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W ie bitte?«
In einer instinktiven Abwehrgeste legte sich Klara den linken, freien Arm vor die Brust.
Sie hatte das Gesicht des Mannes noch nie zuvor gesehen, und dennoch kam er ihr seltsam bekannt vor. Alles an ihm wirkte kräftig, aber nicht grob. Der kantige, zum Rest des muskulösen Körpers passende Kopf, der wegen der abstehenden dunklen Locken noch voluminöser wirkte. Die großen, aderüberzogenen Hände, mit denen er das Lenkrad wie andere einen Zahnstocher umfasste. Die Brustmuskeln, die die Knöpfe vom Hemd zu sprengen drohten. Alles fremd – und dennoch vertraut.
Womöglich, der Gedanke ließ sie schaudern, hatte Martin sie ihm schon einmal »vorgeführt«; vielleicht war er sogar der maskierte Mann mit der Hundeleine bei dem Sadisten-Abend im Le Zen gewesen?
Der »Spieler« legte die GoPro-Kamera auf das Armaturenbrett, jedoch so ausgerichtet, dass die Linse zur Seite zeigte und nichts vom Innenraum einfangen konnte. Vermutlich war er zu aufgeregt. Vielleicht war es sein erstes Mal im »Stall«.
»Los, Beeilung«, flüsterte er, und Klara war sich nicht sicher, was er wollte.
Sollte sie sich ausziehen?
Damit beginnen, ihn zu entkleiden? Ihm die Hose aufmachen?
Der Kerl kramte im Seitenfach, nahm die Waffe heraus, schien an ihr aber völlig desinteressiert und suchte weiter, auch in der Ablage hinter der Schaltung und in dem Getränkefach davor.
»Wo ist der Schlüssel?«, fragte er, ohne sie anzusehen.
»Neben meinem Sitz auf dem Boden«, erklärte Klara. Was hätte es für einen Sinn gehabt, das Unvermeidliche hinauszuzögern? Er würde sie irgendwann losbinden wollen, wenn sie zum Widerstand ohnehin nicht mehr in der Lage war.
»Nicht der«, stellte der Kerl mit Blick neben das Sitzpolster fest.
Seltsam.
Auch seine Stimme meinte sie schon einmal gehört zu haben.
»Wo ist mein Autoschlüssel?«
Mein?
Klara schnappte nach Luft.
Wie war das möglich?
»Hendrik?«
»Nein, ick bin der Weihnachtsmann«, scherzte er und öffnete das Handschuhfach. »Hast du ihn noch?«
»Was?« Sie war so perplex, dass sie schon wieder vergessen hatte, wonach der Mann sie gefragt hatte, der ganz offensichtlich Hendrik ohne Santa-Kostümierung war.
»Meinen Autoschlüssel!« Er drückte auf den Start-Knopf, aber der Motor sprang nicht an. »Ich hatte gehofft, er hat ihn drinjelassen. Weißt du, wo er ist?«
Sie schüttelte den Kopf. Einerseits als Antwort, hauptsächlich aber, weil sie sich auf die neue Situation keinen Reim machen konnte.
»Was machst du hier?«, krächzte sie. Mit der Frage kam die Angst zurück, und mit der Angst setzten die Huftritte unter ihrer Brust wieder ein.
War das ein abgekartetes, obszönes Spiel? War Hendrik etwa von Anfang an von Martin ferngesteuert?
»Ick versuche, mein Auto wiederzubekommen. Und, wie es scheint, dich aus der Scheiße zu holen.«
Es war nicht zu überhören, wie aufgeregt er war. Aber, und das ließ Klara zum ersten Mal ein Fünkchen Hoffnung schöpfen, nicht im sexuellen Sinn. Ihr schien, als wollte auch er lieber an jedem anderen Ort der Welt sein, nur nicht hier.
»Wir müssen uns beeilen. Der Typ, der dich ein Deck tiefer versteigert hat, hat gesagt, er kommt in fünf Minuten mal kontrollieren. Vermutlich früher, wenn er merkt, dass die GoPro nicht funzt.«
Klara konnte nicht aufhören, den Kopf zu schütteln.
