68
S ie hatte schon eine Zeit lang über die oberste Seite des Briefes hinweg ins Leere gestarrt, als der Löffel auf der Untertasse zu klirren begann. Klara, geistig noch ganz in der morbiden Welt gefangen, die Dajanas Worte für sie gezeichnet hatten, brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass es ihr Handy war, das die Vibrationen auf dem Tisch auslöste.
»Hallo?«
»Wie geht es Ihnen, Klara?«
Mit den ersten Worten des Anrufers sank die Temperatur im Café auf das Niveau, das draußen auf der Straße herrschte. Intuitiv griff Klara nach ihrem Schal, den sie neben sich auf den Stuhl gelegt hatte. Gleichzeitig vergewisserte sie sich, dass ihre Tochter in Sicherheit war.
»Jules?« Der Name, den sie einst so schön gefunden hatte, dass sie ihn sich für ein weiteres Kind hätte vorstellen können, war ihr mittlerweile so verhasst, dass ihr übel wurde, wenn sie ihn nur aussprach.
»Ich störe Sie nicht lange, keine Sorge. Ich werde Sie auch nie wieder anrufen. Das wird definitiv unser letztes Gespräch sein.«
Klara nahm sich zu dem Schal auch ihre Daunenjacke und trat vor die Tür des Cafés, ohne Amelie durch die bodentiefe Fensterscheibe aus den Augen zu verlieren.
»Ich rufe die Polizei.« Kondensnebel umhüllte ihre Worte wie der Dampf einer E-Zigarette. Es war knapp unter null, aber die seelische Kälte, die sie spürte, war sehr viel stärker.
»Die kommt nicht immer so schnell, wie man sie braucht.«
»Ach ja, ich vergaß. Sie sind ja der Notruf-Killer.«
Nachdem die Presse herausgefunden hatte, wer für die Morde verantwortlich war, hatten sie Jules umgetauft.
»Ich spreche aus Erfahrung, weil ich in jener Nacht selbst versucht habe, Hilfe zu holen. Ich dachte, Ihre Tochter wird bedroht. Eher wollte ich mich selbst stellen, als ein Kind in Gefahr zu bringen.«
Klara winkte durch die frisch geputzte, schaufensterartige Glasscheibe Amelie zu, die kurz nach ihr gesucht hatte, jetzt aber beruhigt war, dass Mami vor dem Café telefonierte.
»Oh, wie ehrenvoll. Aber Sie waren die einzige Gefahr für Amelie. Sie haben mit dem Babysitter gekämpft!«
»Ich lese die Zeitung, Klara. Ich weiß Bescheid. Und das mit Vigo tut mir wirklich leid. Ich hatte den Schlüssel aus dem Handschuhfach Ihres Mannes, von dem ich wusste, dass er am letzten Samstag im Monat immer sehr spät nach Hause kommt.«
Nach seinen Feiern im Le Zen. Oder im »Stall« , dachte Klara und fragte sich, wie viele Therapiesitzungen notwendig wären, bis sie zum ersten Mal offen mit einem Dritten darüber würde sprechen können.
»Ich wusste nichts von einem Babysitter. Als ich kam, muss er schon im Gästezimmer geschlafen haben.«
Klara schnaubte verächtlich. »Sie dachten, ich lasse mein Kind unbeaufsichtigt?«
»Schon vergessen? Sie wollten es für immer alleine lassen«, parierte Jules. Die Erinnerung an ihre fehlgeschlagenen Suizidversuche hatte eine ernüchternde Wirkung auf Klara.
Wobei Jules mit seiner Vermutung während ihres Telefonats in jener Nacht vollkommen recht gehabt hatte. Im Grunde waren alle ihre Suizidversuche halbherzige Hilferufe gewesen. Von dem abgebrochenen Sprung vom Kletterfelsen bis zu dem untauglichen Versuch, sich mit Autoabgasen zu vergiften.
Eine schwangere Frau schob einen Kinderwagen über die Straße und hielt vor einem Laden mit Umstandsmode.
