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S ind Sie noch dran, hallo, geht es Ihnen gut?« Der Polizist am Notruf klang verständlicherweise noch aufgeregter als zuvor, jetzt, da er die Schüsse gehört hatte.
Klara versuchte, ihm eine Antwort zu geben. Öffnete den Mund, bewegte die Zunge, hörte sich selbst wie unter einer Glocke sprechen.
»Ja, ja, ich bin noch da. Aber nichts ist gut, oh Gott, es wird nie wieder gut.«
Sie trat einen Schritt vor, stand direkt vor Yannick, der sie erstaunt anblickte. Er war zu Boden gesackt, lehnte an der Handtuchheizung des Bads. Sein rechter Arm zitterte. Ein Handy hatte sich aus seiner Hand gelöst und lag umgedreht auf den Fliesen, die sich bald rot einfärben würden.
Klara schnappte panisch nach Luft. Einmal, zweimal, immer schneller. Sobald sie die Lungen füllte, pausierte das sinusartige Fiepen in ihrem Ohr, das die Explosionen der Handfeuerwaffe ausgelöst hatten.
»Hallo? Bleiben Sie ruhig. Wir sind auf dem Weg zu Ihnen.«
»Danke!«, sagte sie und begann hemmungslos zu weinen.
»Es war Notwehr«, sagte sie und glaubte selbst an diese Lüge, die keine Lüge war, denn hätte sie es nicht getan, würde sie jetzt hier an Yannicks Stelle liegen. »Ich hatte keine andere Wahl.«
Sie brach zusammen. Es war keine Scharade, kein Schauspiel. All ihre jahrelang angestauten negativen Emotionen entluden sich. Sie musste an Martin denken, an das Video im Le Zen, an die vielen gebrochenen Knochen, die Blutergüsse, die Demütigungen; daran, dass er sie heute »versteigert« hatte. Die Last der Vergangenheit lag wie Blei auf ihren viel zu kleinen Schultern. Sie schaffte es kaum, über den sterbenden Mann zu ihren Füßen zu steigen, der mit ihr geschlafen hatte, um danach ihr Todesdatum mit ihrem Blut an die Wand zu malen. Als sie zurück im Schlafzimmer war und die sterblichen Überreste der Opfer des Kalender-Killers in dem Wasserbett schwimmen sah, brachen alle Dämme.
Klara stotterte, stammelte, schrie und weinte, fauchte wie eine wilde Katze und gurgelte wie eine Ertrinkende. Nichts von dem, was sie sagte, ergab irgendeinen Sinn.
»Wir sind gleich bei Ihnen«, versuchte der Polizist an der 110 sie in einer Atempause zu beruhigen, doch es war nicht seine Stimme, die sie innehalten ließ.
Sondern das Anklopfgeräusch in ihrem Handy, das sie zunächst mit ihrem eigenen, rasenden Herzschlag verwechselt hatte.
Klara wischte sich die Tränen mit dem Unterarm beiseite und sah aufs Display.
Ein Eimer Eiswasser hätte keine ernüchterndere Wirkung haben können.
Sie wusste: Wenn von dieser Nummer um diese Uhrzeit ein Anruf einging, so lange nach Mitternacht, musste etwas noch Furchtbareres passiert sein als das, was sie gerade durchlebt hatte.