»Aber, ich … verstehe nicht … Wie hast du mich gefunden?«
»Du hast mich doch im Santa-Kostüm gesehen, was denkst du denn, wie ich mein Geld verdiene?«
»Auf Weihnachtsfeiern?«
Er lachte. »Mitten in der Nacht? Baby, ick bin Stripper. Ich mach mich nackig auf Junggesellinnen-Abschieden oder anderen Weiberbesäufnissen. So wie im Forst.«
Trotz ihrer erbärmlichen Lage musste Klara leise lächeln. »Das erklärt dann wohl die Handschellen und die Pistole.«
»Attrappen.«
Er zog die Pistole aus dem Seitenfach und deutete mit dem Lauf auf die Fessel an Klaras rechtem Handgelenk. »Keine Kugel drin. Fake, wie das Kinderspielzeug an deinem Arm. Wobei die Schelle ganz gut hält, hätt ick nich gedacht.«
Er griff zwischen die Kante des Polsters und der Hartschalenverkleidung neben dem Sitz und schaffte es mit seinen dicken Fingern in beeindruckender Geschwindigkeit, die Handschellenschlüssel hervorzuklauben.
Er beugte sich zu ihr herüber, vermutlich um sie von der Fessel zu befreien, doch Klara wich instinktiv zurück. »Nein, lass mich!«
»Nein?«
»Das ist eine Falle, ich lass mich hier nicht verarschen.«
Er tippte sich an den Kopf. »Bist du malle? Ick bin jekommen, um dich zu befreien. Hab mein Kostüm in den Müll geschmissen, damit mich überhaupt ein Taxifahrer mitnimmt. Musste mir in Jeans- und T-Shirt deinetwegen den Arsch abfrieren, weil du mir mein Auto klauen wolltest. Ick schwöre, sobald wir hier raus sind, bist du an der Reihe, ’n paar Antworten rauszurücken.«
»Nicht, bevor du mir nicht plausibel erklärst, wie du mich gefunden hast.«
Hendrik rollte mit den Augen. »Und du glaubst, dafür ist jetzt Zeit?«
»Wenn deine Erklärung länger als zehn Sekunden dauert, ist sie eine Lüge, und ich bin eh geliefert.«
»Okay.« Er seufzte. »Der Dreckskerl, der dich mit meinem Auto hierher entführt hat, brüllte, er würde dich in den Stall bringen.«
Klara lief ein kalter Schauer den Rücken hinunter, nicht allein weil der Innenraum des Fahrzeugs in dem Parkhaus immer mehr auskühlte, je länger sie hier standen.
»Ach. Und du wusstest natürlich sofort, was damit gemeint ist?«
»Noch mal: Ick bin Stripper. Ick kenn alle perversen Sexevents in der Stadt, selbst die illegalen.«
»Das ist Bullshit. Nur Mitglieder wissen, wann und wo das hier stattfindet.«
Hendrik murmelte, dass ihm das jetzt zu blöd wäre. Ohne eine weitere Frage oder Widerrede abzuwarten, beugte er sich über ihren Sitz, griff nach ihrem Arm und löste sie in Windeseile von der Handschelle.
Offenbar hat er darin Übung.
»So, und jetzt nichts wie weg hier!«, presste er hervor. »Der Kerl, der dich entführt hat, wird bald merken, dass sein Konto heute Abend leer bleibt.«
»Du hast das Geld nicht überwiesen?«
»Natürlich nicht, Baby. Ick sach doch, ick bin hier nicht Mitglied. Ick hab mit meinem Handy so getan, als würde ich irgendetwas anweisen. Hab gesagt, der Transfer könnte zehn Minuten dauern, da gerade ordentlich Traffic auf dem Account sei, aber ich würde schon mal anfangen, er weiß ja, wo er mich findet.«
Klara nickte. Das ergab Sinn. Da diese Party im Grunde nur Mitgliedern bekannt war, gingen alle Anwesenden automatisch davon aus, dass sie einen Geldtransferaccount hatten. Allein die Anwesenheit war Sicherheit genug. Was wiederum die Frage aufwarf, wie Hendrik hier hereingekommen war.
»Das ist eine Falle!«, schrie das vernunftgesteuerte Teufelchen in Klaras linker Hirnhälfte.
»Na und? Du wolltest heute doch ohnehin alles wegwerfen«, hielt die resigniert erschöpfte Stimme ihres Herzens dagegen.
Hendrik sah sie mit stahlblauen Augen an, die trotz ihrer intensiven Färbung erstaunlich melancholisch dreinblickten, und griff nach ihrer Hand: »Los jetzt. Es kann sich nur noch um Minuten handeln, bis der Perverso zurückkommt, weil ihm klar wurde, dass mein Geld niemals bei ihm ankommen wird.«
»Eher Sekunden«, flüsterte Klara und drehte den Kopf zur Seite, die Augen wieder zur Notausgangstür gerichtet, durch die ihr Ehemann gerade zurück aufs Parkdeck stürmte. Mit zwei Männern im Schlepptau, die Waffen in den Händen zu halten schienen.