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Jules
D er »Geist« ist vielleicht ein Zauberer, dachte Jules, als er das Telefon auf dem Fenstersims liegen sah.
Ein Meister der Sinnestäuschung. Wie ein Illusionist, der mit den Mitteln der Ablenkung arbeitete, wenn er einen starken Druck am rechten Handgelenk ausübte, um dem ahnungslosen Publikumsgast am linken die Armbanduhr zu entwenden.
Weil der menschliche Verstand sich nicht auf mehrere intensive Empfindungen gleichzeitig konzentrieren kann!
So gesehen konnte das Handy auf dem Fenstersims auch nur eine Ablenkung von der wahren Gefahr sein, denn natürlich war es das Erste, was Jules ins Auge gesprungen war, kaum dass er das Fenster geöffnet hatte.
Der Schneeregen hatte nachgelassen, es nieselte nur noch, weswegen er einen guten Überblick über den Fenstervorsprung hatte, der sich im dritten Stock über die ganze Häuserfront zog, hin und wieder von einem Adlerkopf unterbrochen, der alle fünf Meter zur Zierde in den Stein gehauen war. Der Absatz bot einem Menschen genügend Platz, um auf ihm zu stehen, vielleicht sogar, um sich auf ihm langsam fortzubewegen, wenn auch nicht im Winter, wo das Wetter ihn in eine nasse Rutschbahn verwandelt hatte.
Dennoch musste der »Geist« erstaunlich schnell über diesen Weg die Flucht ergriffen und sich an der verbogenen Regenrinne herabgelassen haben, denn sosehr Jules sich auch bemüht hatte, er hatte ihn nirgendwo entdeckt. Nicht im Vorgarten, nicht auf dem Bürgersteig, nicht auf dem Weg zum Seeufer.
Nur das Handy auf dem Sims.
Als Jules es in die Hand nahm, erkannte er, dass es Caesar gehörte. Durch die Bewegung aktivierte sich der Startbildschirm, und Jules konnte im Vorschaubild die erste Zeile einer Textnachricht lesen:
Geh ran. Ich weiß, du hast das Telefon gefun…
Mit der kieksenden Stimme von Klara im Ohr, beugte sich Jules über den Sims.
Ach du Scheiße, entfuhr es ihm, dann blieb ihm nur noch die Zeit, Klara die Adresse zu nennen, während er die Hand nach den Fingern ausstreckte.
Doch er hatte keinen guten Griff, berührte nur die obersten zwei Glieder, die sich um den kalten Stein des Mauervorsprungs gelegt hatten. Er musste wohl oder übel auch nach draußen steigen.
»Wieso, was ist denn passiert? Jules, reden Sie mit mir!«, hörte er Klara fragen.
»Keine Zeit. Ich fürchte, ich muss jetzt erst mal jemand anderem das Leben retten«, stöhnte Jules und schmiss sein Telefon zurück ins Gästezimmer.
Er stieg über das Fensterbrett auf den Sims, kniete sich gegen den Sturm und sah in die Tiefe, während er sich mit einer Hand am Fensterrahmen festhielt, um nicht abzustürzen. Und um einen Anker zu haben, wenn er den Arm desjenigen packte, der verzweifelt an dem Mauervorsprung baumelte. Eine Hand auf der Steinkante, die andere an einem Stromkabel, das der kleine Mann aus dem Putz gerissen hatte.
Herr im Himmel …
Der Einbrecher sah verzweifelt zu ihm hoch, sagte aber nichts, vermutlich schwanden ihm die Kräfte.
Die Augen waren nicht länger blutunterlaufen, sondern ein einziges Feuermeer, so viele Adern waren ihm wegen der Anstrengung schon geplatzt. Jules griff nach der Hand des Fremden am Stromkabel.
Das Kabel hatte sich als Schlaufe um sein Handgelenk gewickelt, zum Glück, ohne diesen zusätzlichen Halt wäre der Kerl längst auf dem Vordach des Eingangs gelandet. Und es machte es einfacher, ihn nach oben zu ziehen. Gemeinsam mit dem Umstand, dass der Kerl ein Fliegengewicht war.
»Hör auf zu strampeln«, schrie er ihn an. Die Lebensgeister des Unbekannten mussten geweckt worden sein und wollten offenbar Salsa tanzen.
Jules fürchtete, bei dem Knacken, den der Rahmen von sich gab, würde er jeden Moment aus der Halterung reißen und mit ihm und dem Einbrecher knapp zwanzig Meter nach unten segeln, doch er hielt der Belastung stand. Dem Zug am Arm, dem Hinüberhieven auf den eisigen Stein.
»Verdammt, wer bist du?«, fragte Jules, der mit dem Unbekannten um die Wette keuchte. Er ließ ihn erst wieder los, nachdem er ihn übers Fensterbrett ins Zimmer gezogen hatte. Das Stromkabel noch immer am blutgestauten Arm. Der Junge, anders konnte Jules ihn nicht beschreiben, sah aus, als wäre er für einen Science-Fiction-Film als Außerirdischer geschminkt worden, so intensiv war die Blaufärbung seines im Winterwind ausgekühlten Gesichts.
Das Nächste, was Jules auffiel, war die Narbe auf der linken Wange. Dann begriff er, dass es keine Narbe war, sondern eine Schlaffalte, so als habe der Einbrecher bis vor Kurzem noch auf einem Kissen gelegen.
Schließlich wunderte sich Jules über sein Alter.
So jung?
»Was zum Teufel willst du von uns?«
Der noch immer stumme Fremde konnte nicht älter als achtzehn sein. Eher jünger, wenn man die Pickel unter dem Oberlippen-Bartflaum als Indiz heranzog.
»Was hast du hier zu suchen?«
Die Antwort, die er bekam, roch nach Salz. Etwas rostig und zähflüssig.
Jules hatte sie nicht kommen sehen. Die Klinge des Brotmessers, die von der Jeans verborgen in den Sneakern des Eindringlings platziert gewesen war und nun unter seinem Rippenbogen steckte.
Jules sackte nach vorne, brachte die Kniescheiben fast zum Zerbersten, als er sich auf sie fallen ließ. Sah das Blut, das auf den Boden tropfte und sich zu einem Rinnsal auf dem Parkett sammelte.
Er wollte dem Geist, der nie ein Geist gewesen war, sondern immer nur eine tödliche Gefahr, noch etwas zurufen, aber ihm fiel schon nicht mehr ein, was und mit welchem Nutzen.
Der Killer mit dem jungenhaften Gesicht löste das Kabel von seinen Händen.
Jules’ letzter Gedanke, bevor er zur Seite kippte, war noch: Ich habe meinem Mörder das Leben gerettet, dann hörte er, wie der viel zu junge Täter aus dem Raum ging. Die Nachbartür zum Kinderzimmer öffnete. Hörte, wie sie sich schloss und Möbelstücke verschoben wurden, wohl weil die Tür blockiert werden sollte.
Fabienne, brüllte er noch den Namen seiner Tochter, aber nur in Gedanken. Ihn quälte die Erkenntnis, schon wieder versagt zu haben. Dann verlor Jules das Bewusstsein.