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S ie waren zu dritt. Und es waren tatsächlich Waffen in ihren Händen. Die schlimmsten, die man bei einem Kampf bei sich führen konnte, wenn der Gegner, wie im Fall von Klara, schwächer oder, wie im Fall von Hendrik, nur mit einer Pistolenattrappe ausgerüstet war. Martin und seine zwei mit Sturmhauben maskierten Begleiter hielten jeweils ein langes Messer in der Rechten. Bereit zum Schlitzen, Stechen und Zerfetzen.
»Wer bist du?«, schrie Martin schon von Weitem.
Klara zuckte zusammen, obwohl sein Gebrüll durch die Windschutzscheibe stark gedämpft bei ihr ankam. Sie hatte ihren Mann schon unzählige Male wütend erlebt, oft bis an die Grenze zur Weißglut. Aber so intensiv hatte sie die Mordlust noch nie in seinen Augen aufblitzen sehen.
»Das geht dich einen Scheiß an, Wichser!«, brüllte Hendrik zurück.
Martin, mittlerweile nur noch einen Meter entfernt, drohte ihm mit dem Messer. »Steig aus, Riesenbaby, und ich bring dich um.«
Hendrik lachte abfällig. »Schwachkopp. Du bist nur stark, wenn dein Gegner ebenso schwanzlos ist wie du.«
Zornig wandte sich Martin an seine Kumpane, die ihn flankierten: »Ich hätte es wissen müssen. Hab seine Drecksvisage noch nie gesehen. Und niemand hat je so viel für meine Ehehure geboten.«
Die Begleiter nickten stumm.
»Niemand hat dir je zuvor den Arsch aufgerissen, so wie ich, wenn ich mit dir fertig bin«, sagte Hendrik.
»Dann steig endlich aus!«, bellte Martin. Klaras Blick wanderte zwischen Hendrik und ihrem Mann hin und her, während diese sich gegenseitig wie bei einem »Wer blinzelt, verliert«-Wettbewerb fixierten.
»Wenn er nah genug kommt, könnte der Trick, den du versucht hast, funktionieren«, hörte sie Hendrik murmeln, der wie ein Bauchredner kaum die Lippen bewegte.
Obwohl Martin noch eine Armlänge zu weit entfernt stand, drückte Hendrik den Motorstart-Knopf des Hyundai, natürlich vergeblich.
Wenn Martin doch nur näher käme ...
In Klara hatte sich nun genug Wut angestaut, um es mit einem aussichtslosen Plan zu versuchen.
»Komm doch und hol uns!«, brüllte sie ihren Mann durch die Scheibe an. Sie zeigte ihm den Mittelfinger. »Du dummes Arschloch. Willst du wissen, wer das hier neben mir ist?«
Sie schenkte Martin ein vor Abscheu triefendes Lächeln. »Das ist Hendrik. Meine Affäre. Du denkst, du konntest mich kontrollieren? Einen Scheiß konntest du. Ich ficke ihn schon seit Monaten.«
Sie drehte sich zu Hendrik, zog dessen Gesicht zu sich heran, sah ihm in die stahlblauen Augen, presste ihre Lippen auf seinen vollen Mund und gab ihm einen Zungenkuss.
Wie erwartet ließ Martins jähzornige Reaktion nicht auf sich warten. Ihr Mann stürmte nach vorne und schlug mit der Faust auf die Motorhaube. In dieser Sekunde drückte Hendrik auf den Startknopf, und der Motor startete.
Nicht.
Martin lachte und fuchtelte mit dem Messer in ihre Richtung.
»So, wer von uns ist jetzt der Idiot?«, fragte er. »Hast du gedacht, ich trag den Schlüssel bei mir? Du Schwachkopf.«
Er schob einen kleinen, unförmig übergewichtigen Kerl zu seiner Rechten, der ebenfalls einen Anzug zu seinem Messer trug, rüde beiseite und trat an die Beifahrertür.
»Öffnen!«, befahl er, und der Typ rechts von ihm zog den Funkschlüssel hervor und entsicherte die Zentralverriegelung mit der Fernbedienung.
Martin steckte sich das Messer zwischen die Zähne, um sein Jackett auszuziehen, das er vor sich zu Boden warf wie ein Adliger den Fehdehandschuh. Dann stürmte er dem Auto entgegen.
Einer der Hauptvorwürfe, den Martin Klara im Laufe der Ehe wieder und wieder an den Kopf geworfen hatte, war: »Du denkst einfach nicht nach!« Ein Mantra, das beinahe jeder Ohrfeige vorausgegangen war. Sehr oft lag er damit falsch. Meistens hatte Klara sich zu viele Gedanken gemacht, hatte zu vieles gleichzeitig bedenken wollen (einerseits mag er es, wenn beim Bundesligaanpfiff Bier auf dem Couchtisch bereitsteht, andererseits muss es kalt sein, wann ist also der richtige Zeitpunkt, es aus dem Kühlschrank zu holen, ohne dass er das Gefühl hat, mich daran erinnern zu müssen?) und war an sich selbst gescheitert. Doch dieses Mal hätte Martin recht gehabt.
