufnahme gefahren habe?«
Sie nickte. Weil wir in Berlin schon in allen gewesen waren und du befürchtet hast, jemandem könnte auffallen, dass deine Frau, »der Tollpatsch«, ein bisschen oft die »Treppe hinuntergestürzt« war.
An jenem Tag war er durch ihr Handy gegangen (eine PIN
hatte er ihr schon seit Jahren verboten) und hatte den Chat mit Toni gefunden: Morgen Mittagessen, Süße?
Diese drei Wörter und Martins Weigerung, ihren Beteuerungen zu glauben, Toni stünde nicht für einen Männernamen, sondern sei die Kurzform von Antonia (ihrer Arbeitskollegin), hatten Klara einen Halswirbelriss beschert, so heftig hatte er ihren Kopf gegen die Wand geschlagen.
»Als wir wieder zurück waren und ich für dich dein Leibgericht kochte, hast du mich bestimmt zum tausendsten Mal gefragt, warum ich nicht in Therapie gehe, wenn es mir nach unseren Auseinandersetzungen hinterher immer so leidtut.« Er räusperte sich und fuhr schon wieder über eine dunkelgelbe Ampel.
»Weißt du, die Wahrheit ist: Ich war
in Therapie. Ich war bei einem Seelenklempner, der war auch gar nicht so schlecht. Sein Name ist Haberland. Er ist alt, praktiziert kaum noch. Und wenn, dann nimmt er nur sehr spezielle, aufregende Fälle. Mich hat er abgelehnt.«
Sie wagte es, ihm einen Blick zuzuwerfen.
»Weil ich zu gewöhnlich wäre. Sozusagen der Standardtäter, wenn es um Gewalt in der Ehe geht.« Martin lachte. »Siehst du, ich hab kein Problem damit, es auszusprechen. Gäbe es eine Selbsthilfegruppe, in der man sich wie bei den Anonymen Alkoholikern erst einmal der Runde vorstellen muss, würde ich es tun. Ich würde aufstehen und sagen: ›Hallo, mein Name ist Martin Vernet. Ich bin achtundvierzig Jahre alt, Zahnarzt, und ich schlage meine Frau.‹«
Sie sah ihn an.
Falsch, Martin. Du schlägst sie nicht. Du tötest sie. Vielleicht nicht im strafrechtlichen Sinn. Aber die Schläge zerbrechen die Seele deiner Frau, und ohne Seele ist sie nur noch eine leblose Hülle.
»Ich hatte nur eine Sitzung mit Haberland, dann hat er mich an einen anderen Quacksalber verwiesen. Doch der hat mir auch nur das erzählt, was ich längst wusste: dass häusliche Gewalt nichts anderes ist als ein mangelndes Selbstbewusstsein. Und dass das gerade bei Männern wie mir fast als notwendige Folge auftritt.«
»Männern wie dir?«, rutschte es ihr heraus.
Bemerkenswerterweise bestrafte er sie nicht für ihren Zwischenruf, sondern ging sogar darauf ein.
»Ich hab dir doch erzählt, wie verletzt mein Vater war, als meine Mutter ihn verließ.«
Klara nickte. Zu Beginn ihrer Beziehung hatte sie es als Vertrauensbeweis empfunden, dass Martin dieses Geheimnis mit ihr teilte. Hatte ihn bemitleidet, als sie erfuhr, wie sehr er damals unter der Trennung gelitten hatte.
Welche Mutter ließ denn ihr einziges Kind zurück?
Damals hatte sie keine Antwort finden können. Heute wusste sie es besser, auch wenn ihre Lage nicht mit der von Martins Mutter vergleichbar war. Während sie sich grundsätzlich kein Leben mehr vorstellen konnte, das nur noch von Sorgen, Angst und Schmerzen geprägt war, war es Martins Mutter schlicht zu eng in dem selbst gewählten Käfig der Ehe geworden. Nicht sie, sondern Martins Vater hatte sich ein Kind gewünscht. Und leider hatte sie dem Druck nachgegeben, kurz vor der Aufnahme als Tänzerin im Friedrichstadtpalast.
Mit der Folge, dass sie vom ersten Tag an mit ihrem Dasein als Hausfrau und Mutter überfordert gewesen war und fortan ihrem Leben als Künstlerin auf der Bühne nachtrauerte.
