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Klara
D ie Fahrt von den S-Bahn-Bogen dauerte nicht einmal fünf Minuten. Länger brauchte es nicht vom Fegefeuer bis zur Hölle hinter dem Breitscheidplatz.
»Kopf runter!«, befahl Martin. Er ließ ihr nicht die Zeit, seinem Befehl Folge zu leisten, sondern drückte ihren Kopf nach vorne, sodass sie mit der Stirn unsanft auf der Plastikverkleidung aufschlug. Die Handschelle, von der Martin sie anscheinend heute Nacht nicht mehr befreien wollte, grub sich wieder schmerzhaft ins Handgelenk.
Das gibt eine weitere Schürfwunde, dachte sie, den Kopf auf dem Armaturenbrett. Hättest du den Mut gehabt und wärst vom Kletterfelsen gesprungen, wären dir diese und all die Verletzungen, die heute noch folgen werden, erspart geblieben.
Ob er sie auch zwingen würde, sich einen Zahn herauszubrechen?
Klara spürte, wie die Fliehkräfte an ihr zerrten, als Martin mit halsbrecherischer Geschwindigkeit eine Art Serpentinenstrecke hochschoss. Der Motor des Kleinwagens schrie wie der einer billigen Nähmaschine. Klara wurde übel, als Martin abrupt auf die Bremse stieg.
Es knackte in ihren Ohren, so hart zog er sie an den Haaren wieder nach oben. Mit tränengetrübtem Blick versuchte sie sich ein Bild von ihrer neuen Lage zu machen.
»Wo sind wir hier?«
»Wonach sieht es denn aus?«
Nach einem Klischee.
Nach exakt dem Ort, an dem Frauen sich fürchteten, vergewaltigt zu werden. Und genau deshalb hatte Martin ihn ausgesucht.
Ihr Wagen stand schräg auf der verwaisten Ebene eines oberirdisch gelegenen Parkhauses, eingeklemmt zwischen zwei Betonpfeilern, die sich gegen die niedrigen Decken stemmten.
Bis auf einen verstaubten, felgenlosen VW -Käfer fünf Haltebuchten neben ihnen stand kein weiteres Auto auf einer Fläche von bestimmt vier Tennisplätzen. Die meisten Parkmarkierungen waren vor Schmutz und Taubendreck kaum noch erkennbar. Die grauen Betonwände waren graffitibeschmiert, die Deckenbeleuchtung funktionierte nicht, vermutlich war der Hauptstrom längst abgestellt. Dass man überhaupt etwas erkennen konnte, war zwei Baustellenscheinwerfern zu verdanken. Einer stand rechts von ihr in der Nähe der Notausgangstür, der andere zu ihrer Linken vor einer gewaltigen graugrünen Planenwand, mit der Klara die Sicht zur Straße genommen wurde. Passanten, die von unten hochsahen, mussten denken, dass nächtliche Arbeiten am Werk waren. Nichts ahnend von dem wahren Grauen, das sich hier abspielte.
»Die eigentliche Party steigt auf Deck sieben«, erklärte ihr Martin und schnallte sich ab. »Aber wir haben einen eigenen Stall für uns.«
»Stall?«
»Was glaubst du, wohin läufige Stuten zur Disziplinierung gebracht werden?«
In ein Abrissparkhaus?
»Normalerweise dürfen dich bis zu acht Männer gleichzeitig zähmen«, erklärte er ihr sachlich, als erläutere er ihr die Regeln eines Gesellschaftsspiels. »Und es ist auch ratsam, mit einem SUV oder Kombi zu kommen, damit die Hengste eine größere Ladefläche zur Verfügung haben. Aber wenn man improvisiert, darf man nicht wählerisch sein.« Martin tätschelte das Lenkrad.
»Bitte«, versuchte Klara das Unmögliche und erniedrigte sich, indem sie ihren Mann anflehte: »Lass mich gehen. Du darfst Amelie behalten, ich weiß, du bist gut zu ihr. Ich mach dir doch nur Ärger. Ich verspreche dir, wenn du mich jetzt gehen lässt, wirst du mich nie wieder in deinem Leben zu Gesicht bekommen.«
»Du verstehst es nicht. Du hast mich nie verstanden.«
Er sah sie traurig an und schien den Irrsinn, den er von sich gab, wirklich zu glauben. »Ich liebe dich. Selbst wenn du Fehler machst. Selbst wenn du mir Roggentoast ans Bett bringst, obwohl du doch weißt, dass ich nur den mit Weizen mag. Selbst wenn du das Besteck mit den Griffen nach oben in die Spülmaschine einsortierst, obwohl ich dir bestimmt hundertmal erklärt habe, dass es dann nicht so sauber wird. Selbst nachdem ich dich dafür bestraft habe und mich selbst hasse, weil du mich mal wieder dazu getrieben hast. Selbst dann liebe ich dich.«
»Kein Mann, der seine Frau liebt, tut ihr das hier an.«
»Falsch. Nur schwache Männer lassen es zu, dass ihre Frauen verwahrlosen. Es ist wie mit Kindern. Sie brauchen Regeln. Es ist kein Zeichen von Liebe, wenn man ihnen alles durchgehen lässt, ganz im Gegenteil. Es ist Faulheit und Schwäche, wenn Eltern nicht auf Manieren achten. Es ist im Grunde sogar ein Verbrechen, denn die Kinder solch antiautoritärer Eltern werden später nicht lebensfähig sein und selbst zu schlechten Eltern werden, die wiederum faule, lebensunfähige Kinder produzieren.«
»Du bist nicht mein Vater.«
»Und doch bügele ich dessen Erziehungsfehler wieder aus.«
»Nein, Martin. Du bist krank. Ein von Minderwertigkeitskomplexen zerfressenes, schwanzloses Arschloch, das anderen Männern erlaubt, die eigene Frau zu schlagen. Du lässt sie demütigen, um ihre Flügel zu brechen. Weil du es nicht ertragen könntest, wenn dir deine schöne, kluge und selbstbewusste Frau davonfliegt. Du denkst, du hättest mich auf diese Weise unter Kontrolle. Aber das ist nichts anderes als Selbstmord aus Angst vor dem Tod.«
Paradoxerweise musste Klara grinsen, während sie ihrem Mann zum ersten Mal in ihrer toxischen Ehe die ungeschminkte Wahrheit sagte. Unbewusst zitierte sie dabei Worte, die sie gerade erst von Jules am Begleittelefon gehört hatte.
