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Jules
E r saß im Dunkeln auf dem Küchenfußboden. Sämtliche Lichter in Klaras und Martins Wohnung waren gelöscht, die Vorhänge zugezogen. So konnte er sich besser konzentrieren. Besser gegen den Schmerz atmen, den der Junge ihm mit dem Messer zugefügt hatte.
Viel Zeit blieb ihm nicht mehr, das wusste er, nachdem er sich nun schon den dritten Waschlappen auf die Stichwunde gepresst hatte und der Blutfluss nicht weniger wurde.
Da kam es ihm ganz recht, dass jetzt alles sein Ende fand. Und Klara ihn so schnell zu erreichen versuchte.
»Was ist mit Amelie?«, stellte sie logischerweise die einzige Frage, die eine Mutter in ihrer Lage interessieren durfte, kaum dass er den Anruf entgegengenommen hatte.
Als ehemaliger Vater widerstrebte es Jules, sie auf die Folter zu spannen, aber es würde vielleicht keine weitere Gelegenheit mehr geben, miteinander zu sprechen, und er musste es einfach wissen: »Wie haben Sie es herausgefunden?«
»Ich will wissen, was …?«
»Ich sage es Ihnen gleich. Sie bekommen alle Antworten, Klara. Ich schwöre. Aber erst, wenn Sie mir sagen, woher Sie es wissen.«
Sie stand im Freien. Autos rauschten im Hintergrund an ihr vorbei. Mit Menschen hinter dem Steuer, die sich nach der heulenden Frau am Straßenrand sicher nicht einmal umdrehen würden.
Was für eine Schande.
Wenn New York die Stadt war, die niemals schlief, dann war Berlin der Ort, an dem Jules nie wieder aufwachen wollte.
»Mein Anruf war kein Versehen«, sagte Klara endlich.
»Nicht?«
»Nein. Mein Telefon hat sich nicht bei meiner Kletterpartie in der Hosentasche entsperrt. Ich habe nicht zufällig beim Begleittelefon angerufen.«
»Sondern?«
»Sie waren das. Sie haben mich angerufen, Sie Scheißkerl. Und jetzt will ich wissen, warum. Was ist mit Amelie?«
Jules nickte anerkennend. »Bravo. Ich habe allerdings gedacht, Sie kommen früher drauf.«
»WAS IST MIT MEINER TOCHTER
Klara brüllte jetzt, und Jules bestrafte sie mit dem Schlimmsten, was er ihr antun konnte.
Er legte auf.
Drei Sekunden später vibrierte es schon wieder in seiner Hand.
»Können wir jetzt in Ruhe sprechen?«
»Nein, ja, ich bin nicht …«
»Sie sind aufgeregt, ich verstehe das.«
Ich selbst bin vielleicht auch nur so ruhig, weil ich schon einen Liter Blut verloren habe.
»Hören Sie mir gut zu, denn das ist jetzt sehr wichtig. Sie haben recht, Sie haben mich nicht angerufen. Ich habe Ihre Nummer gewählt.«
»Warum?«
»Weil ich Sie sprechen wollte. Hätten Sie es mir nicht so einfach gemacht und gedacht, es wäre ein Versehen gewesen, hätte ich behauptet, dass wir vom Begleittelefon bei besonders labilen Menschen manchmal einen Rückruf starten, wenn wir die Nummer kennen.«
»Sie widerliches Schwein, was spielen Sie für ein krankes Spiel? Was soll das?«
Jules öffnete den Mund, musste aber mit seiner Antwort kurz pausieren, weil ihm der stechende Schmerz in der Seite kurz den Atem raubte.
»Das ist kein Spiel«, sagte er schließlich. »Es ist bitterer Ernst. Haben Sie Yannick getroffen?«
Die Frage brachte sie hörbar aus dem ohnehin schon labilen Gleichgewicht.
»Yannick, wie … ich …«
»Ehrliche Antwort. Stammeln Sie nicht so rum, sondern reißen Sie sich zusammen. Haben Sie ihn getroffen.«
»Ja.«
»Und kam es zu einem Kampf?«
»So ähnlich.«
»Lebt er noch?«
Sie stotterte. »Ich habe, also … Nein, ich …«
Jules grinste zufrieden. Die erste gute Nachricht seit langer, langer Zeit. »Herzlichen Glückwunsch. Sie haben es geschafft.«
Klara brüllte wieder: »Das ist kein Grund zur Freude, das ist das Schlimmste, was ich je in meinem Leben tun musste!«
»Nein, es ist das Beste«, widersprach ihr Jules. »Glauben Sie mir, Klara. Mein Vater hat den Tod verdient.«