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Klara
Drei Wochen später
N
ah am Wasser.
Es gab wohl kein Café mit einem passenderen Namen als dieses in der Knesebeckstraße.
Klara beobachtete, wie Amelie in einer Spielecke, die die Wirtin heute extra für die Kleine eingerichtet hatte, mit einem Zeichenblock beschäftigt war, und hätte schon wieder losheulen können.
Vor Liebe.
Und vor Erleichterung, sie nicht verloren zu haben, obwohl es doch so viele Gründe gegeben hatte, dass sie ihre Tochter niemals wiedergesehen hätte. Allen voran ihre eigenen Pläne. Um ein Haar hätte sie ihrem Leben ein Ende gesetzt, bevor Martin oder Yannick es geschafft hätten.
»Hören Sie mir noch zu?«
»Was?«
Sie sah von ihrer Tochter wieder zu dem Mann, der ihr am Tisch gegenübersaß.
Er saß im Rollstuhl und sah tatsächlich älter aus mit seinem Bart, aber Magnus Kaiser hatte keinerlei Ähnlichkeit mit Yannick. Nicht einmal entfernt.
Caesar war bestimmt zwanzig Jahre jünger, hatte längere, viel hellere Haare und wirkte trotz seiner körperlichen Behinderung agiler. Vor seinem Unfall musste er ein wahrer Sportfanatiker gewesen sein.
»Ja, entschuldigen Sie bitte. Meine Tochter war bis vor ein paar Tagen in einer sehr schlimmen Phase. Seit dem Tod ihres Vaters hat sie kaum gegessen, nur wenig getrunken und ständig Albträume gehabt. Für mich ist es wie ein Wunder, dass es ihr gerade so gut geht.«
»Das verstehe ich.« Caesar rührte in seinem Milchkaffee herum.
Irgendetwas lag ihm auf dem Herzen, sonst hätte er sie nicht so hartnäckig um ein Treffen gebeten. Aber in den letzten Tagen hatte Klara so viel mit Anwälten und Aussagen und ihrem Umzug zu tun gehabt, dass sie nicht dazu gekommen war, sich mit ihm zu verabreden. Jetzt, wo klar war, dass sie bis zum Prozessbeginn nicht ins Gefängnis musste (und es laut Auskunft ihres Strafverteidigers Robert Stern auch ziemlich unwahrscheinlich war, dass sie es jemals müsste, wenn sie bei ihrer Notwehrdarstellung blieb), hatte sie endlich die innere Ruhe gefunden, sich mit den Hintergründen von Jules’ Tat zu beschäftigen. Und einem Treffen zugestimmt.
»Wo waren wir stehen geblieben?«, fragte sie Caesar.
»Ich hatte Ihnen von meinem Verdacht erzählt. Wie ich schon sagte, ich war mit Dajana befreundet. Es gab eine Zeit, in der wir beinahe zusammengekommen wären, aber sie hat sich für Jules entschieden, was kein echtes Problem war. Jedenfalls nicht, nachdem etwas Zeit verstrichen war. Wir blieben gute Kumpel.«
»Okay?«
»Sehr
gute Kumpel, was die Vertrauensbasis betrifft. Wir haben über alles geredet. Auch über ihre Probleme mit Jules.«
»Was für Probleme?«
»Sie hat mir von ihrem Verdacht erzählt. Sie befürchtete, dass Jules in etwas Illegales verwickelt wäre.« Er fuhr sich nervös mit dem Zeigefinger über eine eingerissene Stelle der Nagelhaut seines Daumens.
»Was konkret?«
Caesar runzelte die Stirn. »Damit wollte sie nicht rausrücken. Und gerade das hat mich misstrauisch gemacht. Normalerweise erzählten wir uns alles. Doch hier druckste sie rum. Es habe mit seinem Vater zu tun. Und mit anderen Frauen.«
Das Fummeln am Daumen hatte aufgehört, dafür hatten seine Hände eine Serviette auf dem Tisch entdeckt, die sie zusammenknüllen konnten.
»Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Doch Dajana traf bei mir einen Nerv. Jules hatte sich verändert. Er war schon immer anders als andere gewesen. Still, sehr melancholisch. Die Arbeit beim Notruf setzte ihm zu. Er konnte seine Fälle nie ruhen lassen, nahm Arbeit mit nach Hause. Einmal musste ich ihn zu einer Adresse fahren, zu einer Frau, die von ihrem Mann grün und blau geprügelt worden war. Er wollte nach ihr sehen, ob es ihr gut ging. Ob sie sich von ihm getrennt hatte.«
»Hatte sie?«
»Nein. Er ist völlig ausgeflippt. Wir haben die beiden nur durchs Küchenfenster gesehen, Mann und Frau. Jules wollte am liebsten klingeln und den Kerl vermöbeln, ich konnte ihn gerade noch so davon abhalten.« Er lächelte traurig. »Damals saß ich noch nicht in diesem Ding hier.«
Klara trank einen zu großen Schluck ihres noch sehr heißen Chai Latte.
»Ich will nicht unhöflich sein, aber wieso erzählen Sie mir das alles? Das meiste habe ich der Presse schon entnommen. Sie haben ja eine Aussage bei der Polizei gemacht.«
Er nickte und sah betreten auf die Tischplatte, als stünde auf dem Kuchenteller, den er nicht angerührt hatte, die Antwort.
»Ich bin hier, um mich zu entschuldigen«, sagte er leise.
»Wofür?«
»Ich glaube, alles wäre nicht so weit gekommen, wenn ich früher etwas gesagt hätte.« Er hob wieder den Kopf.
Weint er?
»Ich wünschte, ich hätte Sie gewarnt, Frau Vernet.«
Klara legte den Kopf schräg, schob sich eine Strähne von der Stirn und hakte nach: »Sie hätten mich warnen können?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
Caesar rang sichtlich um Worte, schließlich gestand er: »Nach Dajanas Selbstmord habe ich Nachforschungen angestellt. Wie gesagt, wir hatten ein Vertrauensverhältnis. Ich kannte ihr Computerpasswort und konnte so von meinem Notebook aus ihre Online-Mailbox öffnen. Dajana hatte ihren Abschiedsbrief, den sie später per Hand abschrieb, als Entwurf gespeichert.«
»Und?«
»Und darin steht Ihr Name.«
Mein Name?
Das Gespräch war so ungewöhnlich und so aufmerksamkeitsfordernd, dass sie glatt vergessen hatte, jede Minute nach Amelie zu sehen, was Klara jetzt nachholte.
Die Kleine sah genau in diesem Moment zu ihr rüber und schenkte ihr ein Zahnlückenlächeln.
»Bitte verachten Sie mich nicht für das, was ich getan habe«, hörte sie Caesar sagen und wandte sich wieder zu ihm.
»Jules ist … er war mein bester Freund. Auch wenn er sich über die Jahre veränderte und immer verbitterter wurde. Er hat selbst Schlimmes in seiner Kindheit erfahren. Er musste erleben, wie sein Vater seine Mutter schlug und quälte, bis sie ihn und seine Schwester alleine mit dem Irren zurückließ.«
Caesar griff zum ersten Mal nach der Kuchengabel, stach sie sogar in den Bienenstich, machte aber keine Anstalten, ihn zu essen.
»Damit hat er mir mal seinen Helferkomplex erklärt und weshalb er bei der 112 arbeitete. Aber daher rührte wohl auch sein Hass auf Frauen, die das widerstandslos über sich ergehen ließen.«
»Die er ermordete!«, flüsterte Klara mit einem Blick zu Amelie, die von ihrer Unterhaltung glücklicherweise nichts mitbekam.
Und zwar am 8.3., 1.7. und 30.11. Alles wichtige Tage für Feministen, wie die Medien in der Aufarbeitung der Tat im Nachgang recherchiert hatten: der Weltfrauentag am achten März, die Änderung des Strafgesetzbuchs am ersten Juli 1997 (erst seitdem war Vergewaltigung in der Ehe in Deutschland strafbar) und die Einführung des Frauenwahlrechts am 30. November 1918.
»Was steht in dem Brief?«, fragte sie Caesar.
»Versprechen Sie mir, dass Sie mich nicht hassen werden?«
»Welchen Grund könnten Sie mir dazu liefern?«
Caesar seufzte. »Ich hätte zur Polizei gehen müssen. Aber ich dachte, vielleicht sind das alles nur Hirngespinste einer verwirrten Frau. Immerhin war Dajana kurz vor ihrem Tod wegen Paranoia in der Psychiatrie gewesen. Wie ernst durfte ich das nehmen?«
Ohne dass er es wissen konnte, hatte Caesar damit eine Erinnerung bei Klara heraufbeschworen.
Sie selbst hatte einen ähnlichen Wortlaut benutzt, als sie ihren Verteidiger fragte, ob sie denn wirklich vor Gericht aussagen müsse.
