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D u siehst ja aus wie der Tod uffm E-Roller«, lachte der Mann und gab Klara einen Schmatzer auf die Stirn. Er bemühte sich, in ihrer Gegenwart weniger zu berlinern, aber nicht immer gelang es ihm.
»Hendrik«, rief Amelie erfreut und sprang von ihrer Malecke auf, um an dem Berg von Mann hochzuspringen, als wäre er eine Hüpfburg.
Auf Hendriks Armen, vor seiner voluminösen Brust, sah die Siebenjährige aus wie eine zerbrechliche Porzellanpuppe, was sie im Grunde ja auch ist, dachte Klara und zwang sich zu lächeln, während sie die Rose unter den Tisch fallen ließ.
Klara ermahnte ihre kichernde Tochter, nicht so stürmisch zu sein, doch Hendrik tat mal wieder so, als wäre sein glatter Durchschuss schon Jahrzehnte und nicht erst wenige Wochen her und als hätte es nie eine Notoperation gegeben. Sein Genesungsprozess war unglaublich schnell vorangeschritten, dennoch wusste Klara, dass er noch täglich Schmerztabletten nahm.
»Hast du mir was mitgebracht?«, wollte Amelie wissen, und er zog, wie immer, wenn er sie besuchte, ein Mitbringsel aus der Tasche. Heute war es eine Tüte Brausepulver, die sehr bald quer über Amelies Kleidchen und dem Fußboden des Cafés verstreut sein würde. Strahlend eilte das Mädchen zur Theke, um sich mit einem Glas Wasser zurück an ihren Maltisch zu setzen.
»Sie ist dir so ähnlich, Klara.« Hendrik lächelte, während er Amelie hinterhersah. Klara fühlte einen leisen Stich, wie immer, wenn er sie beim Vornamen nannte. In jener Schicksalsnacht ihrer ersten Begegnung hatte sie sich noch im Parkhaus gewundert, woher er ihn kannte. Er hatte ihn natürlich von Martin erfahren. Das Schwein hatte sie unter ihrem echten Vornamen »versteigert«.
»Wer war dit eben am Telefon?«, wollte Hendrik wissen und ließ sich krachend auf einen Stuhl fallen.
»Sei nicht immer so neugierig.«
Klara fühlte sich wohl in der Gegenwart dieses ungewöhnlichen Mannes, der seinen Lebensunterhalt tatsächlich damit verdiente, dass er sich vor fremden Frauen auszog.
»Aber nur bis zum Schlüppi«, wie er betonte.
»Das war mein Anwalt«, log Klara. Sie würde Hendrik später von ihrem Gespräch mit Jules erzählen, wenn das Kind schlief und sie selbst mal wieder kein Auge zubekam. Es gab kein besseres Aufputschmittel als eine albtraumhafte Vergangenheit.
»So, dann erzähl doch mal, was machen wir drei Hübschen mit dem angebrochenen Tag?«, fragte Hendrik, der Gesprächspausen und Schweigeminuten für überflüssig hielt, wie Klara in den letzten Wochen hatte lernen müssen. Allerdings, das musste sie ihm zugutehalten, hätte sie sich auch niemals auf ein Date mit ihm eingelassen, wenn er sie nicht so intensiv bequatscht hätte.
Schon bei ihrem ersten Besuch an seinem Krankenbett fing es an. Klara hatte sich für ihre Tat entschuldigen wollen, und er war putzmunter und quatschte wie ein Wasserfall. Noch immer kam es ihr wie ein böser Albtraum vor, dass sich der Schuss aus der Pistole in ihrer Hand gelöst und ihn getroffen hatte.
