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Klara
K laras Anspannung erreichte eine neue Dimension. Obwohl sie seit Tagen nichts Richtiges mehr gegessen hatte, rumorte es in ihrem Magen wie nach einem Festmahl. »Er arbeitet auch am Begleittelefon. Ich hab seine Schicht übernommen.«
Mit dieser Information schien Jules ihr ein Puzzlesteinchen ausgehändigt zu haben, das ein schreckliches Bild vervollständigte: »Dann hätte ich heute eigentlich mit diesem Caesar telefonieren sollen statt mit Ihnen?«
»Oder mit einem anderen Begleiter. Die Auswahl erfolgt zufällig.«
»Nichts heute Abend ist zufällig«, sprach Klara ihren Gedanken laut aus. Dann, als Erdjan gerade die Fahrertür öffnete, traf sie eine Entscheidung. »Wo wohnt Caesar?«
»Wozu wollen Sie das wissen?«
»Haben Sie nicht gesagt, man müsse sich der Gefahr stellen?«
»Sie klingen nicht danach, als wären Sie heute Nacht in der Lage dazu.«
»Mir bleibt nur noch heute Nacht.«
Laut dem Ultimatum, das der Kalender-Killer ihr gestellt hatte, lebte sie im Grunde schon auf geborgter Zeit.
»Hast du es bis zum dreißigsten November nicht geschafft, die Ehe mit deinem Mann zu beenden, werde ich dich töten, sobald der Tag anbricht.«
Erdjan war wieder eingestiegen, mit ihm eine Dunstwolke aus Bratfett und Ketchupgeruch. Klara bekam Hunger, neben ihrem plötzlichen Tatendrang auch ein ungewohntes Gefühl.
»Wissen Sie, Jules, bei allem Wahn, dem Yannick verfallen sein muss, hat er in einem Punkt vollkommen recht«, flüsterte sie, obwohl Erdjan sie kaum hören konnte. Der Taxifahrer hatte das Radio angeschaltet und einen Elektropop-Song lauter gestellt, in dem jemand, der sich wie Dave Gahan anhörte, von Schmerzen sang, an die er sich gewöhnt habe. Ausgerechnet!
Erdjan summte mit. Offenbar gefiel ihm die merkwürdige Tour, kein Wunder, die Uhr stand bereits auf über dreiunddreißig Euro, und noch immer war kein Ziel in Sicht.
»Ich muss aufhören, mich in die Opferrolle zu fügen.«
»Meine Worte«, stimmte Jules ihr zu.
Klara nickte, euphorisiert von dem Gedanken, dass all das, was heute Abend passiert war, einen Wendepunkt markierte. Sie war noch immer schwach. Noch immer kraftlos. Und sie hatte bestimmt mehr Angst als je zuvor. Aber sie war bereit gewesen zu sterben. Sie hatte sich auf schlimmste Schmerzen bis hin zum Tod eingestellt; erst auf dem Kletterfelsen, dann in der Garage, später im Parkhaus. Und jedes Mal war sie dem Tod entkommen.
»Bis heute Abend dachte ich, mir bleibt ein Fünkchen Selbstbestimmung, wenn ich meinem Leben selbst ein Ende setze. Aber im Grunde hatte ich nur Angst vor weiteren Schmerzen.« Doch die schreckten sie jetzt nicht mehr. Vielleicht weil ihr die Tatsache, noch immer am Leben zu sein, nach all dem, was ihr heute zugestoßen war, wie ein Zeichen erschien. Vielleicht war auch einfach nur das Maß an Grausamkeiten, das eine Frau ertragen konnte, erfüllt. So mussten sich Kriegsberichterstatter fühlen, die so oft im Kugelhagel gestanden hatten, dass sie sich keine Sorgen mehr um die eigene Sterblichkeit machten, wenn sie zum nächsten Einsatz zogen. Nicht, weil sie den Tod nicht fürchteten, sondern weil sie ihn als eine Notwendigkeit akzeptierten.
»Ich habe Menschen gekannt, die aus weit weniger nachvollziehbaren Gründen Suizid begangen haben«, sagte Jules mit seiner beruhigenden, angenehmen Stimme, und zum ersten Mal überlegte sie, wie ihr Begleiter wohl aussehen mochte.
Der Song (es war tatsächlich »A pain that I’m used to«) ging zu Ende, und Klara hörte ein knarzendes Geräusch in der Leitung, als ob Jules ein altes Holzfenster öffnete, was zu den darauf einsetzenden Windgeräuschen passte. Dann stieß er perplex ein »Ach du Scheiße …« aus.
»Was ist los?«, fragte Klara aufgeregt.
»Pestalozzistraße 44, dritter Stock«, hörte sie Jules noch sagen. »Caesars Adresse. Aber rufen Sie die Polizei an, wenn Sie da wirklich hinwollen. Ich fürchte, ich kann Ihnen jetzt nicht mehr helfen.«
»Wieso, was ist passiert?«, fragte Klara, während sie Erdjan ein Zeichen gab, dass sie gleich weiterfahren könnten.
Immerhin hatte sie jetzt eine Adresse.
Von der Höhle des Löwen?
»Jules, reden Sie mit mir!«
»Keine Zeit mehr«, keuchte ihr Begleiter. Er klang wie jemand, der hohe Treppenstufen steigt. »Ich fürchte, ich muss jetzt erst mal jemand anderem das Leben retten.«