Rückblickend war es ein Wunder, dass sie es immerhin zehn Jahre durchgehalten hatte, bis sie einen viel besser zu ihr passenden Mann kennenlernte; einen unkonventionellen, kreativen Regisseur, mit dem sie ein neues Leben begann. Mittellos und ohne festes Einkommen hatte sie ihren damals zehnjährigen Jungen bei seinem Vater gelassen, der mit seinem Gehalt als Prokurist eines Getränkegroßhandels immerhin gut genug verdiente, um seinem Sohn einen vernünftigen Lebensstandard zu gewährleisten, jedoch nicht über das verfügte, was er damals am meisten gebraucht hätte: Herzenswärme. Von Selbstmitleid zerfressen, suchte Martins Vater die Schuld für die Trennung nicht bei sich, seinem Jähzorn und dem Ehegefängnis, in das er seine willensstarke Frau zu stecken versucht hatte, etwa indem er ihr die Auftritte mit ihrer Jazzband verbot und ihr Haushaltsgeld so kürzte, dass sie sich keine Klavierstunden mehr leisten konnte. Ursächlich für das Scheitern der Ehe war für ihn vielmehr die »viel zu lange Leine«, an der er sie gehalten hatte und die am Ende angeblich dafür sorgte, dass die »dem weiblichen Geschlecht naturgemäß innewohnende Bösartigkeit« sich frei entfalten konnte.
»Frauen sind wie Flammen«,
hatte Martins Vater in der Gegenwart seines Sohnes philosophiert, und Martin hatte seine Worte so oft wiederholt, dass Klara sie heute auswendig konnte. »So wunderschön anzusehen und voller Wärme, herrlich verlockend. Doch wehe, du lässt dich auf sie ein und kommst ihnen zu nahe. Dann verbrennen sie dich. Frauen nutzen die Körper der Männer und ihre Seelen als Nahrung. Und wenn sie einen verzehrt haben und du als Mann restlos ausgebrannt bist, breiten sie sich solchermaßen gestärkt noch weiter aus. Heller und größer und wärmer als zuvor locken sie neue Opfer an.«
Klara schloss die Augen, doch die Worte, mit denen Martin von seinem Vater als Kind vergiftet worden war, wollten nicht leiser werden in ihrem Kopf:
»Das Einzige, was du tun kannst, um dich vor den Frauen zu schützen: Halte ihr Feuer klein. Gib ihnen nicht zu viel Raum. Nicht zu viel Sauerstoff. Habe immer etwas bereit, mit dem du die Flamme klein schlagen oder zur Not auch ersticken kannst, wenn du verstehst, was ich meine.«
Ihr Körper wurde in einer Kurve nach rechts gedrückt, sie öffnete die Augen und hatte komplett die Orientierung verloren. Die Straße war sehr viel kleiner und bürgerlicher als die Hauptstraßen zuvor. Sie befanden sich in einem Wohngebiet mit Cafés, Boutiquen und Bioläden im Erdgeschoss alter Mietshäuser.
»Damals habe ich immer nur genickt, ohne die volle Bedeutung dessen, was er mir sagte, zu begreifen«, sagte Martin. »Erst heute ist seine Lektion vollständig bei mir angekommen: Frauen müssen klein gehalten werden. Zur Not muss ich ihr Selbstbewusstsein brechen, um nicht von ihnen gebrochen zu werden. Ich bin von klein auf so konditioniert.«
Klara schloss die Augen, damit Martin nicht sah, wie sie sie verdrehte.
Wenn du mir jetzt auch noch erzählen willst, dass du dich als Mann in einer sich wandelnden Gesellschaft nicht mehr zurechtfindest, dann kotze ich.
Nun lachte Martin auf, schon wieder hatte sich seine Stimmung verändert. Er sprach etwas gepresster, mit mehr Zischlauten, die seinen Worten einen aggressiven Unterton verliehen.
»Aber weißt du was? Mein alter Herr hatte recht. Ich habe mich in den letzten Wochen zurückgenommen. Habe dir erlaubt, an einem Experiment teilzunehmen. Die Stadt zu verlassen. Ich habe, ohne zu murren, die Doppelbelastung Arbeit und Amelie gemeistert. Als du wieder da warst, durftest du länger in der Bibliothek bleiben. Und dann dachte ich mir irgendwann: Hmm. Ob sie deine Gutmütigkeit wohl ausnützt?«
Er sah sie an. »Nein, dachte ich mir. Nicht meine Klara. Nicht meine Frau, die ich so gut erzogen habe. Ich habe der Versuchung widerstanden, dein Handy unter die Lupe zu nehmen, obwohl ich spürte, dass du dich verändert hast. Etwa, dass du dein Telefon auf einmal mit dem Display nach unten auf den Tisch legst. Hattest du Angst vor dem Anruf dieses Weihnachtsclowns?«
Sie schüttelte den Kopf.
