Zu meinem Roman
Berlin, 1. April 2020
L
eider ist das hier kein Aprilscherz: Ich schreibe diese Zeilen zu einem Zeitpunkt, zu dem ich mich gemeinsam mit Millionen anderer Menschen in einem realen Thriller befinde, der den Namen »Corona« trägt.
Mein Kopf platzt angesichts der Informationsflut, mit der ich ihn seit Wochen vollpumpe. Vorgestern meldete mir mein Handy, dass meine durchschnittliche Bildschirmzeit in der letzten Woche acht Stunden und zwanzig Minuten am Tag betrug! (Also satte drei Minuten länger als sonst!)
In dieser Sekunde läuft über den Liveticker, dass Italien die Ausreiseverbote bis zum dreizehnten April verlängert, Lufthansa 87000 Mitarbeiter in Kurzarbeit schickt, in Panama Männer und Frauen nur noch getrennt auf die Straße dürfen und die Zahl der am Covid-19-Virus verstorbenen Menschen in den USA
auf 4000 gestiegen ist. In Deutschland sind 69346 Infizierte gemeldet, und wir haben 774 Tote zu beklagen. Es ist der erste April. Und niemand weiß aktuell, wo das endet.
Aber es gibt Hoffnung. Und wenn Sie diese Zeilen jetzt lesen, dann hat sich meine Hoffnung realisiert. Denn im Moment, um 10.37 Uhr Berliner Zeit, habe ich keine Ahnung, ob »Der Heimweg« pünktlich im Herbst erscheint. Selbstverständlich gibt es derzeit sehr viel drängendere Probleme als den Veröffentlichungstermin eines Psychothrillers. Wenn Sie ihn aber jetzt in gebundener Form in Händen halten, bedeutet es, dass die Druckereien noch arbeiten. Dass die Lieferketten nicht völlig zusammengebrochen sind. Und dass es den Buchhandel zumindest in irgendeiner Form noch gibt. (Wenn Sie ihn als E-Book lesen, funktioniert wenigstens noch das Internet, auch schon mal was.)
Gerade eben durfte ich ein dpa-Interview führen, in dem ich gefragt wurde, ob das Szenario, in dem wir alle stecken, nicht die Vorlage für einen Thriller sei. Ich gab eine eindeutige Antwort: »Nein!«
Oft wurde ich in der Vergangenheit kritisiert, weil die Geschehnisse in meinen Büchern ja gar nicht real seien. Weil bestimmte Verbrechen unrealistisch wären und nur meiner Fantasie entsprängen. Heute sage ich: »Zum Glück!«
Ich schreibe zum Zwecke der Unterhaltung. Dafür will ich gar nicht das real existierende Leid in der Welt detailgetreu ausschlachten. Ich habe nie verstanden, weshalb es in den Augen sogenannter Kritiker erstrebenswert sein soll, dass sich etwa der hinterbliebene Ehemann beim Lesen denkt: »Gut recherchiert, Herr Fitzek. Genauso grausam wurde meine Frau von dem Serienkiller hingerichtet!«
Wieso lesen wir dann aber überhaupt gruselige Geschichten, wurde ich als Nächstes gefragt. Wäre es angesichts der gegenwärtigen Katastrophe nicht besser, sich mit etwas »Seichtem« zu beschäftigen? (Was auch immer damit gemeint sein mag.)
Auch hier verneinte ich und konnte die Gelegenheit nutzen, mit einem großen Irrtum aufzuräumen. Menschen, die Spannungsliteratur nicht mögen, äußern nämlich häufig völliges Unverständnis, wie man Vergnügen daran haben könne, sich mit dem Tod zu beschäftigen. Der Fehler bei dieser Betrachtung: Gute Spannungsliteratur ist in erster Linie immer eine Auseinandersetzung mit dem Leben!
Auch schon vor Corona haben viele, die meine Bücher lesen, schlimme Schicksalsschläge erleiden müssen. Das weiß ich aus zahlreichen Zuschriften, die mich unter fitzek@sebastianfitzek.de erreichen. (Sorry, falls ich nicht immer alle beantworten kann.)
Wenn ein Autounfall, den man nur knapp übersteht, eine schwere Krankheit, die man zum Glück überwunden hat, oder der viel zu frühe Tod eines nahen Angehörigen überhaupt einen Lichtblick zulässt, dann die Erkenntnis, dass jeder Schicksalsschlag uns dazu bringt, über den kostbaren Wert des Lebens nachzudenken.
Was habe ich vor Corona alles für selbstverständlich gehalten: den Besuch im Kino, Shopping mit Freunden, das Essen beim Italiener, den Sommerurlaub in Griechenland, den Gang zum Tennisplatz …
Die Katastrophe – und das ist die einzig gute Nachricht – ordnet meine Prioritäten neu. Zeigt mir etwa, wie toll eine Online-Gemeinschaft sein kann, aber wie weitaus wichtiger der reale Kontakt zu meinen Mitmenschen ist.
Ein guter Thriller konfrontiert uns mit einer erfundenen Gefahr und schult dadurch unsere Empathie. Er lässt uns am Ende auch über uns selbst nachdenken. Wie würden wir uns in einer Extremsituation verhalten?
Gewalt, so meine These, die in diesem Thriller eine große Rolle spielt, zerrt uns die Maske vom Kopf. Und glauben Sie mir, jeder von uns trägt eine. Allein unsere Kleidung und die Frisur maskieren uns. (Ich etwa kaschiere mein Hüftgold mit weiten Hemden und habe einen Haarschnitt, der meine Geheimratsecken nicht wie Flugzeuglandebahnen aussehen lässt. Zumindest hoffe ich das, bitte zerstören Sie mir nicht die Illusion.) Im Angesicht einer Katastrophe sind wir jedoch »nackt«. Wir haben keine Zeit mehr für große Reden und langfristige Pläne. Wir müssen handeln – und zwar sofort. Deshalb heißt es, dass die Krise immer das Beste und das Schlechteste im Menschen hervorbringt. Ich konkretisiere: Die Krise entlarvt den Menschen. Sie zeigt uns sein wahres Ich. Aus diesem Grund schmeiße ich meine Protagonisten immer so gerne ins kalte Wasser und habe ein diabolisches Vergnügen, ihnen beim Strampeln zuzuschauen. Dieses Vergnügen jedoch vergeht mir, wenn das Wasser aus der Fiktion in die Realität schwappt. Dann taugt es meiner Meinung nach nicht mehr als Nährboden für Unterhaltung.
Wie so oft hat sich auch mit Corona leider wieder eine alte Schriftsteller-Weisheit bewahrheitet: Die Realität ist skurriler, grausamer und unvorstellbarer als die Fiktion. Oftmals müssen wir Autoren die reale Wahrheit abändern, damit uns die fiktive Lüge geglaubt wird.
Apropos Wahrheit:
Das Heimwegtelefon gibt es wirklich! Surfen Sie mal bei Gelegenheit auf www.heimwegtelefon.net vorbei. Die Geschehnisse und Abläufe rund um das in diesem Thriller auftauchende »Begleittelefon« entspringen indes allein meiner Fantasie (wie oben schon ausgeführt). Auch habe ich mir beim Begleittelefon einige künstlerische Freiheiten herausgenommen, was die Arbeitsabläufe und die Technik anbelangt. So ist das echte Heimwegtelefon ein Service für alle Menschen, während »mein« Begleittelefon sich auf Anrufe von Frauen spezialisiert hat.