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Jules
J ules krachte in dem Moment gegen die Wand, in dem sein Vater zu rennen begann.
Er hatte so heftig an der Tür zur Abstellkammer gezerrt, dass sich die Klinke gelöst hatte und er mitsamt herausgerissenem Türgriff zurücktaumelte. Dabei stauchte er sich die Schulter, sodass ihm vor Schmerz das Schlüsselbund entglitt, das er zum Schlagring in seiner Faust umfunktioniert hatte. Das Handy hatte er nicht fallen lassen, dennoch stand die Verbindung mit seinem Vater kurz vor dem Abriss. Rascheln, Knistern, Schaben. Klatschende Schritte auf hartem Untergrund.
Aus den Geräuschen in der Leitung schloss er, dass Hans-Christian Tannberg sich das Telefon in die Hosentasche gesteckt hatte und im Treppenhaus des Parkhauses einen Spurt hinlegte.
»Vater?«
Er hörte nur »Scheiße«, gefolgt von anderen Flüchen, alle gedämpft und von den Nebengeräuschen überlagert, die die am Körper reibenden Textilien im Laufen erzeugten.
So schwer er zu verstehen war, so klar war Jules, dass sein Vater in ernsthaften Schwierigkeiten steckte. Vermutlich hatte er einmal zu oft durch den Türspalt zum Parkdeck gelugt. Irgendjemand war hinter ihm her, verfolgte ihn wahrscheinlich, um den ungebetenen Zeugen der »Party« zu stellen.
»Was ist los?«
»Bin … im … Treppenhaus …«, keuchte sein Vater. Dann: »Oh nein … abgeschlossen …«
Und als Jules meinte, ein metallisches Klappern gehört zu haben, wie bei einem Maschendrahtzaun, an dem jemand rüttelte, riss die Verbindung ab.
»Hallo?«
Jules rieb sich die schmerzende Schulter und kontrollierte sein Handydisplay.
ANRUF FEHLGESCHLAGEN stand dort, als hätte er nie mit seinem Vater gesprochen, und das Gespräch wäre gar nicht erst zustande gekommen. Jules wunderte sich nicht zum ersten Mal über diese im Grunde fehlerhafte Anzeige, wenn ein Telefonat durch ein Funkloch beendet wurde.
Er drückte auf Wahlwiederholung und ließ es läuten. Einmal, zehnmal. Zwanzigmal. Sein Vater hatte keine Mailbox, nach dem dreißigsten Klingeln schaltete der Netzbetreiber automatisch auf besetzt, und Jules musste es noch einmal versuchen.
Dabei öffnete er bestimmt zum fünften Mal in dieser Nacht die Tür zum Kinderzimmer, hier war weiterhin alles ruhig und friedlich.
Kein Eindringling, kein leeres Bett, keine Veränderung.
»Meine Kleine«, flüsterte Jules und setzte sich ans Kinderbett. Ihr Atem ging schwer, aber gleichmäßig. Die Albträume von vorhin schienen zu pausieren. Er zog die Decke etwas höher, dabei beschlich Jules ein Gedanke, der ihn frösteln ließ.
Was, wenn du nicht nur eine harmlose Erkältung hast?
Er tastete nach ihrer nebelfeuchten Stirn und musste an die Tabletten im Orangensaft denken.
Jules griff nach der Trinkflasche mit dem Hello-Kitty-Motiv neben dem Bett und trug sie aus dem Zimmer, um sie im hellen Licht der Küche nach Rückständen zu untersuchen, auch wenn das im Grunde albern war. Er hatte niemanden in der Wohnung gesehen, keine Schritte gehört, und die Tür zum Kinderzimmer hatte sich keinen Zentimeter bewegt.
Und dennoch war Jules sich sicher, dass er etwas übersehen hatte.
Nur was?
Kaum war er im Flur, kündigte der Vibrationsalarm seines Handys wieder einen Anruf an, wie das Rasseln einer Klapperschlange eine Gefahr.
»Vater?«
»Wie er leibt und lebt. Himmel, war das knapp.«
»Wo bist du?«
»Wieder im Taxi. Ich will nur noch hier weg. Fast hätten die mich am Rolltor gehabt, aber das war so klapprig, dass ich es zur Seite drücken und mich rausschieben konnte.«
Sein Vater lachte euphorisch, offenbar aufgepeitscht von dem Gefühl, einer Gefahr in letzter Sekunde entkommen zu sein.
»Die wollten mich vermöbeln, so viel war klar.«
»Wer die? «
Jules entfernte sich von dem Kinderzimmer, dessen Tür er am liebsten verschlossen hätte. In der gesamten Wohnung gab es, abgesehen von der Haus- und Badezimmertür, keine Schlüssel. Was den Umstand, dass Jules die Abstellkammer nicht öffnen konnte, umso merkwürdiger machte.
»Na, die Perversen von der Parkhausparty. Keine Ahnung, wer das war. Drei Typen. Sie trugen alle Sturmhauben.«
»Irgendwelche besonderen Merkmale?«
»Ja. Einen kann ich dir genau beschreiben. Aber das wird dir nicht gefallen.«
Jules hätte um ein Haar vor lauter Nervosität einen Schluck aus der Hello-Kitty-Flasche genommen.
»Wie meinst du das?«
Er hörte, wie sein Vater sich über die Route beschwerte, die der Taxifahrer nahm (»Ist mir egal, ob die Stadtautobahn schneller ist, sie ist teurer, du Halunke«), dann sagte er: »Er hatte helle, blonde, halblange Haare. Wie ein Hippie. Sie lugten unter der Maske hervor. Schlanke, sportliche Statur, etwa in deinem Alter. Klingelt da was?«
»Nein.«
»Er hielt einen Tonfa in der rechten Hand.«
»Und?« Jules war genervt in der Küche angekommen und stellte die Flasche neben die Spüle.
Einen Schlagstock, wie ihn auch die Polizei benutzte, konnte sich jeder Irre im Internet bestellen. Jules ging es zunehmend auf den Geist, dass sich sein Vater jede Information aus der Nase ziehen ließ.
»Ich verstehe nicht, was du mir sagen willst.« Er hielt die durchsichtige Trinkflasche ins Licht der Deckenlampe und konnte nichts erkennen. Keine Verunreinigung, keine Flocken und erst recht keine Tabletten. Als sein Vater aber weitersprach, fühlte er sich, als wäre sie mit Gift gefüllt und er hätte gerade einen großen Schluck daraus getrunken, denn Hans-Christian Tannberg sagte:
»Weißt du, von wem ich rede, wenn ich dir verrate, dass der Typ ein Paragrafenzeichen als Tattoo auf dem Mittelfinger trägt?«