»Warum war die Waffe geladen?«, hatte sie ihn bei ihrem Wiedersehen gefragt, und er hatte mit einem fast schon bemitleidenswerten, niedlichen Schalkgesicht geantwortet: »Eifersüchtige Männer. Du weißt doch, ick bin Stripper. Ick bin schon so oft von Kerlen überfallen worden, die wissen wollten, ob ihre Frauen beim Junggesellinnen-Abschied zu weit gegangen sind. Also hab ick mir zur Beruhigung ne Knarre geholt.«
Zu seiner »Sicherheit« habe er auch immer sein Kostüm nach der Vorstellung anbehalten, »bis ick zu Hause bin . Damit niemand mein Gesicht sieht und mir uffm Parkplatz auflauert.«
Er wusste selbst, dass hier mehr als nur ein bisschen Paranoia im Spiel war und er maßlos übertrieb. Hendrik war im Grunde ein eher schüchterner Zeitgenosse, der seine Unsicherheit mit Krafttraining, erotischen Posen und einer scharfen Waffe kompensierte, die er selbst niemals hätte abfeuern wollen. Wegen seiner Vorstrafe (er hatte drei Jahre lang »vergessen«, die Umsatzsteuer aufzuführen) war ihm die Waffenbesitzkarte entzogen worden. Dafür und für die unsachgemäße Verwahrung der Pistole würde er sich erneut vor Gericht verantworten müssen. All das hatte er Klara beim »Versöhnungskäffchen« in der Krankenhauscafeteria gestanden.
»Ja, ick hab gelogen. Die Knarre war echt. Aber ich hielt dich für eine Wahnsinnige, die nachts durch den Wald jockelt und mein Auto klauen will. Du solltest erst gar nicht uff den Gedanken kommen, damit rumzufuchteln, also hab ick gesagt, sie ist zu nüscht nütze.«
Klara beugte sich nach vorne, tätschelte seine prankenartige Hand, die sie noch nie intim berührt hatte, einfach weil es dafür noch viel zu früh war, wenn es überhaupt jemals geschehen würde, und fragte ihn: »Hast du es gefunden?«
Hendrik nickte und zog das Kuvert hervor. Der zweite Mann, der ihr in diesem Café einen Umschlag auf den Tisch legte, nur dass der von Hendrik sehr viel dicker war.
»Wie viel ist das?«, wollte er wissen.
»Viel.«
Sie hatte ihn gebeten, das Geld aus dem Tresor im Haus am Lietzensee zu holen. Aus der Wohnung, die sie nie wieder in ihrem Leben betreten würde.
»Ich denke, so etwa um die zehntausend Euro.«
Das war das »Spielgeld« gewesen, das Martin zu Hause aufbewahrt hatte.
Hendrik pfiff anerkennend durch die Zähne. »Wow, und wofür brauchste den Batzen heute so dringend?«
Klara sah aus dem Fenster zu den S-Bahn-Bogen am Savignyplatz, die man in einiger Entfernung gerade noch so erkennen konnte.
»Bin gleich wieder da«, murmelte Klara und stand auf.
Sie bat den verdatterten Hendrik, kurz auf Amelie aufzupassen, und ging zum Ausgang.
»Wo gehst du hin?«, rief er ihr nach, und sie lächelte ihn an, während sie sich umdrehte.
»Ich versuche das Unmögliche.«
Es wiedergutzumachen.
»Vielleicht gelingt es mir.«
Klara trat nach draußen in die kalte Januarluft und musste darüber nachdenken, dass »vielleicht« auf Erden das womöglich grausamste und hoffnungsvollste Wort zugleich war.
Vorsichtig näherte sie sich dem Nachtlager des Obdachlosen auf seiner durchweichten Matratze, der unter einer Plastikplane mit furchtsamem Blick zu ihr herauslugte. Ein Blick, der ihr klarmachte, dass Angst und Schmerzen nie wieder zurückgenommen werden konnten, wenn man sie einem anderen einmal zugefügt hatte.
Aber manchmal gelingt es, die Erinnerung daran etwas erträglicher zu gestalten.
Vielleicht, dachte Klara und griff nach dem Kuvert, um es dem Professor zu geben, in dessen traurigen Augen so etwas Ähnliches wie Hoffnung zu sehen war.
Wenn sie sich nicht täuschte.
Vielleicht.