Statistisch gesehen erfährt jede vierte Frau häusliche Gewalt. Meist wird es in der Schwangerschaft schlimmer, weil der Mann sich noch wertloser fühlt, schoss es Klara bei ihrem Anblick durch den Kopf.
Ob auch sie Angst hat, nach Hause zu gehen?
Sie blickte wieder zu Amelie, die auf einem angewinkelten Bein saß und deren einziges Problem gerade war, mit welcher Farbe sie den Baumstamm der Inselpalme ausmalen sollte.
»Was wollen Sie?«, fragte sie Jules.
»Etwas richtigstellen.«
»Das brauchen Sie nicht mehr. Ich habe Dajanas Abschiedsbrief gelesen.«
»Dann hat Caesar Ihnen eine Kopie gegeben. Das habe ich befürchtet.«
Klara schüttelte den Kopf und senkte ihre Stimme, obwohl gerade eine Gruppe Jugendlicher, die vom S-Bahnhof kamen, lautstark zu johlen begann.
»Sie sind noch kränker, als ich dachte.« Angewidert presste Klara ihre weiteren Worte hervor: »Mord im Team? Gemeinsam mit dem leiblichen Vater?«
»Eben nicht. Ich habe mit meinem Erzeuger kaum etwas gemein. Er liebte es, Menschen zu quälen, ich nicht. Er wollte Frauen Angst machen, ich wollte ihnen helfen.«
»Indem Sie sie töten?«
Die Jugendlichen hatten für ihre Fußballgesänge als Probenort den Spielplatz direkt neben dem Café entdeckt. Eigentlich war er nur für Kinder bis zehn Jahre vorgesehen, aber das war den Halbstarken gut hörbar gleichgültig.
»Indem ich ihnen aufzeige, dass man handeln muss. Ich zeige den Opfern, dass es einen Weg aus der Falle gibt. Ja, dazu muss man Druck aufbauen. Deshalb setze ich ein Ultimatum. Ich bin froh, dass meine Motive jetzt in der Öffentlichkeit bekannt sind. Sonst versteht ihr Frauen es nicht.«
»Was gibt es daran zu verstehen, dass man keine Menschen töten darf?«
»Aber genau das tun Frauen wie Sie, Klara. Was glauben Sie denn, was aus Ihrer Tochter geworden wäre, wenn Sie sich nicht befreit hätten? Sie hätte ein Muster gelernt. Dass es völlig normal ist, wenn Papa die Mama schlägt, foltert, demütigt. Dass der einzige Weg der Selbstmord ist. Damit hätten Sie aus Amelie das nächste Opfer gemacht.«
Klara hielt inne, wütend über den Fakt, dass Jules in der Darstellung seines verdrehten Weltbilds den Fokus auf eine traurige Wahrheit gelenkt hatte. Auch sie hatte von ihren Eltern die Opferrolle gelernt. Was wäre wohl aus ihr geworden, wenn ihre Mutter die Kraft gehabt hätte, sich gegen ihren Mann zu wehren?
»Sie haben sicher von meiner Schwester Rebecca gehört.«
»Sie gibt keine Interviews«, antwortete Klara.