Nein, auch wenn du es mir nicht glaubst, aber den kenne ich nicht.
»Selbst nachdem du mir dein Lügenmärchen von diesem Überfall auftischen wolltest, als ich dich zu unserer Schande völlig verwahrlost im Vorgarten finden musste, hab ich mich zurückgehalten und dich nur leicht mit dem Gürtel bestraft. Aber ich habe natürlich Vorsorge getroffen, getreu dem Motto meines alten Herrn: ›Kontrolliere jeden Schritt deiner Frau, sonst verlierst du die Kontrolle über deine eigenen Schritte.‹
«
Sie hielten unter einer S-Bahn-Brücke, und jetzt erkannte Klara die Umgebung. Amelie liebte den Spielplatz am Savignyplatz. Um diese Uhrzeit jedoch, lange nach Mitternacht, würde sie sich niemals mit ihrem Kind in dessen Nähe begeben. Der breite Bürgersteig unter dem Brückengewölbe war von verdreckten und nässedurchweichten Matratzen gesäumt, auf denen zahlreiche Obdachlose ihr Nachtlager aufgeschlagen hatten.
Wieso halten wir hier?,
fragte sie sich bang, wagte es aber nicht, die Frage laut zu äußern, auch, weil sie Angst vor der Antwort hatte. Sie versuchte, Martin abzulenken und am Reden zu halten.
»Du hast mein Handy verwanzt?« Sie überlegte, ob das tatsächlich möglich war, dass Yannick und ihr eigener Mann unabhängig voneinander zwei verschiedene Überwachungssoftware-Programme auf ihr Telefon gespielt haben konnten, die dem Technik-Nerd im Handyshop nicht aufgefallen waren.
Martin schüttelte den Kopf. »Das war mir zu kompliziert. Du hast einen GPS
-Sender an deinem Wagen. Den gibt’s für nen Appel und ein Ei online und haftet per Magnet perfekt am Unterboden.«
Während er das sagte, glitt an Klaras Seite das Beifahrerfenster hinunter. Eisige Luft füllte schlagartig den Kleinstwagen. Klaras Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb. Martin steckte sich zwei Finger in den Mund und pfiff einmal laut. »Hey, Professor!«
Zu Klaras Entsetzen bewegte sich eine Gestalt auf einer der Matratzen.
Ein Mann schob eine Plastikplane von seinem Körper und mühte sich von seinem Bettlager.
»Nun mach schon, Professor. Ich hab nicht ewig Zeit.«
Schlurfend kam der Obdachlose näher. Er lief gebückt, aber nicht wegen des Schneeregens, der ihm ins Gesicht klatschte. Alles an ihm deutete darauf hin, dass das Leben auf der Straße ihn gebrochen hatte.
»Wer ist das?«, flüsterte Klara. Auch auf diese Frage wollte sie im Grunde keine Antwort.
Je näher der Alte kam, desto mitleiderregender wurde seine Gestalt. Alles, was man aus der Ferne im Halbdunkel des Straßenlaternenlichts nur schemenhaft hatte erkennen können, wirkte von Nahem so, dass Klara es nur mit einem einzigen Wort ausdrücken konnte: krank.
Die stumpfgrauen Haare sahen aus wie bei einem Strahlenpatienten, sie wirkten lose, als könnten sie alleine dadurch ausfallen, dass der Mann den Kopf schüttelte. Seine Haut hatte die grüngräuliche Färbung einer Wasserleiche und passte farblich zu dem Parka, den er wie einen Regenponcho trug, die Arme nicht durch die lose herabhängenden Ärmel gesteckt.
»Dr. Vernet?«, fragte der Mann höflich, als er nur noch zwei Schritte von Klaras Beifahrerfenster entfernt war. Der Geruch, der seine Worte begleitete, passte zu dem fauligen Gelb seiner Zähne, von denen nur noch im Oberkiefer ein Großteil erhalten war. Im Unterkiefer blitzte ein verwaister Schneidezahn auf.
»Hast du Lust, dir ein paar Euro zu verdienen?«, fragte Martin den Obdachlosen, der so heftig nickte, als wäre er gefragt worden, ob er sein restliches Leben in der Suite eines Luxushotels verbringen wollte.
Klara spürte wieder die Spitzhacke in ihren Eingeweiden, denn sie ahnte, was kam, und tatsächlich sagte Martin zu dem nach Kot, Urin und Verwesung stinkenden Mann: »Dann steig ein und setz dir das hier auf.«
Er warf die Santa-Claus-Mütze, die er Hendrik geklaut hatte, auf die Rückbank.
»Meine Frau hat heute Nacht Lust auf perverse Rollenspiele.«