Klara dachte nicht nach, überlegte sich nicht, welche Konsequenzen es haben würde, wenn sie sich über Hendriks Sitz und damit über seinen Oberkörper beugte, um die Spielzeugpistole aus der Fahrertür zu nehmen, kurz nachdem Martin die Beifahrertür aufgerissen hatte. Kurz bevor er sie an den Haaren packte und ihr der Schmerz bis in die Stirnhöhle schoss, als er sie an einem Strähnenbündel aus dem Auto heraus auf den Betonboden zerrte.
»Lass sie los!«, hörte sie Hendrik schreien, der den Geräuschen nach ebenfalls aus dem Auto sprang. Im Moment hatte Klara so viele Tränen in den Augen, dass sie auf dem dreckigen Parkhausboden, auf allen vieren kniend, nichts sah. Sie fühlte nur den bekannten Gefühlsakkord aus Schmerz, Angst und Verzweiflung, angefüttert von einer gehörigen Portion Wut, die es ihr ermöglichte, sich im wahrsten Sinne des Wortes gegenüber Martin aufzubäumen.
Mit einem geburtswehenähnlichen Schrei opferte sie ein Büschel ihrer Haare und riss den Kopf zur Seite, in dessen Schopf sich Martin noch immer verkrallt hatte. Sie drehte sich auf den Knien um etwa neunzig Grad und stand auf, richtete die Waffe auf Martin und schrie etwas völlig Unverständliches. Eine Mischung aus: »Jetzt bist du geliefert«, »Fühlst du dich immer noch so stark?« und »Ich steck dir den Lauf in den Arsch und hoffe, die Kugel kommt durch dein Maul wieder raus.«
All das wollte sie gleichzeitig brüllen, aber sie war viel zu aufgeregt und viel zu angsterfüllt, um sich vernünftig zu artikulieren, denn sie wusste ja, dass sie mit der Pistole nur bluffte. Aber das tat sie immerhin so gut, dass die Begleiter von Martin die Hände hochstreckten und der Dicke sogar sein Messer fallen ließ.
»Ganz ruhig, Klara«, hörte sie Hendrik rufen, der von hinten um das Auto zu ihr gelaufen kam.
Und das irritierte sie.
Angst, das hatte Klara gelernt, hatte oft positive Nebenwirkungen. Wenn man sie nur oft genug erlebt hatte, wie Soldaten im Einsatz etwa, schärfte sie die Sinne. Man achtete auf Nuancen und Feinheiten, die einem im Alltag verborgen blieben. Etwa die Tatsache, dass ein Mann einen beim Vornamen nennt, ohne dass man sich ihm vorgestellt hat.
Woher weiß Hendrik, wie ich heiße?
Einen Atemzug lang von dem Gedanken abgelenkt, ließ sie die Waffe nur einen Zentimeter sinken. Martin musste den winzigen Moment der Unaufmerksamkeit bemerkt haben und nutzte ihn. Hart und effektiv, indem er ihr zwischen die Beine trat, so wie er es früher auch gerne gemacht hatte, wenn sie sich bei der Arbeit verspätet und ihn zu lange mit Amelie allein gelassen hatte.
Das Blatt wendete sich. Von »aussichtslos« zu »vollendeter Katastrophe«. Martin packte Klaras Arm, die sich krümmte, schlug ihr die eigene Waffe vors Gesicht, was ein Fehler war. Denn das Blut, das Klara wie eine Fontäne aus der Nase schoss, besprenkelte auch die Hand, mit der sie sich an die Spielzeugpistole klammerte. Sie drohte ihr zu entgleiten, und da Martins Finger ebenfalls besudelt wurden, bekam er die Waffe nicht zu fassen. Im selben Moment sprang Hendrik von hinten heran, jedoch zu spät.
Klara drückte ab.
In dem verzweifelten Versuch, den Bluff nicht aus der Hand zu geben, hatte sie sich so sehr in den Griff gekrallt, dass sie den Abzug betätigte.
Aus Versehen, dachte sie noch, als sie sah, wie Martin zurückwich, hinter Hendrik, der sich in dem Handgemenge neben sie geschoben haben musste.
Klara ließ die Pistole fallen, aber sie hörte nicht, wie sie auf dem Boden aufschlug. Ihre Ohren waren noch immer von dem trommelfellzerfetzenden Knall betäubt, dessen Echo in ihr tobte.
»Was ist?«, fragte sie, und auch das hörte sie nicht. Es war, als hätte ihr jemand Watte in die Ohren gesteckt
»Klara …«, formte Hendrik mit den Lippen.
Wieder nannte er sie beim Namen, dabei sah er sie allerdings so an, als wäre er sich nicht mehr sicher, ob sie wirklich vor ihm stand. Erstaunt, hilflos. Verletzt.
