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Klara
I ch verliere meinen verdammten Verstand.«
»Klara?«
Sie sah auf ihren Unterarm. Ihre Tränen hatten die Nummer bereits verwischt, die sie sich mit Hendriks Edding darauf notiert hatte.
»Dachte schon, Sie haben mir eine falsche Nummer gegeben. Wieso sind Sie nicht rangegangen? Ich hab es wieder und wieder versucht.«
Erdjan Y. hatte sogar einen Zwischenstopp einlegen müssen. Klara hatte ihn gebeten, den nächsten freien Parkplatz anzupeilen, bis sie wüsste, wohin sie fliehen könnte.
»Ärger zu Hause«, hatte ihr Fahrer lakonisch festgestellt und war dann an zehn Parkbuchten vorbeigefahren, bis er vor dem Ku’damm 195 hielt, um hier seine Zwangspause mit einer Currywurst zu verbinden.
Ja, nennen wir es »Ärger zu Hause«, dachte Klara mit Blick zu dem Schnellimbiss, der dafür bekannt war, vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet zu sein und die Speisen nur auf Porzellan auszugeben. Passend zu den Luxusboutiquen und Starfriseuren, die die zurückgesetzte Bude flankierten.
Was soll ich nur tun? Wohin soll ich jetzt fahren?
Es zog sie zu ihrer Tochter, doch daheim wartete bestimmt Martin schon auf sie.
Klara hatte sich so sehr nach Jules’ Rat gesehnt, dass sie ihn bestimmt zwanzigmal angeklingelt hatte, aber bis eben war er nicht rangegangen.
»Sie haben Ihr Handy ausgeschaltet!«, warf sie ihm vor.
»Mein Akku war leer.« Jules klang ähnlich wie sie. Nicht so weinerlich, aber ängstlich. Zudem flüsterte er.
»Wirklich?«
»Misstrauen Sie mir?«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Ich misstraue mir selbst. Dieses beschissene Experiment. Es hat alles durcheinandergebracht in meinem Kopf. Erinnern Sie sich daran, was Sie mich vorhin gefragt haben?« Sie plapperte. Es ging nicht anders. Wenn sie aufhörte zu reden, fürchtete sie, würde sie ein Heulkrampf überwältigen.
»Als ich Ihnen beschrieben habe, wie der angebliche Dr. Kiefer mir im Klinikpark eröffnete, ich sei während des Versuchs klinisch tot gewesen?«
»Es tut mir leid, ich habe hier gerade ein Problem …«
»Sie wollten wissen, ob er die Wahrheit gesagt hat. Ja, das hat er. Ich war wirklich dem Tode nahe, und das, unmittelbar nachdem mir der Assistenzarzt das Mittel spritzte, das die Halluzinationen erzeugte. Aber alles, was danach kam, war nicht mehr real.«
»Sie meinen das Gespräch mit dem spanischen Chefarzt, die merkwürdige Übersetzung …?«
Jules klang noch immer gehetzt, nun aber so, als hätte sich gerade für ihn ein wichtiges Rätsel gelöst.
»… bis hin zu Kerniks Sprung in den Tod. All das hat nie stattgefunden.«
»Was sagen Sie da?«
»Die künstlich hervorgerufenen Halluzinationen waren bei mir viel stärker als bei den anderen Probanden. Ich musste drei Wochen länger im Berger Hof bleiben, bis ich wieder halbwegs zwischen Wahn und Wirklichkeit unterscheiden konnte.«
»Und jetzt sind Sie sich nicht sicher, ob die Nebenwirkungen des Experiments noch andauern?«
Klara stöhnte zustimmend. »Himmel, ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob Sie überhaupt real sind, Jules. Vielleicht ist das alles hier, mein gesamtes Leben, nur noch Einbildung und das Resultat dieser Gehirnwäsche. Ich …«
Klara wechselte abrupt das Thema in der vergeblichen Hoffnung, dadurch aus ihrem düsteren Gedankenkarussell gerissen zu werden. »Was haben Sie damit gemeint, Sie haben ein Problem?««
»Ich bin nicht länger alleine. Bei uns ist jemand eingedrungen.«
Diese unerwartete Information alarmierte Klara so sehr, dass sie das Gefühl hatte, ihre Nase hätte wieder angefangen zu bluten, doch als sie es mit dem Zeigefinger prüfte, ertastete sie nur verkrusteten Schorf unter den Nasenlöchern.
»Ein Einbrecher?«, fragte sie mit einem Kloß im Hals.
»Ja.«
»Yannick!«, entfuhr es ihr, doch sie korrigierte sich gleich. Nein. Der konnte es nicht sein. Den hatte sie gerade in der Nähe des Breitscheidplatzes auf der Straße stehen sehen.
Falls er es war.
Denn wenn sie ihrer Fantasie freien Lauf ließ, erkannte sie selbst in Erdjan an der Würstchenbude von Weitem Ähnlichkeiten mit ihrem Peiniger.
Ich dreh langsam durch.
»Sorry, ich sehe ihn überall«, sagte sie und warf mit dieser Behauptung vermutlich mehr Fragen bei Jules auf, als dass sie irgendetwas erklärte.
Erstaunlicherweise murmelte der auch völlig kryptisch: »Wie ein Geist.«
»Ein Geist?«
»Beschreiben Sie mir noch mal, wie Yannick aussieht«, bat er.
»Mitte fünfzig, Bart, blaue Augen, längere schwarze Haare, Waschbrettbauch …«
»Hm. Das passt nicht auf den Typ unter dem Bett …«
Unter dem Bett?
»Eher das Gegenteil, aber …«
»Was aber?«
Das Gefühl von Nasenbluten wurde wieder stärker, doch diesmal griff Klara sich nicht ins Gesicht. Sie sah, wie Erdjan mit einer Colaflasche zurückkam, sein Gesicht eine einzige Atemwolke. Die Wurst samt Pommes hatte er wohl noch im Imbiss verdrückt, bis auf einen letzten Rest, an dem er genüsslich kaute.
»Es gibt jemanden in meinem Umfeld, auf den Ihre Beschreibung halbwegs passen könnte«, stellte Jules fest. »Bis aufs Alter. Aber alle sagen, der Bart mache ihn älter.«
»Wie heißt er?«
»Magnus Kaiser. Genannt Caesar.«