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Jules
D ie Ohnmacht hatte zwei Tage gedauert. Vielleicht waren es auch nur zwei Sekunden, Jules hatte keinerlei Zeitempfinden mehr. Es war ihm mit dem Blut verloren gegangen, das eine Pfütze unter seinem Körper im Gästezimmer gebildet hatte. Als er wieder zu sich kam, mit einem noch nie da gewesenen Kältegefühl überall, hatte er zunächst wichtige Sekunden damit verplempert, dem Rinnsal seines Blutes auf dem Eichenholzparkett hinterherzustarren. Es dauerte eine Weile, bis ihm klar wurde, dass sein Blut exakt auf das Handy zulief, das er vor seiner Rettungsaktion ins Zimmer zurückgeworfen hatte.
Weshalb hat der junge Messerstecher es nicht an sich genommen?
Vielleicht weil er gedacht hatte, dass ihm nicht mehr zu helfen wäre.
Jules begriff selbst nicht, wie er mit einer solchen Stichwunde in der Seite überhaupt noch atmen konnte, aber offensichtlich waren keine wichtigen Organe getroffen.
Er griff sich ein kleines Kissen, das von der umgestürzten Matratze gefallen war, riss den Bezug ab und presste ihn auf die Wunde. Dann stand er auf.
Schwankend tastete er sich am Schrank bis zur Tür, wankte über den Flur zum Ausgang. Mit fiebrig zitternden Fingern rutschte er mehrfach ab bei dem Versuch, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, bis es ihm endlich gelang, die Wohnungstür aufzuschließen.
Wenn sie flüchten mussten oder wenn es ihm gelang, den Messerstecher in die Flucht zu schlagen, sollte die Tür bereits offen stehen.
Er wählte die 110, hörte aber wieder nur die frustrierende Ansage von vorhin:
»Bitte warten! Polizeinotruf Berlin. Zurzeit sind alle Notrufleitungen belegt. Bitte, legen Sie nicht auf. Please hold the line. Police Emergency Call Department. At the moment …«
Ungeduldig legte er wieder auf und drückte die Türklinke des Kinderzimmers.
Vom Schüttelfrost erfasst, begann er zu halluzinieren.
Sah Valentin auf dem Obduktionstisch. Und Fabienne direkt daneben. Gestorben durch die Hand eines Irren, der ihr mit einem Messer die Kehle durchschnitt.
»Fabienne!«, brüllte er durch die Tür, die wie erwartet blockiert war.
Unter normalen Umständen hätte er sich so lange dagegengeworfen, bis er den Schrank, das Bett oder die anderen Möbel zur Seite gedrückt hatte, und wenn es ihn eine ausgekugelte Schulter gekostet hätte. Aber mit der Stichwunde war das nicht möglich.
Er rief: »Kleines, hab keine Angst«, obwohl er selbst panisch war. Er dachte daran, wie er Fabienne zum ersten Mal alleine zur Schule hatte gehen lassen. Wie er sie den ganzen Weg verfolgt hatte, ohne dass sie ihn hatte sehen können. Wie er sich geschworen hatte, sie vor aller Unbill dieser Welt zu beschützen.
Und wie er versagte.
»Wenn du ihr nur ein Haar krümmst, bring ich dich um!«, schrie er durch die Tür.
»Sag mir, was du willst, und du bekommst es. Aber lass das Mädchen in Ruhe!«
Der Kissenbezug war bereits vollgesogen, frisches Blut tropfte zu Boden, bildete einen weiteren roten Flusslauf auf dem Holz, lief den Flur zurück.
Jules sah auf seine Socken und nickte.
Das Rinnsal wies ihm den Weg.
Er traf eine Entscheidung und hastete zurück zum Gästezimmer. Zog sich die Socken aus, die ebenfalls blutig waren, denn Splitter der Glühlampe steckten ihm noch im Ballen und in der Hacke.
Es war ein Glück, dass er diesen Schmerz nicht spürte, sonst wäre er abgerutscht. Wahrscheinlich betäubte die eisige Kälte der gefrorenen Steine des Mauervorsprungs jede Wunde.
Jules hatte sich ein zweites Mal über das Fensterbrett geschwungen, hielt ein zweites Mal das Elektrokabel, das ihn auf seinem Weg an der Häuserwand entlang mehr behinderte als absicherte.
Sein Handy, das er sich unter dem Pulli in die Hemdtasche gesteckt hatte, klingelte, aber das war jetzt nebensächlich. Erst einmal musste er versuchen, bei dem Schritt über den steinernen Adler nicht zu sterben.
Er stand mit dem Rücken zur Straße, auch wenn er es in Filmen anders gesehen hatte, aber er wollte lieber den gemaserten Putz als einen Abgrund vor der Nase haben.
Seine Hände lagen flach auf dem Gemäuer, die Füße schob er zentimeterweise zur Seite.
Wie ein Walzer auf Glatteis.
Jemand, der ihn von unten beobachtete, musste ihn entweder für einen Einbrecher oder einen Selbstmörder halten. Der Wind riss an seiner Kleidung, aber er kam voran.
Endlich auf Höhe des Kinderzimmers angelangt, stellte Jules fest, dass das Risiko abzurutschen nicht das größte Problem war.
Denn was sollte er jetzt tun?
Das Fenster war natürlich verschlossen. Und Jules konnte keinen Anlauf nehmen, um von außen ins Zimmer zu springen.
Er presste beide Hände an die Scheibe und sah hindurch.
Eine kleine Kommode war schräg unter der Türklinke verkeilt und verhinderte den Zugang.
Da tauchte das Gesicht des Jungen vor Jules am Fenster auf, und das hätte ihn beinahe das Gleichgewicht gekostet.
Großer Gott …
Jules schlug mit der Faust gegen die Scheibe, die, wenn auch nur einfach verglast, zu dick war, um sie ohne einen spitzen Gegenstand zu zerstören.
»Lass sie in Ruhe!«, brüllte er und schlug erneut zu. Wieder ohne Erfolg. Jules meinte in den Augen zu lesen, wie der viel zu junge Killer abwägte. Ob er das Fenster öffnen und ihn hinunterstoßen sollte. Oder ob das Risiko zu groß war, ihm so Einlass zu verschaffen.
Der Fremde wandte sich ab, und Jules beobachtete eine beunruhigende Bewegung. Er sah, wie der Kerl sich mit dem Messer in der Hand zum Bett beugte. Der Regen setzte wieder ein. Heftiger denn je.
Vor Jules’ Auge verwischten die Bilder. Er sah nur noch einen großen Körper, der einen kleinen, reglosen Körper aus dem Bett zu heben schien.
»Fabienne!«, schrie er, schon wieder klingelte sein Handy, und das lieferte ihm die Lösung.
Hastig griff sich Jules unter den Pulli und fingerte es aus der Brusttasche. Er geriet ins Wanken, weil er beinahe Dajanas Abschiedsbrief mit hinausgezogen hätte, was er selbst in dieser Extremsituation nicht zulassen wollte. Es kostete ihn ein, zwei wertvolle Sekunden, und mit dem Bewusstsein, dadurch vielleicht ein weiteres Leben zerstört zu haben, schlug er mit der Kante des Telefons gegen das Fenster. Einmal, zweimal, mehrfach, bis er dem dicken Glas einen Bruch zugefügt hatte, der ausreichte, dass er sich mit der Schulter dagegenwarf. Mit dem gesamten Gewicht krachte er durch die Verglasung ins Kinderzimmer hinein.