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J
ules stürmte durch das Wohn- ins Arbeitszimmer, dort öffnete er seinen Rucksack, den er unter dem Schreibtisch abgestellt hatte. Darin musste irgendwo eine aufgeladene Powerbank sein, die er zunächst nicht finden konnte, dann wickelte sich zum Glück das daranhängende Kabel beim Wühlen um seine Finger.
Sofort verkoppelte er den Ersatzakku mit dem Mobiltelefon. Gleichzeitig hörte er es krachen. Ein Geräusch, als würde jemand Möbel rücken, bahnte sich vom Flur her den Weg durch den Altbau.
Jules achtete nicht darauf, wohin er trat, und stolperte mit den Crocs auf seinem Rückweg über einen umgeschlagenen Läufer. Wieder glitt ihm das Telefon aus der Hand, wobei die Powerbank zwar mit dem Handy verbunden blieb, doch diesmal knallte das Telefon mit der Kante auf den Boden, und das Display splitterte wie eine Panzerglasscheibe, auf die man geschossen hatte.
Bitte nicht, nein.
Das Symbol einer sich aufladenden Batterie war noch da, aber das hieß ja nicht, dass er mit dem zerbrochenen Touchscreen eine Verbindung würde herstellen können.
Jules zog sich am Esstisch hoch und rannte weiter, jetzt ohne die Gummischuhe, zurück zum Kinderzimmer; der Raum mit dem wichtigsten Lebewesen, das es in dieser Wohnung zu beschützen galt.
In diesem Moment hätte er den rechten Arm für ein Festnetztelefon gegeben, doch er hatte nur das Handy zur Verfügung, das jetzt durch seine Dummheit vielleicht nicht mehr funktionierte.
Im Flur trat er in die Scherben, die sich durch seine Socken bohrten. Er spürte keinen Schmerz, so elektrisiert war er durch die Erscheinung des »Geistes«, der natürlich kein übernatürliches Wesen war, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut.
Bewaffnet.
Und womöglich nicht länger unter dem Gästebett kauernd, sondern vielleicht schon im Kinderzimmer …
Dessen Tür noch immer verschlossen war, aber das hatte nichts zu bedeuten. Vielleicht hat er sie von innen zugezogen? Hält sie wieder zu wie die Tür zur Abstellkammer.
Der Geist musste ein Meister der Täuschung sein. Hatte sich durch die Wohnung geschlichen, ohne dass er von Jules aufgespürt worden war. Obwohl er nach ihm gesucht hatte, wenn auch nur flüchtig. Weil er sich kein Motiv hatte vorstellen können, das den unsichtbaren Einbrecher antrieb. Es sei denn, er war einfach nur wahnsinnig und wollte Blut sehen.
Kinderblut!
Jules riss die Tür auf, viel zu laut und unvorsichtig.
»Papa?«
»Sorry«, hauchte er beruhigend. »Es tut mir leid, Kleines, geht es dir gut?«
»Ja«, antwortete dieses wundervolle, unschuldige Wesen mit der schlaftrunkenen, abwesenden Stimme, wie sie nur Kleinkinder haben, wenn sie so müde sind, dass sie trotz heftigster Störung sofort wieder einschlafen können.
Oder Kranke …
»Schlaf weiter, Schatz«, rief Jules ihr zu und verließ ihr Zimmer, nicht ohne noch mal unter ihr Bett gesehen zu haben. Doch da war niemand.
Keine Augen. Keine Hände. Nur Staub und ein Tuschkasten und … Holz?
Kein Zweifel, Jules hatte es klappern hören. Das Geräusch kam aus dem Nebenzimmer, wie ihm klar wurde, als er wieder im Flur war.
Holz auf Holz. Das typische Geräusch eines auf und zu schlagenden, vom Wind bewegten Fensters.
Er machte einen großen Schritt über die Glühlampensplitter und musste doch die Zähne zusammenbeißen, als er auf eine weitere Scherbe traf.
Wieder trat er ins Gästezimmer, und wieder stand er im Dunkeln, weil das Deckenlicht selbstverständlich noch immer nicht funktionierte, doch diesmal konnte er noch nicht einmal mit der Handytaschenlampe leuchten, denn sein Telefon war noch nicht so weit aufgeladen, dass es hochfuhr.
Allerdings ergab es ohnehin keinen Sinn, unter das Bett zu sehen, denn das war umgestürzt. Der Geist (Jules nannte ihn immer noch so) musste sich unter dem Lattenrost aufgebäumt und es mitsamt der Matratze von sich geschoben haben.
Und war dann zum Fenster gegangen …?
Es stand offen!
Die rechte Scheibe im zweiteiligen Rahmen bewegte sich im Luftzug, vor und zurück, als wollte sie Jules zu sich winken.
Doch er blieb stehen, vergewisserte sich, dass hinter der nun hochkant stehenden Matratze niemand kauerte. Und dass auch der Bauernschrank, den er langsam öffnete, keine Überraschung barg, die ihn hinterrücks anspringen konnte.
Zum hundertsten Mal warf er einen Blick auf sein Handy, und endlich zeigte sich das Logo, und er hörte die erlösende Gitarrenmelodie, mit der das Telefon einen ausreichend aufgeladenen Akkustand signalisierte, um wieder das Betriebssystem laden zu können. Drei Sekunden später stellte er erleichtert fest, dass sein Handy noch funktionierte. Die ersten Nachrichten klimperten ein. Zwei SMS
, eine WhatsApp. Und ein Anruf!
»Ich kann jetzt nicht«, bellte Jules in den Hörer und wollte ihn wegdrücken.
»Halt, warte!«, schrie sein Vater. »Du bist in Gefahr. Ich hab etwas über Klara rausgefunden!«
»Nicht jetzt.«
»Doch, Junge, es ist lebenswichtig. Weißt du, wo sie steckt?«
»Nein. Aber sollte sie sich noch einmal bei mir melden, versuche ich, sie zu mir nach Hause zu lotsen.«
»Großer Gott, nein. Komm ihr bloß nicht zu nahe. Was immer du tust, warte, bis ich bei dir bin!«, war das Letzte, was er von seinem Vater hörte, bevor er einen zweiten Anruf entgegennahm, der die ganze Zeit schon angeklopft hatte. Ein heftiger Windstoß stieß das Fenster komplett auf und ließ die Scheibe im Rahmen klirren. So laut, dass Jules im ersten Moment nicht verstand, wer in der Leitung war.
Nur, dass die Person weinte.
Und ihn um Hilfe anflehte.