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J ules, der gerade die Flasche neben der Spüle hatte abstellen wollen, erstarrte in der Bewegung, wie früher Fabienne und Valentin auf Kindergeburtstagen, wenn sie Stopp-Tanz gespielt hatten und die Musik aufhörte.
»Das ist unmöglich.«
»Wieso?«
»Weil Caesar im Rollstuhl sitzt.«
»Seit wann, Junge? Warst du dabei, als die Ärzte ihn nach dem Unfall entlassen haben? Hast du seine Krankenakte gelesen?«
»Nein, aber …«
Jules’ Tinnitus, sein summender Stressbegleiter, meldete sich zurück.
»Nein, hast du nicht«, unterbrach ihn sein Vater. »Er wäre nicht der Erste, der vortäuscht, auf einen Rollstuhl angewiesen zu sein. Du weißt gar nicht, wie viele Versicherungsbetrüger mit dieser Masche ich schon überführt habe.«
»Caesar ist bei einem Date. Er hat mir davon erzählt. Seine Flamme sitzt ebenfalls im Rollstuhl.«
»Behauptet er.« Sein alter Herr seufzte. »Wenn du mir nicht glaubst, Junge, dann ruf ihn doch an.«
»Was soll das beweisen?« Jules tigerte beim Sprechen um den Küchenblock herum. »Wenn er nicht rangeht, ist er mit Ksenia beschäftigt.«
»Du hast Angst vor der Wahrheit«, sagte sein Vater in dem eigentümlichen Singsang, mit dem er ihn schon als Kind kirre gemacht hatte. Selbstverliebt grinsend, als hätte er die Weisheit der Welt gepachtet.
»Bleib dran!«, bellte Jules seinen Vater an, legte ihn in die Warteschleife und wählte aus dem Favoriten-Speicher die Nummer seines besten Freundes. Es dauerte eine Weile, bis sich die Verbindung aufbaute. Zuvor rauschte es kurz, wie bei einem altmodischen Ferngespräch.
So ein Schwachsinn …
Natürlich wusste Jules, dass sein Vater sich geirrt haben musste. Caesar war niemals in diesem Parkhaus. Und schon gar nicht ohne seinen Rollstuhl.
Dann jedoch, als es endlich klingelte, hatte Jules eine beinahe außerkörperliche Erfahrung. Denn es läutete nicht allein in dem Handy an seinem Ohr. Sondern zeitgleich mit dem ersten Klingeln setzte wieder die Musik ein, die ihn nur wenige Minuten zuvor schon einmal erschreckt hatte.
Klassische Musik.
Traurige, melancholische Molltöne.
Chopin?
Jules fühlte sich schlagartig zurückversetzt in jenen Augenblick des Schreckens, als er an dem Tag der Tragödie in der Prinzregentenstraße an den Beamten vorbei in seine eigene Wohnung hatte rennen wollen. Angetrieben von der Gewissheit, gleich eine grauenhafte Entdeckung zu machen. So ähnlich fühlte es sich an, als Jules merkte, dass sich die Klangquelle der Klaviermelodie nur wenige Meter von ihm entfernt befand.
Jules blinzelte, rieb sich die Augen und hätte sie am liebsten für eine ganz lange Zeit geschlossen. Nun erinnerte er sich auch an den Titel des Stückes: Prélude Nr. 4.
Das Stück, das Caesar so sehr liebte, dass er es seit Ewigkeiten als Klingelton abgespeichert hatte.