So muss ein Ehemann aussehen, der seine Frau über alles liebt und Zeuge davon wird, wie sie ihn betrügt, dachte Klara, verblüfft davon, dass Martin die Gunst der Lage nicht genutzt und sie überwältigt hatte. Tatsächlich war er zurückgewichen. Hatte das Messer fallen gelassen und es seinen maskierten Helfern gleichgetan, indem er sich umdrehte und von Schritt zu Schritt schneller laufend zurück zum Treppenhaus des Parkhauses eilte.
Noch komplett unter Schock, hätte Klara ihm beinahe die Frage hinterhergerufen, weshalb er das tat, dabei war es im Grunde genau das, was sie gewollt hatte: dass Martin sie alleine ließ. Am besten für immer.
Wo willst du hin?
Wieso lässt du von mir ab?
Was ist passiert?
Sie drehte sich zu Hendrik, und da fand sie die Antworten auf die Fragen, die in ihrem Kopf umherwirbelten, denn sie sah den Fleck.
Erst erinnerte er an einen Schmetterling, dann an die Landkarte einer Insel, die sich auf Hendriks weißem T-Shirt vom Brustbogen aus zu den Nieren ausbreitete.
»Was …?«, fragte sie ihn, noch immer taub und noch immer unfähig, einen vollständigen Satz zu formulieren.
Ihr Atem dampfte, wie der Pistolenlauf es getan hatte, nachdem die Kugel den Lauf verlassen hatte.
Mit einem Knall.
Das ist unmöglich. Er hat mir doch gesagt …
Hendrik wankte. Klara trat einen Schritt nach vorne, wollte ihn am Arm anfassen, aber sie war nicht schnell genug. Hendrik presste sich die Hand auf die Schusswunde und sackte nach vorne. Erst auf die Knie, dann fiel er zur Seite und blieb auf dem kalten, grauen Betonboden in Embryonalhaltung liegen, direkt neben der Pistole, die ganz offensichtlich doch keine Spielzeugwaffe gewesen war.
»Ich dachte, es wäre eine Attrappe!«, stöhnte Klara auf. »Du hast mir gesagt, sie funktioniert nicht.«
Auch sie ging auf die Knie, streckte die zitternde Hand aus, wagte es aber nicht, ihn zu berühren. Ihr Blick fiel auf das Jackett, das sich Martin ausgezogen hatte. Sie griff danach, um es Hendrik über den Körper zu legen. Auf dem Erste-Hilfe-Plakat an der Wand ihrer Praxis stand, dass man Verletzte warm halten sollte. Galt das auch bei Schussverletzungen?
Großer Gott, du hast einen Menschen erschossen!
Das Jackett wog schwer, an dem Bund mit dem Autoschlüssel konnte es nicht liegen, denn das hatte ja der Schwabbel mitgenommen. Klara tastete nach der Innentasche und stieß auf ein Handy.
Mein Handy!
Noch heftiger zitternd, schaffte sie es vor Nervosität und wegen ihrer klammen, blutverschmierten Finger nicht, den Bildschirm zu entsperren und Hilfe zu holen.
Hendrik bewegte derweil die Lippen. Sie konnte langsam wieder etwas hören, von der Straße vor dem Parkhaus drang Verkehrslärm zu ihnen hoch. Doch Hendriks Flüstern war so kraftlos, dass sie nicht verstehen konnte, was er von ihr wollte. Ein Auto beschleunigte acht Stockwerke unter ihnen mit dem Aufheulen eines Rennwagens.
Klaras Verstand hingegen arbeitete eher mit der Geschwindigkeit einer Raupe.
Hilfe holen.
Ich. Muss. Hilfe. Holen.
Sie erinnerte sich daran, dass man den Home-Button des Telefons einfach gedrückt halten musste, um direkt mit der Feuerwehr verbunden zu werden.
»Hilfe, Sie müssen in ein Parkhaus kommen«, würde sie sagen, ohne zu wissen, wo es sich befand. Aber sie würden das Handy sicher orten können. »Hier liegt ein Mann mit einer Schusswunde«, würde sie dem Beamten verraten.
Von dem ich nicht weiß, wer er ist.
Und woher er meinen Namen kennt.
Sie sah, wie Hendrik sich bewegte. Sah die Waffe, die neben ihm lag.
Und wieso er mich angelogen hat.
Gerade noch rechtzeitig, bevor er nach ihr greifen konnte, trat sie mit dem Fuß gegen die Pistole und kickte sie bis vor den stillgelegten VW -Käfer. Dann machte sie sich in dieselbe Richtung auf den Weg. So schnell es ihr schmerzender Knöchel zuließ, das Telefon am Ohr, das die Verbindung zur Feuerwehr aufbaute, lief sie los.
Zum Ausgang.
Auch wenn sie sich dafür verachtete, aber sie musste zuerst an sich denken. Sie musste Hendrik alleine lassen.
Bevor sie noch einmal auf eine seiner Lügen hereinfiel, was sie entweder den Verstand oder das Leben kosten würde.
Im Zweifel beides.