»Wenn sie welche geben würde, müsste sie den Reportern sagen, wie sehr sie unter der Schwäche meiner Mutter gelitten hat. Meine Mama hat nie etwas gegen meinen Vater unternommen. Hat sich alles von ihm bieten lassen. Becci lernte dadurch, bewusst oder unbewusst, dass das die naturgegebene Rolle einer Frau ist: die Dominanz des Mannes still und unterwürfig zu ertragen. Wäre meine Mutter damals nicht fortgegangen, wäre meine Schwester heute ebenso ein Opfer, wie Sie es sind, Klara.« Jules korrigierte sich sofort: »Wie Sie es waren! Sie wissen gar nicht, was für eine großartige Leistung Sie vollbracht haben, indem Sie Yannick aus dem Weg räumten.«
»Ihren Vater!«, zischte Klara, nickte Amelie liebevoll zu und war beruhigt, als diese sich wieder über ihr Kunstwerk beugte. »Ihr Todesgehilfe!«
»Falsch, mein Vater war nur ein Trittbrettfahrer.«
Klara stockte. »Moment. Er hat nie getötet?«
Sie hörte, wie Jules abfällig mit der Zunge schnalzte. »Dazu war er doch viel zu feige.«
»Aber ich verstehe das nicht! Wie hat er denn herausgefunden, dass Sie der Kalender-Killer sind, wenn Sie es ihm nicht gesagt haben?«
Sie hörte Jules tief ausatmen, bevor er sagte: »Eines Tages gab es einen Wasserschaden in der Wohnung unter mir. Ich war auf Arbeit und nicht zu erreichen. Der Nachbar dachte, es sei mein Bett, und rief panisch den Verwalter an. Der wusste, dass mein Vater dort einmal gewohnt hatte und noch immer als Miteigentümer im Grundbuch eingetragen ist. Also rief er ihn an, und mein neugieriger alter Herr organisierte einen Schlüsseldienst und nutzte die Situation, um sich mal umzusehen, wie ich wohne.«
»Und so hat er das Wasserbett entdeckt?«
Und seinen entsetzlichen Inhalt.
»Er hat kein Wort darüber verloren, tat so, als wäre alles normal, aber ich bin mir sicher, er ist bei dieser Gelegenheit durch meine gesamte Wohnung und hat auch den Ordner mit den Dokumentationen unter dem Bett gefunden.«
»Sie haben Ihre Opfer fotografiert?« Klara wollte sich am liebsten übergeben.
»Nur das Datum an der Wand.«
»Nur!« Sie stöhnte.
»Eigentlich müssten Sie mich doch verstehen können, Klara. Ich habe Fälle wie Ihren zu Hunderten erlebt. Immer und immer wieder riefen Frauen mich um Hilfe, doch wenn ich sie ihnen schickte, blieben sie bei ihren Männern. Ließen sich schlagen, quälen, vergewaltigen, töten. Ich wollte ein Zeichen setzen, die Betroffenen läutern, sie aus der Opferrolle holen. Und bei Ihnen scheint mir das ja sogar gelungen zu sein.«
»Sie sind wahrhaft geistesgestört.«
»Tja, vermutlich haben Sie recht, und dennoch bin ich mir sicher, sehr viel gesünder zu sein, als mein Vater es je gewesen war. Sein ganzes Leben lang zog er sein Vergnügen daraus, Frauen zu quälen. Er liebte es, meine Mutter physisch wie psychisch zu zerstören. Ihre Angst war wie eine Droge für ihn, und nach der war er auch nach ihrem Tod süchtig. Ihm ging einer ab, wenn er sah, wie das Glück in den Augen einer Frau erstarb. Wenn er merkte, dass seine Worte und Taten jegliche Lebensfreude in ihr zerstörten.«
So wie bei mir, dachte Klara. Als er zuerst mit mir schlief, um mir dann aufzuzeigen, dass ich mit einem Monster ins Bett gestiegen war.
»Er hat Sie angelogen, um Ihre Seele zu vergiften, Klara. So wie er Dajana anlog und sie damit in den Tod trieb.«
Klara lachte spöttisch auf. »Ach, Sie meinen, Ihre Freundin hätte es besser verkraftet, wenn sie die Wahrheit gekannt hätte: dass Sie für die Kalendermorde ganz alleine verantwortlich sind?«
»Ja. Das hat Dajana doch ausdrücklich in ihrem Abschiedsbrief so geschrieben. Wenn Sie ihn genau gelesen haben, muss Ihnen doch aufgefallen sein, dass sie tief in ihrem Innersten niemals vorgehabt hatte, sich das Leben zu nehmen. So wie Sie, Klara.«
»Woher wissen Sie das?«
»Sie wollte mich vorher noch einmal anrufen! Weil sie wusste, dass meine Stimme sie davon abhalten würde.«
Klara nickte unbewusst. Wie hatte Jules es schon einmal formuliert? »Sie war verzweifelt, aber ihr Todeswunsch war am Ende doch nicht so stark wie ihre Mutterliebe.«
Damals war es ihr nicht klar gewesen, aber diese Worte hatten in jener Nacht auch für sie gegolten.
