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Klara
T
ief ins Dunkel späht’ ich lange«, flüsterte Klara, während sie sich umdrehte. »Zweifelnd, wieder seltsam bange. Träume träumend, wie kein sterblich Hirn sie träumte, je vorher.«
Das Gedicht von Edgar Allan Poe beruhigte sie.
Es vertrieb Yannicks Stimme aus ihrem Kopf. Und jene Situation, die in dieser Strophe beschrieben wurde – ein alter Mann öffnet um Mitternacht seine Haustür und blickt ins Leere, obwohl es doch gerade noch geklopft hat –, hätte sie in diesem Moment auch sich selbst gewünscht.
Dunkel dort – nichts weiter mehr.
Auch sie hätte gerne ins Leere geblickt. Niemanden in der Tür zum Schlafzimmer stehen sehen. Keinen Yannick. Keinen Martin, keinen Mann, der ihr etwas antun wollte. Obwohl sie doch die schweren Schritte hatte kommen hören.
Weswegen er natürlich anwesend war. Selbstsicher lächelnd, wenn auch eine Spur überrascht, als wäre er verwundert, noch so spät hier auf sie zu treffen.
»Yannick«, entfuhr es ihr bei seinem vertraut verhassten Anblick.
»Na sieh mal einer an«, sagte er und lachte.
Wie in Trance drückte Klara auf das Telefonsymbol ihres Smartphones und wählte die 110. Dann überlegte sie, ob sie es schaffen würde, den Dolch von der Wand zu reißen, bevor Yannick ihr zuvorkam, und entschied sich dafür, das Risiko nicht einzugehen. Sie rannte ins angrenzende Bad, am Wasserbett vorbei, in dem sie in der transparenten, nunmehr grünlich illuminierten Matratze einen Hüftknochen schwimmen sah. Sie wollte sich übergeben. Aber sie riss sich zusammen, schlug die Tür zum Bad zu und hatte Glück. Keine Warteschleife, sie hatte sofort einen Beamten am Apparat. »Kommen Sie schnell, Pestalozzistraße 44, dritter Stock.«
Sie versuchte, den Riegel umzulegen, aber Yannick war schneller und trat die Tür auf.
»Er will mich töten.«
Sie wich auf den Fliesen zurück.
Yannick blieb im Türrahmen stehen, wie damals, als er aus dem Badezimmer gekommen war, nur dass er jetzt in das Badezimmer hineinblickte, während sie in der Dusche kauerte. Der Dolch lag wie erwartet in seiner Hand, er hatte ihn bereits vom Schaft befreit.
Diesmal wird er es nicht dabei belassen, mir die Nasenflügel aufzuschlitzen.
Yannick blickte von oben auf sie herab. Beobachtete sie wie ein Zuschauer im Kino, der zwar interessiert ist, wie die Geschichte weitergeht, für den der Ausgang des Films aber keinerlei Bedeutung hat.
»Was ist der Grund Ihres Anrufs?«, wollte der Polizist wissen.
»Ich werde bedroht«, sagte sie, das Handy fest ans Ohr gepresst, und Yannick runzelte amüsiert die Stirn.
»Von wem denn, Schätzchen?«, fragte er flüsternd. So leise, dass seine Stimme garantiert nicht von den Aufnahmegeräten der Polizei mitgeschnitten wurde. Deswegen hielt er Abstand.
Noch.
»Ich tu dir nichts«, log er. »Das ist nicht mal meine Wohnung. Ich bin weg, bevor die Bullen auch nur losgefahren sind.«
»Der Kerl hat eine Waffe«, redete Klara weiter in ihr Handy. »Er will mich töten.«
Yannick, der still in der Tür stand, grinste noch breiter. »Du hast echt nichts begriffen, du dumme Schlampe. Ich
war niemals die wahre Bedrohung für dich. Für mich warst du nur ein netter Zeitvertreib. Ich hätte dich niemals getötet, aber jetzt bleibt mir keine andere Wahl!«
»Können Sie sich in Sicherheit bringen?«, fragte der Mann am Notruf eine Spur zu unprofessionell. Er klang nervös.
»Nein, vielleicht. Ich weiß nicht«, stotterte Klara, jederzeit damit rechnend, dass Yannick – oder Caesar oder Jo, wie auch immer der Psychopath wirklich hieß – ihr das Telefon aus der Hand riss.
Doch noch bewahrte er Ruhe. Weswegen Klara weiter ihre einzige Chance nutzte und aufschrie, obwohl es dafür eigentlich keinen Grund gab, denn ihr mörderischer Erpresser hatte sich noch immer nicht bewegt.
Trotzdem rief sie weiter: »Oh mein Gott, er kommt. Er hat mich gefunden, er …«
Dabei griff sie nach hinten zu ihrem Gürtel, zog Hendriks Waffe, die sie im Parkhaus an sich genommen und zwischen Hosensaum und Rücken geklemmt hatte, und richtete sie aus.
Und feuerte Yannick dreimal in die Brust.