»Wie ernst wird man denn meine Aussage nehmen? Es ist doch bekannt, dass ich in einer psychiatrischen Klinik an einem Experiment teilgenommen habe.«
Caesar stocherte weiter in dem Kuchen herum und setzte seine Beichte fort: »Ich habe versucht herauszufinden, ob da wirklich etwas dran ist. Hab Jules gefragt, ob er meine Schicht am Begleittelefon übernehmen kann.«
»Woher wussten Sie, dass er mich anrufen wird?«
»Das wusste ich nicht. Aber ich hab ihm gezeigt, wo man die Nummern von den Teilnehmerinnen findet, die schon mehrfach angerufen haben. Und wo die Datei ist, in der Hinweise auf Sorgen, Ängste und andere Hintergrundinfos stehen, die es einem Begleiter einfacher machen, das Gespräch zu führen.«
»Sie haben gehofft
, er ruft mich an?«
Ich war Caesars Lockvogel?
»Ich habe gehofft, dass er es nicht
tut. Aber gegen zweiundzwanzig Uhr habe ich meinen Laptop geortet, ich hab da eine Software drauf für den Fall, dass er geklaut wird. Und bingo, Jules war nicht zu Hause. Ich ließ mich von einem Behindertentaxi zum Lietzensee fahren, dort, wo das GPS
-Signal ausschlug. Als ich Ihren Nachnamen am Klingelschild sah, Vernet, war ich wie betäubt. Ich wusste jetzt sicher, dass da etwas nicht stimmen kann.«
Pause.
Klara traute sich nicht, sich zu bewegen, aus der irrationalen Angst, sie könnte irgendetwas tun, was den hochnervösen Mann vor ihr so verunsicherte, dass er aufhören würde zu reden.
»Also fuhr ich mit dem Fahrstuhl nach oben. Wollte ihn zur Rede stellen, was er da in der fremden Wohnung macht.«
»Doch Sie bekamen es mit der Angst?«
»Ja.« Er schämte sich sichtlich. »Es klingt vielleicht kindisch, aber das Licht im Treppenhaus funktionierte nicht. Ich fühlte mich auf einmal so hilflos.«
»Und so sind Sie wieder umgedreht?«
»Ja. Mein Taxi hatte gewartet. Zu Hause angekommen, merkte ich, dass ich mein Handy verloren haben musste. War mir aber nicht sicher, ob vor der Haustür bei Ihnen oder anderswo. Ich rief mich hin und wieder selbst vom Festnetz an, zwischenzeitlich hoffte ich, dass es mir geklaut worden wäre und Jules es nicht in die Finger bekam. Ich schickte mir sogar mit meinem Zweithandy eine SMS
an den Dieb mit der Forderung, es mir zurückzugeben.«
»Aber Sie haben nicht die Polizei gerufen?«
»Nein. Und das verzeihe ich mir bis heute nicht.« Er räusperte sich verlegen. »Das war feige, ich weiß. Ich verhielt mich wie ein Kind, das hofft, dass das Böse allein durchs Wegsehen verschwindet.«
»Sie wollten nicht wahrhaben, dass Ihr Freund zu den Morden in der Lage ist.«
Er nickte. »Es ist zu monströs. Einfach nicht fassbar. Vielleicht verstehen Sie mich, wenn Sie es selbst gelesen haben.«
Caesar rückte vom Tisch ab und griff nach seinem Portemonnaie. Klara wollte schon protestieren, dass sie die Rechnung übernähme, da merkte sie, dass er einen Umschlag neben die Tasse legte.
»Bitte, hassen Sie mich nicht«, sagte er noch einmal.
Er drehte auf der Stelle und rollte zum Ausgang.
Klara sah ihm nach. Beobachtete, wie er darauf wartete, dass ihm ein Gast die Tür aufhielt, und kurz darauf mit seinem Rollstuhl auf der Knesebeckstraße aus ihrem Sichtfeld verschwand.
Sie vergewisserte sich, dass Amelie noch mit ihren Zeichnungen beschäftigt war. Mit Herzrasen und schweißnassen Fingern ertastete sie die Blätter im Kuvert.
Als Nächstes nahm sie einen letzten Schluck aus ihrem Wasserglas, das sie sich zu ihrem Chai Latte bestellt hatte.
Schließlich öffnete sie den Umschlag und las Dajanas Abschiedsbrief.