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Jules
Z ehn Minuten. Eine Viertelstunde vielleicht, wenn er Glück hatte. Auch wenn es sich so angehört hatte, als wäre sie gerade von der Polizei festgenommen worden. Klara würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um nach Hause zu kommen. Notfalls mit dem Streifenwagen, der sie aufs Revier bringen wollte. Es gab keine größere Urgewalt als Eltern, deren Kind in Gefahr war.
Jules wusste also, ihm blieb nicht mehr viel Zeit, außerdem war es besser, in Bewegung zu bleiben, wenn er nicht gleich hier sterben wollte.
Auf dem Küchenfußboden.
Er stützte sich auf die Knie, dann zog er sich an der Kücheninsel hoch, bis er aufrecht stand. Schwankend tastete er sich zurück zum Kinderzimmer. Öffnete die Tür.
Sah seinen eigenen Atem.
Die Vorhänge, die er vor der zerstörten Scheibe zugezogen hatte, blähten sich im Wind. Das Zimmer kühlte mit der gleichen Geschwindigkeit aus wie sein Körper.
»Sorry, meine Kleine. Das ist heute Nacht ein bisschen aus dem Ruder gelaufen, schätze ich.«
Er schaltete ihre Nachttischlampe an, eine pinkfarbene Elsa-Figur mit warmem Licht. Amelie kroch noch weiter an die Wand zurück und versteckte den Kopf wieder unter der Bettdecke.
Sie fror. Aber sie wollte ihn natürlich auch nicht länger ansehen. Kein Wunder, er konnte es ihr nicht verdenken.
Jules trat an ihr Bett, und sie zog sich noch weiter zurück. Er versuchte, wenigstens mit Worten zu ihr durchzudringen.
»Ich hatte einen schlimmen Vater, so wie du, Amelie. Und meine Mutter war schwach. So wie deine. Aber heute hat sie Mut und Stärke bewiesen.«
Er streichelte ihr durch die Decke den Kopf, spürte, wie sie verkrampfte.
»Tut mir leid.«
Er löste sich von dem Bett und schwankte zur Tür. Erschöpft von der Nacht. Von dem Kampf mit dem Unbekannten. Und vom Leben.
Gleichzeitig spürte er etwas völlig Ungewohntes. Das zufriedenstellende Gefühl eines lang ersehnten Erfolgs, der sich endlich eingestellt hat.
Im Flur hielt er noch einmal inne, ging einen Schritt zurück und sah Amelie zum ersten Mal direkt in die Augen. Sie hatte die Bettdecke vom Kopf rutschen lassen. Hatte ihm nachgeschaut, wahrscheinlich um sicher zu sein, dass er wirklich weg war.
Ihre Augen waren so groß und unschuldig und von einer tiefen Traurigkeit, die sie von nun an nie wieder vollständig verlieren würde.
»Es tut mir wirklich leid«, sagte er noch einmal zu ihr. »Ich weiß, heute verstehst du das alles noch nicht. Und ich kann auch nicht mit Bestimmtheit versprechen, dass du mir eines Tages danken wirst, denn du wirst nicht wissen, vor welcher Hölle ich dich bewahrt habe. Außer deine Mutter erklärt es dir einmal.«
Er hielt kurz inne, dann verabschiedete er sich mit der vielleicht wichtigsten Warnung, die er ihr noch mit auf den Weg geben konnte: »Was immer geschieht, Amelie. Bitte geh nicht ins Badezimmer.«
Mit diesen Worten machte er sich selbst auf den Weg dorthin.
Dort angekommen, öffnete er die Tür, prüfte noch einmal den Puls von Martin, und als er sicher war, dass er nicht länger am Leben war, tauchte er die eigene Hand in die Blutlache auf den Bodenfliesen. Er hatte zweimal mit dem Brotmesser zugestochen, deutlich tiefer als der jugendliche Einbrecher, dessen Anwesenheit und Absichten er sich vielleicht nie würde erklären können.
Jules sah auf die Uhr.
Es war 2 Uhr 34. Der dreißigste November.
Und dieses Datum schrieb er mit Martins Blut an seinen Händen an die Badezimmerwand. Mit der ihm eigenen, unverkennbaren Handschrift. Die Ziffer 1 am oberen Ende verschnörkelt, wodurch die Zahl, die er bereits bei seinem ersten Mord an die Wand geschrieben hatte, mit etwas Fantasie wie ein Seepferdchen aussah.