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Klara
D a hätten Sie auch laufen können«, maulte Erdjan, enttäuscht darüber, dass die lukrative Tour nun doch ein jähes Ende fand. Vom Ku’damm bis zur Pestalozzistraße war es nicht einmal ein Verdauungsspaziergang.
Klara bezahlte die vierzig Euro mit ihrem Handy und hätte viel dafür gegeben, wenn der Taxifahrer ihr den Ausstieg aus seinem Wagen verboten hätte.
Wenn er darauf bestanden hätte, sie doch in ein Krankenhaus zu fahren und nicht vor diesem warm illuminierten Mietshaus aus der Gründerzeit auszusetzen.
Die Mieten in diesem Prachtbau mussten aufs Jahr gerechnet dem Gegenwert eines Mittelklassewagens entsprechen. Falls es sich um Eigentumswohnungen handelte, hatten die, die hier wohnten, es geschafft oder setzten mit einem Millionenkredit alles auf eine Karte.
Klara stieg aus und sah sich um. Versuchte, im cremefarbenen Putz und an den ionischen Säulen einen Anhaltspunkt zu finden, hier schon einmal gewesen zu sein. Fragte sich, ob ihr der Bioladen gegenüber oder das vegane Café bekannt vorkam. Oder das russische Schild im Schaufenster des antiken Lampenladens.
Aber auch die in Messing gefassten Namen auf dem Türschild sagten ihr nichts. Sie konnte allerdings auch keinen Magnus Kaiser entdecken, dafür ein leeres Schild im dritten Stock.
War das das Haus, in dem Johannes zu Yannick mutierte?
In der ich zugleich die schönste und schrecklichste Stunde dieses Jahres erlebte?
Damals war die Eingangstür unten nicht abgeschlossen gewesen, das wusste Klara noch. Sie hatte auf nicht viel geachtet, allerdings hatte sie es merkwürdig gefunden, dass sich in einer so feinen Gegend offenbar niemand Sorgen vor einem unberechtigten Zutritt machte. Die Wohnungstüren waren bestimmt mehrfach gesichert, aber allein die Vorstellung, dass Obdachlose sich hier bei der Kälte im marmornen Treppenhaus niederlassen könnten, ließ Nachbarn in dieser Gegend normalerweise paranoid werden.
Klara musste an den »Professor« vom Savignyplatz denken, der nur einen Steinwurf entfernt bestimmt mit großen Schmerzen im Mund auf den Anbruch des nächsten Tages wartete, und sie wurde traurig.
Ihr Atem ging schwer, als sie die geschwungene Klinke der schmiedeeisernen Tür herunterdrückte, und sie hechelte regelrecht, als sie feststellte, dass auch dieses Haus unverschlossen war.
Mit bis zum Hals klopfendem Herzen trat sie in einen gewölbten Durchgang und ging an verchromten Designer-Briefkästen vorbei zur Treppe. Damals hatte er ihr die Augenbinde erst in der Wohnung abgenommen, weswegen der rote Teppich auf den hölzernen Stufen keine Erinnerungen hervorrufen konnte.
War es der dritte Stock?
Sie nahm ihr Telefon in die Hand und wählte die 110, ließ den Zeigefinger über dem Anruf-Button schweben.
Jules hatte gesagt, sie sollte die Polizei verständigen.
Aber hat er mir nicht auch gesagt, dass die Polizei bei häuslicher Gewalt keine Hilfe ist?
Nun, vielleicht galt das nicht im Fall eines Killers, der einen mit der Androhung entsetzlicher und zum Tode führender Qualen dazu bringen wollte, seine Ehe zu beenden. Aber was, wenn sie sich irrte? Was, wenn dieser Caesar, der hier wohnte, gar nichts mit ihrem Martyrium zu tun hatte?
Sie war schon einmal mit einer unglaubwürdigen Aussage aufgefallen; wenn sie jetzt die Beamten zu einem an den Haaren herbeigezogenen Einsatz zitierte, hätte sie für die Zukunft jegliche Glaubwürdigkeit verspielt.
Wenn ich denn noch eine Zukunft habe.
Im dritten Stock vor der schweren, weiß gebeizten Eichenholztür angekommen, musste Klara beinahe über ihre Naivität lachen. Sie war völlig unvorbereitet.
Was willst du denn jetzt machen, du blöde Kuh?
Etwa klingeln?
Oder unter der Fußmatte nach einem Zweitschlüssel suchen?
Wie im Hollywoodfilm im Kopf Zahlenkombinationen durchgehen, um die Alarmanlage, die es hier gewiss gab, mit einem Zufallstreffer in letzter Sekunde auszuschalten?
So ein Quatsch. Vielleicht sollte ich auch einfach nur die Tür …
Klara sog die Luft ein, als wollte sie für eine Weile unter Wasser tauchen. Mit der Atmung setzte für eine Sekunde auch ihr Denkvermögen aus. Wie sie es drehte und wendete – was sie hier gerade erlebte, konnte kein Zufall sein.
Nichts in dieser Nacht geschieht zufällig!
Denn die unwahrscheinlichste aller Varianten war tatsächlich eingetreten. Die Tür der Wohnung im dritten Stock der Pestalozzistraße 44 war unverschlossen und ließ sich mit sanftem Druck nach innen öffnen.