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Mein liebster Jules,
ich wünschte, alles wäre anders gekommen.
Ich wünschte, ich hätte es nie erfahren. Wünschte, mein Verdacht hätte sich nie bestätigt. Aber ich habe Deine Handschrift erkannt, den neckischen Schlenker, mit dem Du die 2 abrundest. Der Kringel der 1, wie bei einem Seepferdchen. Du bist der Kalender-Killer. Du hinterlässt das Datum an den Wänden Deiner Mordopfer.
Erinnerst Du Dich an unseren ersten Kuss? Die vielen schönen Jahre, die darauf folgten.
Was habe ich Deine Briefe geliebt, die mich immer wieder überraschten. Unter dem Kopfkissen, im Kühlschrank, zwischen meinen Sportsachen. Im Handschuhfach.
Ich habe mich immer darüber amüsiert, dass Du sie mit Datum unterzeichnest, wie einen Vertrag. Und im Grunde wollte ich wohl glauben, wir hätten wirklich einen Pakt geschlossen, auch wenn wir nie geheiratet haben. Auch wenn Du nie die Wohnung aufgegeben hast, in der Du aufgewachsen bist. Du sagtest zwar, wegen der schlechten Erinnerungen an Deine Kindheit könntest Du dort nicht länger wohnen, aber ich wusste, dass Du Dir dort hin und wieder eine Auszeit genommen hast und sie nicht hast leer stehen lassen. All die Jahre, die Du bei mir wohntest. Weil Du Deine Freiheit brauchtest. Nun weiß ich, wofür Du sie genutzt hast, und mein Verstand ist zu klein, um es zu fassen.
Anfangs schwelte in mir die Angst, Du würdest Dich in der Pestalozzistraße mit anderen Frauen treffen. Ich wusste ja um deine hilfsbereite, gutmütige Art. Dass Dich die Notrufe, gerade von Frauen, nicht losließen, die bei Dir eingingen. Du selbst hast mir erzählt, dass Du Dich manchmal nach der Schicht ins Auto setzt und zu den Anruferinnen fährst, um zu erfahren, ob alles gut gegangen ist. Weil Du die Leere nach dem Notruf und die Ungewissheit, wie der Einsatz ausgegangen ist, nicht ertragen konntest.
Ach, hättest Du mich doch nur betrogen. Um wie viel leichter hätte ich die Eifersucht ertragen als das, was mir Dein Vater bestätigte. Trotz der Ungeheuerlichkeit, trotz allem zweifele ich noch immer an mir und frage mich, ob ich nicht auch schuld daran bin. Immerhin hat mich meine Eifersucht Dir nachstellen lassen. Und so habe ich sie gefunden, die blutige Kleidung, die Du dachtest heimlich in der Waschküche säubern zu können. Die winzigen roten Tropfen auf der Emaille, die von Deiner Hand den Weg ins Waschbecken fanden, das Du nicht gründlich genug gereinigt hast, bevor Du Dich nach Deiner »Nachtschicht« zu mir ins Bett legtest.
Und dann sah ich das Foto in der Zeitung, das Blut an den Wänden, das Todesdatum, das der Kalender-Killer seinen Opfern hinterließ, und ich erkannte Deine Handschrift. Doch, ich gebe es zu, fast wäre es mir gelungen, durch die Therapie im Berger Hof meine Augen vor der Wahrheit zu verschließen. Du hast meine Wesensveränderung bemerkt, mir die Lüge geglaubt, ich hätte einen Burn-out wegen der Kinder und dem Stress, den Dein Beruf auch für mich mit sich bringt. Wie einfach konnte ich Dich überzeugen, eine psychiatrische Kur machen zu müssen. Brauchtest Du die Zeit für Deine Untaten? Ich sagte den Therapeuten im Berger Hof, ich litte unter Paranoia. Denn es ist leichter, an eine Lüge zu glauben, als mit der Gewissheit zu leben, einen Mörder zu lieben.
Allerdings hat Dein Vater meinem Selbsttäuschungsprozess ein jähes Ende gesetzt, als er mich in der Klinik besuchen kam. Ich hatte gehofft, er würde mir Beweise für Deine Unschuld bringen, denn ja, ich bekenne mich schuldig, ich habe ihn auf Dich angesetzt, Jules. Dass er gar nicht zu recherchieren brauchte, konnte ich nicht wissen. Ich dachte, die Fotos von Deinem Bett, die er mir mitbrachte, hätten auch ihn schockiert. Weit gefehlt. Habt ihr eigentlich über meine Naivität gelacht? Oder handelte er ohne Absprache mit Dir, als er mir die ganze Wahrheit erzählte? Ich hoffe Letzteres, denn ich kriege das perfide Lächeln nicht mehr aus dem Kopf, das ihm ins Gesicht gemeißelt war, als er mir sagte, ich müsse jetzt ganz tapfer sein. Ihr wäret ein Team und würdet gemeinsam töten.