» Hilferuf hin, Hilferuf her. Selbst wenn ich mich in diesem Punkt irrte, wäre Dajana noch am Leben«, fuhr Jules fort. »Meinen Vater trifft die alleinige Schuld. Hätte er Dajana nicht diese Lügen aufgetischt, wäre es niemals so weit gekommen. Meine Frau hätte sich nicht die Pulsadern aufgeschnitten. Meine Kinder wären nicht gestorben.«
»Aber Sie wären noch immer ein Mörder.«
Jules atmete wieder schwer, stimmte ihr aber zu. »Das ist richtig, ich bin ein Mörder. Doch in dieser Nacht habe ich Sie gerettet, Klara.«
»Indem Sie mich auf Ihren Vater treffen ließen?«
Jules hatte sie wie eine Marionette an unsichtbaren Fäden tanzen lassen. Sie glauben gemacht, sie würde zu Caesar fahren, dabei hatte er sie in seine eigene Wohnung gelockt.
Verdammt, er hat sogar die Türen für mich offen stehen lassen.
»Ich habe Sie davon abgehalten, sich das Leben zu nehmen, Klara.«
»Damit es stattdessen Ihr geistesgestörter Vater versuchen durfte?« Sie presste die Zähne aufeinander und zischte: »Der Dreckskerl wollte mich abstechen.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob er dazu wirklich fähig gewesen wäre. Noch mal: Mein Vater hat keine dieser Frauen ermordet. Allerdings, das gebe ich zu, habe ich ihn in jener Nacht komplett aus der Reserve gelockt. Spielte den Ahnungslosen. Tat so, als wüsste ich nicht, dass er mein Trittbrettfahrer ist und sich Ihnen gegenüber als Yannick ausgegeben hat. Indem ich ihn zum Le Zen lotste, ließ ich meinen Vater quasi Nachforschungen über sich selbst anstellen.«
»Um ihn zu quälen?«
Er stimmte ihr zu und ergänzte: »Und um ihn dazu zu bringen, einen Fehler zu machen.«
»Sie haben ihn auf mich gehetzt!«
»Ja, aber ich hab Sie ihm nicht völlig schutzlos ausgeliefert.«
Klara nickte. »Sie haben gehofft, ich benutze den Dolch an der Wand!«
»Und wachsen ein Mal im Leben über sich hinaus, genau.«
Das Wasserbett. Der japanische Dolch. Tannbergs Trenchcoat, der von Kugeln zerfetzt wurde. Sein Körper, der erst einknickte und dann wie ein gesprengter Schornstein in sich zusammensackte.
Die Erinnerungen an ihre letzten Minuten in Jules’ Wohnung blitzten vor ihrem geistigen Auge auf wie Fotos, die von einem Diaprojektor an die Wand geworfen wurden. Und wie damals schnellte ihr Puls in die Höhe, und die Angst legte sich ihr mit bleischwerem Druck auf die Brust. »Aber was, wenn ich ihn nicht getötet hätte? Wenn ich einfach nach Hause gekommen wäre, um mich noch einmal von Amelie zu verabschieden …«, flüsterte Klara, und Jules führte den Gedanken fort: »Dann hätte ich Sie ermordet.«
Sie stöhnte auf. Damit bestätigte Jules die albtraumhaften Vermutungen, die sie jede Nacht bis in den Schlaf verfolgten. Er hatte ihr in ihrer eigenen Wohnung aufgelauert!
»Ich hätte es nicht gerne getan. Aber nur so wäre die Linie durchbrochen worden. Ich konnte nicht zulassen, dass aus Amelie auch ein Opfer wird.«
Klara sah erneut ins Café, und in dieser Sekunde winkte Amelie ihr zu, sie solle zurückkommen und das halb fertige Bild begutachten, also ging Klara wieder hinein.
