62
H allo, Frau Vernet?«
»Ja.«
Klara rannte bereits. Aus der Wohnung, zurück ins Treppenhaus. Sie hörte keine Sirenen, also hatte sie vielleicht noch eine Chance zu fliehen.
Von einem Tatort zum nächsten.
»Was ist passiert?«
Klara eilte die Treppenstufen hinunter. An einer Frau im Nachthemd vorbei, die von den Schüssen geweckt worden sein musste und nun kreidebleich in ihre Wohnung zurückwich, als Klara an ihr vorbeigerannt kam.
»Elisabeth Hartmuth, ich bin Vigos Mutter«, sagte die Frau unnötigerweise. Klara hatte ihren Kontakt unter »BABYSITTER « abgespeichert. Vigo lebte mit seiner Mutter im Hinterhaus.
»Was ist mit Amelie?«, drängte Klara. Frau Hartmuth war eine sehr gutmütige, aber entsetzlich träge Frau. Alles, was sie tat, geschah mit einer fast unerträglichen Behäbigkeit. Sie sprach langsam, ging langsam, und Martin hatte oft gelästert, sie werde auch beim Denken von Vigo überholt.
»Nun ja, das ist unter anderem der Grund meines Anrufs. Ich bin mir nicht sicher, ich glaube, ich muss die Polizei rufen.«
»Wieso? Was ist passiert?«
Klara stand wieder auf der Pestalozzistraße. Noch immer keine Sirenen. Kein Blaulicht. Nur ein leichter Nieselregen, der auf dem Pflaster gefror und jede Bewegung in eine Schlitterpartie verwandelte.
»Vigo ist völlig außer sich. Er kam barfuß runter, überall Blut an den Händen und auf den Kleidern. Vigo, was … nein, lass das bitte …«
Offensichtlich hatte der Sechzehnjährige nicht auf seine Mutter gehört, und das Telefon lag nun in seiner Hand. Er informierte Klara sehr viel schneller und klarer als seine Mutter: »Sie müssen sofort nach Hause kommen, Frau Vernet.«
Klara rannte um die Straßenecke. Rutschte auf dem ungestreuten Gehweg aus, stand wieder auf, lief weiter. Ein lachendes Pärchen hielt sich kichernd aneinander fest, versuchte bei dem Blitzeis nicht umzufallen, und beide verstummten, als sie Klara sahen. Weinend, humpelnd, noch immer mit der Waffe in der Hand, wie ihr erst jetzt auffiel, als sie ihr Spiegelbild in einer Werbevitrine auf dem Gehweg sah.
Klara musste sich zwingen, nicht in ihr Telefon zu brüllen. »Was ist mit Amelie?«, stellte sie die einzige Frage, die noch für sie zählte.
Und bekam von Vigo eine der entsetzlichsten Antworten, die eine Mutter bekommen kann: »Ich weiß es nicht.«
Klara blieb stehen. Starrte in das hell erleuchtete Schaufenster einer Kaschmir-Boutique, in der es keinen Mantel gab, der sie je wieder würde wärmen können, wenn sich ihre entsetzlichsten Befürchtungen bestätigten.
»Sie war schon gegen acht im Bett«, sagte Vigo. »Ich habe mich hingelegt, im Gästezimmer, es war bestimmt nach zehn, da bin ich von einem Knall aufgeschreckt worden. Erst hab ich gedacht, Amelie wär ein Glas runtergefallen. Also bin ich aufgestanden und wollte in die Küche, doch da stand ein Fremder und hat telefoniert.«
»Wer?«
»Das weiß ich nicht. Ein Einbrecher, glaube ich. Erst hab ich gedacht, es wär Ihr Mann oder ein Freund, doch dann hat er gesagt: ›Alle in diesem Haus sind dem Tod geweiht.‹ Zum Glück hat er mich da noch nicht bemerkt.«
Klara wollte schreien, doch eine Urangst, wie sie wohl nur eine Mutter fühlen kann, die kurz davor ist, das Teuerste in ihrem Leben zu verlieren, schnitt ihr die Kehle zu.
»Ich hab ja kein Handy und Sie kein Festnetz, Frau Vernet.«
Ausgerechnet Martin hatte es immer wieder problematisiert, dass der Junge kein Mobiltelefon hatte, aber sie hatte sich damit beruhigt, dass er nur durch den Hof zu seiner Mutter gehen musste, wenn irgendetwas mit Amelie war.
