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D
er Tinnitus in Jules’ Ohr wurde von dem Zischen und Rauschen überlagert, das die Leitung flutete, wann immer sein Vater eine Pause machte. Das Hundejaulen hatte ausgesetzt, kurz nachdem Jules eine schwere Tür mit einem dumpfen Nachhall hatte ins Schloss fallen hören.
»Hast du wieder getrunken?«
»Nein, aber es ist das Erste, was ich mache, wenn ich zu Hause bin.« Er sprach jetzt lauter, wenn auch noch mit unterdrückter Stimme.
»Sag mir, was los ist. Warst du im zwanzigsten Stock?«
»Ich war noch nicht einmal im Fahrstuhl.«
»Sondern?«
»Der ist nur für Mitglieder, hat mir Cindy gesagt.«
»Cindy?«
»Die Tante am Empfang, ist doch jetzt scheißegal. Sie hatte gerade Schichtende, und ich hab sie beim Rausgehen im Le Zen
abgefangen, als sie zur U-Bahn wollte.«
Jules hörte die Ledersohlen seines Vaters knirschen. Dem Hall nach bewegte er sich in einem sehr hohen Raum mit harten Bodenfliesen.
»Cindy sagte, im Zwanzigsten wär eine Art Club, und ich bräuchte eine Einladung von irgendeiner Lousanne, oder so.«
»Richtig«, sagte Jules. »Von ihr hat Klara mir auch erzählt.«
»Ach ja? Hat sie auch erwähnt, was da oben so abgeht?«
Wieder hörte Jules ein Knirschen, doch diesmal rührte es nicht von Schuhsohlen. Es klang eher wie eine auf einem Betonboden schabende Türkante. Dann hörte er erneut den Hund jaulen.
Oder waren es mehrere?
»Allerdings weiß ich, was da abgeht!
«, antwortete er seinem Vater. »Sadisten-Partys. Jeden letzten Samstag im Monat. Klara wurde dort schwerst misshandelt. Deshalb will sie ja vor ihrem Mann fliehen.«
In den Tod!
»Schwachsinn«, fauchte sein Vater und sprach wieder leiser. Jules wusste genau, wie er jetzt aussah. Den Unterkiefer trotzig vorgeschoben, mit einer Hand fahrig herumfuchtelnd, während eine Wutader an seiner Stirn pochte. »Sie tischt dir nichts als Lügen auf.«
»Le Zen
, Fahrstuhl, zwanzigster Stock, Lousanne, Violence Play«, wiederholte Jules die Fakten, die er aus Klaras Schilderungen kannte.
»Okay, in diesen Punkten spricht sie vielleicht die Wahrheit.«
»Und in welchen nicht?«
»Tu nicht so.«
Jules blieb am Kopfende des Flurs vor einer kleinen Kommode stehen, über der ein Spiegel mit goldenem Sonnenstrahlrahmen hing.
»Ich schwöre dir, ich habe keine Ahnung, wovon du redest. Verdammt, ich weiß noch nicht einmal, wo du bist!«
»Im Treppenhaus vom Parkhaus des Grauens.«
»Du bist mit dem Auto unterwegs?«
Im Dämmerschein des schwachen Nachtlichts konnte Jules im Spiegel erkennen, dass seine Nase noch immer blutverkrustet war. Doch bevor er sich im Bad säuberte, wollte er der Reihe nach alle Zimmer des Altbaus absuchen. Auch wenn er nicht wusste, wie und weshalb sich hier jemand hereingeschlichen haben sollte, begann er mit dem Raum in der Wohnung, den er vorhin ausgelassen hatte: einer winzigen Abstellkammer zu seiner Rechten.
»Nein, ich bin mit dem Taxi hier rausgefahren. Aber Junge, du schuldest mir weitaus mehr als die fünfundzwanzig Euro dafür. Dank dir und deiner Psychofreundin muss ich nun selbst zum Gehirnklempner. Ich krieg diese Bilder nie wieder von meiner Festplatte. Ich fürchte, die haben sich schon auf meiner Netzhaut eingebrannt.«
Während Jules die Türklinke der Kammer herunterdrückte, schabte bei seinem Vater erneut eine Türkante über den Boden. Und wieder hörte Jules kurz darauf das Jaulen in der Leitung, nur noch gequälter. Dazu meinte er erstmals menschliche Stimmen zu vernehmen. Gemurmel, Gelächter.