»Irgendwann wird Ihre Tochter alt genug sein und erfahren, dass ihre Mutter eine Heldin ist, die sich von Männern nicht herumschubsen lässt, sondern das Heft selbst in die Hand nimmt. Auch wenn ich mir natürlich gewünscht hätte, Sie hätten sich Ihres Ehemanns gleich mit entledigt. Aber das habe ich ja dann für Sie übernommen.«
Klara zog Schal und Jacke wieder aus, ihr Gesicht brannte durch den plötzlichen Temperaturwechsel wie Feuer. Die Kellnerin sah sie fragend an, aber Klara machte ihr lächelnd ein Zeichen, dass sie nichts weiter brauchte für den Moment. Außer vielleicht einer Fangschaltung zu dem Mann, den man Kalender-Killer genannt hatte.
»Betrachten Sie es als mein Geschenk«, sagte Jules. »Sie wissen, Martin hat den Tod verdient.«
»Niemand hat das«, widersprach Klara halbherzig. »Sie werden dafür zur Rechenschaft gezogen werden.«
»Das wurde ich schon. Mit Dajana habe ich den Sinn meines Lebens verloren.«
Klara presste wütend ihre Worte durch die zusammengebissenen Zähne: »Sie sind geisteskrank, und das wissen Sie, oder? Sie wollen mir Ihre perversen Taten als Hilfestellung verkaufen, dabei haben Sie mich als Werkzeug benutzt.«
»Falsch. Ich habe Sie nur zu einer Tür begleitet. Sie selbst haben sich entschieden hindurchzugehen.«
»Sie sind ein Monster.«
»Ich bitte Sie.« Jules kicherte tatsächlich. »Von allen Männern in Ihrem Leben war ich in letzter Zeit wohl der harmloseste.«
Klara lachte hysterisch auf, was ihr einen nervösen Blick von zwei Frauen am Nachbartisch einbrachte, die sich in ihrer Unterhaltung gestört fühlten.
»Harmlos?«, sagte sie und wäre am liebsten wieder aus dem Café gerannt, wo sie wenigstens hätte brüllen können. »In Ihrem Bett schwammen Leichenteile, die Sie gesammelt haben!«
»Nicht als Trophäe, sondern als Mahnung. Meine Mutter sollte mich immer an meine Bestimmung erinnern.«
»Ihre Mutter?« Klara schloss die Augen, und wieder schwammen Gebeine in der mit blutigem Wasser gefüllten Erinnerungskammer ihres Bewusstseins. Wieder lag sie auf dem Wasserbett, wieder wurde ihr allein bei dem Gedanken, was sie auf ihm mit Yannick getan hatte, speiübel, doch zum ersten Mal begriff sie, wessen Knochen das unter ihr gewesen waren.
»Ich dachte, Ihre Mutter …«
Nein, korrigierte sie sich selbst in Gedanken. Natürlich war sie damals nicht einfach abgehauen. Sie war Jules’ erstes Opfer. Weil sich seine Mutter nicht gegen seinen Vater zur Wehr gesetzt hatte.
»Jahrelang hatte ich ihre Überreste bei uns im Garten vergraben, erst später suchte ich für sie einen besseren Platz«, sagte Jules. »Verstehen Sie jetzt, was für ein Schwein mein Vater ist?«
»Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.«
»Falsch«, widersprach ihr Jules energisch. »Ich bin kein Lügner, so wie er es gewesen ist. Sein ganzes Leben lang hangelte er sich von Lüge zu Lüge. Bis in seinen Tod hinein. Er hatte Angst, Sie könnten mir am Telefon etwas erzählen, das mich ihm auf die Schliche bringt. Es war schon fast komisch, wie er panisch immer wieder versucht hat, mich dazu zu bewegen, das Gespräch mit Ihnen abzubrechen. Unablässig hat er mich aufgefordert aufzulegen. Hat Sie als Lügnerin dargestellt, als Wahnsinnige, der man nichts glauben dürfe.«
Klara nickte stumm. Das konnte Hans-Christian Tannberg nicht schwergefallen sein. Immerhin war sie zuvor in einer psychiatrischen Klinik gewesen.