»Also wollte ich zu meiner Mutter, Hilfe holen.« Die Stimme des Babysitters überschlug sich. »Aber der Typ hat gehört, wie der Schlüssel in der Tür geklappert hat. Also hab ich mich vor ihm versteckt, bin von Zimmer zu Zimmer, immer dort, wo er nicht war. Hab mir aus dem Bad Schlaftabletten besorgt, um sie ihm in den Saft zu rühren. Hab mich sogar mit einem Messer bewaffnet, doch dann fing Amelie an zu schreien, und der Typ ist mit einer Waffe in ihr Zimmer. Oh Himmel, ich wünschte, ich hätte Amelie beschützen können.«
Klara schloss die Augen. Hörte einen Lieferwagen vorbeifahren, spürte neben dem Niesel in ihrem Gesicht dicke Wassertropfen im Nacken, die von irgendeinem Baldachin über ihrem Kopf tropften, und war wie gelähmt. Unfähig, auch nur einen Schritt zu tun.
»Sie müssen mir glauben, ich wollte Amelie nicht alleine lassen. Gerade heute, ich glaube, es ging ihr nicht so gut. Doch es ging nicht anders, er wollte mich töten, um Himmels willen, ich hab mich unter dem Bett versteckt, doch er hat mich gefunden. Da hab ich versucht, über das Fenster nach unten zu kommen. Es tut mir so leid, Sie müssen wirklich sofort nach Hause!«
Er sagte es zum zweiten Mal, und mehr musste sie nicht hören. Das war ihr Stichwort.
Nach Hause.
Klara legte auf, schlitterte weiter Richtung Kantstraße. Auf der Herfahrt waren sie doch an einem Taxistand vorbeigekommen, oder nicht?
Zur Sicherheit öffnete sie im Telefon ihr Anrufregister. Scrollte zu den ausgegangenen Anrufen, denn erst gestern hatte sie ein Taxi zu sich nach Hause an den Lietzensee bestellt. Sie musste also nur auf Wahlwiederholung drücken, was schneller ging, als die Nummer zu googeln.
Okay, da ist sie ja schon!
Wieder kam sie ins Schlittern, doch diesmal hielt sie ihr Gleichgewicht.
Taxiruf Berlin. Gleich die zweite ausgehende Nummer. Nach etwa zwanzig Versuchen, die sie vorhin verbraucht hatte, um Jules’ Handy zu erreichen.
Ach Jules …
Das Bewusstsein, schon wieder vor einer Aufgabe zu stehen, die sie alleine nicht bewältigen würde, versetzte ihr einen tiefen Stich.
Sie schluchzte. Dachte an ihren Begleiter, den sie jetzt dringender brauchte denn je.
Auf meinem Heimweg.
Dem gefährlichsten Weg der Welt, wenn man eine Frau war.
Klara hatte die Kantstraße erreicht, sah sich nach Taxen um, entdeckte den Stand, an dem zwei Fahrzeuge warteten.
Sie musste nur über die Ampel, noch wenige Meter, und doch hielt sie inne. Erstarrte wie eine dieser Touristenattraktionen, die sich so lange nicht bewegten, bis man Geld in ihren Hut warf.
Die Anrufliste, dachte sie.
Etwas an ihr war falsch.
Wie kann der Taxiruf von gestern bereits die zweite Nummer sein, die ich wählte?
Klara stand auf dem Mitteldamm der Kreuzung. Hielt sich noch einmal das Display vor die Augen. Rieb den Schneeregen weg, der auf dem Bildschirm zerplatzte.
Und fand ihn nicht.
Den Anruf beim Begleittelefon!!!
Mit dieser Erkenntnis fühlte Klara etwas in sich zersplittern.
»Kein Zufall«, krächzte sie, während das erste Taxi am Stand losfuhr, ohne dass sie die Kraft gefunden hatte, auch nur den Arm zu heben.
Nichts von dem, was in den letzten Stunden passiert war, war zufällig geschehen.
Nicht der Einbruch in Martins Auto, der dazu gedient hatte, an die Haustürschlüssel ihrer Wohnung am Lietzensee zu kommen. Und ganz sicher nicht, dass es ausgerechnet Jules gewesen war, mit dem sie heute am Begleittelefon gesprochen hatte.
Klara drückte auf Wahlwiederholung und fühlte sich wie in einem Traum, aus dem es nie wieder ein Erwachen geben würde.
Das ist mein Fegefeuer.
Bis zur Unendlichkeit in einem Gespräch mit einem Begleiter gefangen, der ihr immer und immer wieder die schreckliche Wahrheit erklärte, die zu begreifen sich ihr Verstand bis in alle Ewigkeit weigern würde.
Egal, wie gut Jules ihr den Albtraum gleich beschreiben würde.