»Danke«, sagte Martin und tätschelte ihr die Hand. »Danke, dass du es mir jetzt noch leichter gemacht hast. Denn glaube mir, auch für mich ist das, was jetzt kommt, kein Spaß. Ich werde auch nicht zusehen. Es würde mir das Herz brechen. Doch wer weiß, vielleicht werten wir später einmal gemeinsam die Videodokumentation aus.«
Klara sah sich um, konnte aber keine Kamera entdecken.
»Die kommt erst noch«, sagte Martin, der ihre Gedanken erahnte. »Die Regeln im Stall sind ganz einfach. Der, der am meisten zahlt, hat die meisten Rechte. Er bekommt eine GoPro, wenn er sich später noch einmal im Nachgang alles ansehen will.«
»Acht Männer?«
»Auf Deck sieben. Ich hab bei Lousanne den Wildfang-Stall gebucht. Er ist für die widerspenstigsten Stuten. Die, die mehr als nur eine Züchtigung brauchen. Von einem einzigen Mann, der mit äußerster Härte vorgehen darf.«
Martin brauchte nicht weiterzureden. Klara konnte in seinen wütenden Augen lesen, was er unausgesprochen ließ: »Hier werden die Frauen nicht nur gebrochen. Hier werden sie zerstört.«
»Du bekommst Besuch vom Meistbietenden«, erklärte er ihr und schien sich an der Angst in ihren Augen zu weiden.
Er versteigert mich. Dieses gestörte, geisteskranke Schwein hat mich zur Auktion freigegeben.
Mit der Mitgliedschaft in Lousannes »Herrenclub« bekam man einen Account bei einem ausländischen Geldtransfer-Service, mit dem man in Echtzeit die »Clubbeiträge« überweisen konnte, so hatte Martin es ihr auf dem Heimweg nach jener Nacht im Le Zen erklärt, als wäre das in ihrem geschändeten Zustand eine für sie relevante Information gewesen. Das war typisch für ihn. Sobald ihr Mann nicht mehr sexuell erregt war, fing er an, seine Exzesse zu bereuen, und das machte ihn redeselig. Fast so, als würde er denken, ein Missbrauch wäre weniger abscheulich, wenn in der Gegenwart des Opfers ganz offen über alle Einzelheiten der Ausführung und Umsetzung gesprochen wurde.
»Ich hoffe, die Sonderbehandlung wird dir eine Lehre sein«, sagte Martin und stieg aus. Sichtlich erregt, wie Klara hören und sehen konnte.
»Du Dreckschwein«, brüllte sie ihm nach, ohne Furcht, es damit noch schlimmer zu machen, denn sie wusste, schlimmer als das, was sie erwartete, konnte es nicht mehr werden. Es stand ihr nun genau das bevor, weswegen sie den Freitod geplant hatte.
»Du perverse, geisteskranke Sau!«, schrie sie noch lauter, aber Martin war schon so weit weg, dass er sie nicht mehr hören konnte.
Sie schrie, strampelte, weinte, riss sich die Haut am Handgelenk weiter auf, kugelte sich beinahe die Schulter aus, weil sie sich mit dem gesamten Gewicht an den Haltegriff hängte, und änderte dennoch nichts an ihrer ausweglosen Lage. Erschöpft und außer Atem von den nutzlosen Anstrengungen ließ sie den Kopf hängen. Dachte an die unerreichbaren Handschellenschlüssel neben ihrem Sitz, überlegte, ob es ihr gelingen könnte, sie zu greifen, wenn sie sich die Schulter auskugelte, schüttelte den Kopf, weil sie diese Schmerzen niemals aushalten würde. Und beim Kopfschütteln, in dem Moment, in dem sie eine schwere Tür rechts von sich ins Schloss fallen hörte, fiel ihr etwas auf.
Sie sah nach links. Zur Fahrerseite.
War das möglich?
Schritte näherten sich. Halb so schnell wie ihr Herzschlag, der immer heftiger wurde.
Das gibt es doch nicht, … oder doch?
Klara biss sich auf die Unterlippe, um vor Aufregung nicht loszuschreien.
Wenn sie sich nicht irrte, hatte Martin eben einen entscheidenden Fehler gemacht.