»Am Ende fiel ihm nichts Besseres ein, als mir Caesar als Verdächtigen anzubieten.«
»Um von sich abzulenken«, stellte sie fest.
»Ja, lächerlich. Ich habe keine Ahnung, wie er damit den Kopf aus der Schlinge ziehen wollte, vielleicht wusste er es selbst nicht so genau. Er improvisierte, doch irgendwann war er mit seinem Latein am Ende, und ihm blieb nur noch eine Möglichkeit.«
»Er musste mich abfangen«, kombinierte Klara.
»Ganz genau«, stimmte Jules ihr zu. »Deshalb fuhr er sofort zu mir, als ich ihm sagte, Sie würden zu mir nach Hause kommen.«
Klara schüttelte den Kopf. Eins musste sie Jules lassen. Er hatte das Katz-und-Maus-Spiel geschickt eingefädelt, und das mit zwei Teilnehmern, die zu keinem Zeitpunkt gewusst hatten, wer von ihnen die Katze und wer die Maus war. Widerwillig musste sie die perverse Genialität hinter diesem Plan anerkennen. Jules hatte sie in eine Lage gebracht, aus der nur einer als Gewinner hervorgehen konnte: Jules selbst. Hätte sie sich gegen Hans-Christian Tannberg nicht zur Wehr setzen können und wäre von ihm ermordet worden, hätte Jules dafür gesorgt, dass sein Vater auch für die anderen Morde in den Bau ging. Klara war sich sicher, dass Jules in jener Nacht die Polizei nicht zu ihrer Rettung in die Pestalozzistraße bestellen wollte, sondern damit Hans-Christian in flagranti als Kalender-Killer erwischt wurde.
»Jetzt kennen Sie die ganze Wahrheit, Klara.«
Als wäre das ein Stichwort gewesen, öffnete sie wieder die Augen. Nichts in ihrer Umgebung hatte sich verändert. Die Bedienung stand noch hinter der Theke, die Frauen unterhielten sich, ihre Tochter malte.
»Leben Sie wohl«, verabschiedete sich Jules mit einer altmodischen Floskel.
Etwas in Klara schrie danach, sofort aufzulegen und das durch das Gespräch besudelte Handy in den Mülleimer zu werfen. Eine andere, innere Stimme zwang sie, Jules offen zu drohen: »Sie wissen, dass ich alles daransetzen werde, dass man Sie findet und bestraft.«
»Natürlich weiß ich das. Wenn Sie aus dieser Nacht etwas gelernt haben, dann, dass man sich gegen Männer zur Wehr setzt.« Er lachte und klang seltsam stolz dabei.
»Werden Sie weiter morden?«, fragte Klara.
»Schmeckt Ihnen der Chai Latte noch, oder ist er mittlerweile kalt?«
Klara wurde bleich. Sie starrte auf das Glas, in dem der Schaum schon eingesunken war, so lange hatte sie nicht mehr daraus getrunken.
»Wo sind Sie?«, fragte sie und sah sich um.
Außer Amelie und den beiden Frauen waren nur noch zwei weitere Gäste im Café, die etwas entfernt von ihr in der Nähe der Toiletten saßen. Ein einziger Mann, klein, mit einer sehr hohen Stimme. Er unterhielt sich gerade mit seiner Begleitung, während Jules ihr riet: »Schauen Sie mal neben sich auf den freien Stuhl.«
Klara blickte nach rechts. Ihr Herz setzte für einen Schlag aus, als sie dort eine Rose fand.
»Das ist mein Abschiedsgeschenk. Ab sofort bleibe ich Ihr unsichtbarer Begleiter.«
In diesem Moment ging die Glocke der Kaffeehaustür, und ein hochgewachsener, breitschultriger Mann trat ein.
»So, und nun Schluss für heute«, verabschiedete sich Jules, bevor er auflegte. »Ihr Freund ist da.«