Ich weiß, er genoss meinen Schmerz und meine Ohnmacht. Ich spüre noch heute, wie ich vollkommen betäubt war, als er meine Hand nahm und mich in der Klinik ans Fenster führte, wohl wissend, dass mir, der psychisch labilen Patientin, niemand diese Geschichte glauben würde. Vielleicht glaubte er aber auch wirklich, ich würde euch verstehen. Dass ihr einen guten Grund hättet, wenn ihr die Frauen dafür bestraft, dass sie freiwillig zu ihren Peinigern zurückkehren.
Selbstzufrieden zeigte Dein Vater mir eine junge Frau, ebenfalls eine Patientin, die gedankenverloren im Park saß. Ihr Name sei Klara Vernet …
»Blumen?«
Klara zuckte so heftig zusammen, dass ihre Knie gegen die Unterseite des Cafétisches knallten.
»Was?«, blaffte sie den Straßenverkäufer an, der sich keinen unpassenderen Moment hätte aussuchen können, um ihr einen Strauß Rosen vor die Nase zu halten.
»Nein!« Klara schaffte es nicht, höflich zu sein. Sonst hatte sie Mitleid mit den armen Schluckern, die ihren mageren Lohn irgendeinem mafiösen Familienoberhaupt abliefern mussten. Sie vergewisserte sich, dass der nach Tabak stinkende Hoodie-Träger Amelie in Ruhe ließ, wartete, bis er mit seinen schnürsenkellosen Sneakern erfolglos nach draußen geschlurft war, und setzte noch einmal bei dem letzten Absatz der albtraumartigen Enthüllungen an, die Dajana in den letzten, verzweifelten Stunden ihres Lebens verfasst hatte.
Selbstzufrieden zeigte Dein Vater mir eine junge Frau, ebenfalls eine Patientin, die gedankenverloren im Park saß. Ihr Name sei Klara Vernet, und er habe sie als nächstes Opfer ausgesucht. Ihr Mann Martin würde sie sexuell und psychisch quälen, und dennoch würde sie ihn nicht verlassen. Obwohl sie, Ironie des Schicksals, schon seit Jahren solche Angst habe, dass die Nummer des Begleittelefons in ihrem Handy abgespeichert sei. Für sie hättet ihr den Todestag auf den 30.11. festgelegt. Wie schon für euer erstes gemeinsames Opfer.
Seitdem ich aus der Klinik zurück bin, stehe ich völlig neben mir, doch Du hast das gar nicht bemerkt. Dein Kopf ist nie mehr bei mir, denn Du kämpfst mit Deinen Dämonen. Für Valentin und Fabienne bist Du noch immer der fürsorgliche Vater, aber für mich nur noch eine seelenlose Hülle, wobei wir auch das wieder gemein haben.
Dein Vater und Du habt für Klara Vernet ein Datum ausgewählt, und auch ich habe einen Tag für mich festgelegt. Und der ist heute.
Ich weiß, Du hättest mir nie etwas getan. Das und das Wissen, dass ich Dich trotz allem immer noch liebe, macht das Weiterleben für mich unerträglich. Vielleicht hätte ich es mit Dir alleine sogar geschafft. Hätte Deine dunklen Dämonen zähmen können, wer weiß. Aber mit Deinem Vater als Mentor des Bösen an Deiner Seite? Keine Chance. Das übersteigt meine Kräfte, mein Vorstellungsvermögen und meinen Lebenswillen.
Leb wohl, mein liebster Jules. Ich werde jetzt, kurz nach meiner Unterschrift, mit den Pulsadern beginnen. Vielleicht schaffe ich es noch, Dich ein letztes Mal auf der 112 anzurufen, bevor meine Kräfte schwinden. Ein letztes Mal Deine Stimme zu hören, die mir früher Halt, Zuversicht und Hoffnung gegeben hat. Vielleicht, wenn ich Dich auf der Arbeit erreichen sollte, kann ich mich an ihr festhalten, und Du begleitest mich auf meinem letzten Weg.
Vermutlich wird niemand außer Dir diesen Brief jemals lesen. Doch wenn, dann denkt die- oder derjenige bestimmt: »Wie kann eine Mutter ihre Kinder bei einem Mörder zurücklassen?«
Ich bin mir sicher, selbst Du würdest so argumentieren, hätte ich Dir von meinen Absichten erzählt. Und vielleicht würde ich beim Blick in Deine Augen schwach werden und die Kraft verlieren, meinen Entschluss zu verwirklichen.
Doch ich weiß, ich muss es tun. Die Kinder waren Dir immer näher als mir. Und sie haben sich noch mehr von mir gelöst, seitdem ich ein emotionales Wrack bin. Ich bin unendlich erschöpft, aber zugleich so wütend auf Dich. Mein Tod, das weiß ich, wird Dich bestrafen. Ich weiß, wie sehr Du mich liebst. Und wie sehr Du unter meinem Selbstmord leiden wirst. Vielleicht, das ist meine Hoffnung, bringt diese Erschütterung Dich auf den richtigen Weg zurück, der mir in diesem Leben für immer verbaut ist. Und dann, das weiß ich, wirst Du den Kindern ein guter Vater sein, so wie Du mir immer ein guter Mann gewesen bist.
Ich liebe Dich so sehr, trotz allem,
Dajana