Und Gestöhne?
Vor seinem geistigen Auge sah er, wie sein Vater im Treppenhaus die schwere Brandschutztür zu den Parkdecks aufzog und einer Gruppe von Menschen dabei zusah, wie sie einen Hund quälten. Und zu Jules’ Entsetzen klang das Jaulen auf einmal anders. So, wie kein tierisches Jaulen sich je angehört hatte. Es klang menschlich.
»Was ist da los bei dir?«
Die Tür zur Abstellkammer klemmte.
»Cindy sagte, es gäbe ein Gerücht, dass das Samstagabend-Event im Le Zen
nur ein Kindergeburtstag wäre, verglichen mit der Aftershow-Party, die einen Block weiter in einem stillgelegten Parkhaus abgehen soll. Junge, du wusstest, was sie mit den Frauen hier machen, und hast mich trotzdem hierhergeschickt!«
Du scheinheiliger Mistkerl,
hätte Jules ihn am liebsten angeschrien, Mamas Schreie haben dich damals auch aufgegeilt, und jetzt spielst du den Sittenwächter,
aber dann hätte sein Vater aufgelegt und seinen Kontakt im Handy blockiert; wenn auch nur für ein, zwei Tage, aber heute Abend wäre er ihm keine Hilfe mehr gewesen. Sosehr Jules ihn für das, was er getan hatte, verachtete, so sehr brauchte er ihn heute Nacht.
»Wo zum Geier bist du?«
Er rüttelte heftiger an der Kammertür, aber es schien, als wäre sie abgeschlossen.
Oder als würde sie jemand von innen zuhalten …?
Jules fiel auf, dass er im Falle des Falles nichts bei sich trug, was er zu seiner Verteidigung hätte einsetzen können. In einer hilflosen Geste griff er nach dem Schlüsselbund in seiner Hose, um es im Notfall als Schlagring zu benutzen.
»Ich hab mich hinter einem Fahrzeug reingeschlichen, bevor das Rollgitter wieder runterging. Das Parkhaus ist ein Abrissteil hinter dem Europa-Center, ein Steinwurf vom Eingang des Aquariums entfernt. Laut Beschilderung soll die Birne das Ding in zwei Monaten wegkloppen. Bis dahin ist nur noch das siebente Deck in Betrieb.«
»Was geht da vor sich?«
»Tu nicht so scheinheilig.«
Jules ließ das unkommentiert, um den wieder sprudelnden Redefluss seines Vaters nicht in eine andere Richtung zu lenken. Dabei hätte er ihm am liebsten »Komm endlich zur Sache!«
zugeschrien. Gleichzeitig überlegte er, ob er es wagen konnte, die Tür mit Gewalt aufzureißen. Sie war aus Holz, nicht sehr widerstandsfähig, aber das Krachen und Splittern, wenn er sie aus den Angeln trat, würde das ganze Haus aufwecken.
»Hier stehen bestimmt sechs Autos, mit jeweils einer Frau darin. Oder, besser gesagt, auf der Ladefläche des geöffneten Kofferraums. Und mindestens ein halbes Dutzend Männer pro Auto, die drum herum stehen.«
Jules hielt inne und dachte nach. Ein Schwarm unterschiedlichster Empfindungen und Gedanken wirbelte in seinem Kopf umher, so unkontrolliert wie der Schnee da draußen vor den Fenstern.
»Okay, die Stadt ist voll von Perversen«, murmelte er.
»Das mag für dich nichts Neues sein«, zischte sein Vater. »Aber vielleicht hab ich ja doch noch etwas von Cindy erfahren, was dich überrascht.«
»Was?«
»Lousannes bürgerlichen Namen. Den, der im Mietvertrag für den zwanzigsten Stock steht.«
»Wie lautet der?«
»Dreimal darfst du raten.«
Jules schloss die Augen, die Finger noch immer um die Klinke geschlossen, die heißer und heißer zu werden schien wie ein Brandeisen, das sich in seine Hand gravieren wollte.
»Welcher Name?«
Er wollte die Antwort nicht hören, aber natürlich ersparte sein Vater sie ihm nicht:
»Klara Lousanne Vernet.«