Als ich am Tag darauf in der U-Bahn nach Green Park saß, fühlte sich mein Magen an wie ein Sack zuckender Schlangen. Mia und Ruby hatten mir verboten, zu Fuß zu gehen, da sie meinten, ich würde sonst verschwitzt ankommen. Oder zumindest noch verschwitzter, dachte ich und spähte unter meine Jacke, wo ich dunkle Flecken sah, die sich in meinen Achselhöhlen ausbreiteten. Ich trug ein knielanges grünes Kleid von Ruby, das an der Taille gegürtet war. »Betont deine Möpse«, hatte Ruby behauptet.
Ich hatte geantwortet, dass ich keine hätte, aber sie meinte, dass das Blödsinn sei und ich gefälligst aufhören sollte, sie unter »öden Arbeits-T-Shirts« zu verstecken.
Kaum, dass ich mich am Vormittag vor ihrem Badspiegel auf einen Hocker gesetzt hatte, hatte Mia sich auch schon mit einer verblüffenden Auswahl von Make-up-Pinseln, Foundation, Concealern und Highlightern ans Werk gemacht. Tupf, tupf, tupf. Eine zarte Schicht Lidschatten. »Nur damit deine Lider ein bisschen weniger lila aussehen«, hatte sie erklärt. »Und du musst dich echt mal um deine Augenbrauen kümmern.«
»Was stimmt denn nicht mit ihnen?«
»Die brauchen einen eigenen Stylisten. Halt jetzt still.«
Einmal die Wimpernzange geschwungen. Dann mehrere Schichten Wimperntusche. Augenbrauen-Gel. Bronzer, der über Stirn und Nase verteilt wurde. Der Hauch eines Rougepinsels, der über meine Wangen fegte.
»Lippenstift«, sinnierte Mia, durch ihre Schminktasche wühlend.
»Nein«, beharrte ich. »Ich habe einen Blistex in meiner Tasche.« Als er mir in der U-Bahn einfiel, griff ich nach dem Tübchen, schraubte den Deckel ab und fuhr mir mit dem Finger über die Lippen. Ich atmete unauffällig in meine hohle Hand, um meinen Atem zu überprüfen. Besser, ich genehmigte mir noch eine Pfefferminzpastille.
Als die Türen an der Haltestelle aufgingen, war ich so nervös, dass ich nicht aussteigen wollte. Dann, während die Rolltreppe mich nach oben ins Sonnenlicht beförderte, checkte ich noch mal meine Achselhöhlen und ermahnte mich, die Jacke die ganze Zeit anzulassen.
Als ich unter dem Torbogen hindurch in den gepflasterten Innenhof der Akademie spazierte, ließ ich die Finger unter den Ärmelsaum gleiten, um meinen Puls zu kontrollieren. Durfte mein Herz so schnell schlagen, oder war ich nur Sekunden von einem medizinischen Notfall entfernt? Ich blickte zu dem blassen Mauerwerk der Royal Academy auf und begann, zur Ablenkung die Fenster zu zählen. »Eins, zwei, drei, vier …«
»Florence! Hier drüben!«, rief eine Stimme, und ich spähte blinzelnd zu einer Ecke des Hofes, wo ich Rory winken sah. Er lehnte lässig an einer Mauer und trug ein hellblaues Hemd sowie einen braunen Filzhut. Er sah kein bisschen nervös aus. Hätte man jedoch mich nach meinem eigenen Namen und der aktuellen Jahreszahl gefragt, hätte ich passen müssen. Mir erschien er auf so einschüchternde Weise attraktiv und beherrscht wie ein Fotomodel.
»Hallo«, grüßte er, als ich näher kam. Er nahm seinen Hut ab und beugte sich vor, um mich auf die Wangen zu küssen. Wieder dieser Zitrusduft.
»Hi«, brachte ich hervor und errötete im nächsten Moment. Ich schaffte es kaum, ihn anzusehen, aber als er meinen Blick auffing, bemerkte ich, dass seine Augenfarbe zu der seines Anzugs passte.
»Sollen wir reingehen?«, schlug er vor. »Die Ausstellung hat fantastische Kritiken. Hast du sie gelesen?«
Ich schüttelte den Kopf. Von Kunst verstand ich nicht viel – Bildbände fielen in Eugenes Zuständigkeitsbereich.
Rory plapperte munter weiter, während er mir die Eingangstür aufhielt und mich zur Treppe führte. »Ich bin kein großer Fan ihrer religiösen Arbeiten. Zu blumig und idealisiert. Aber der Telegraph nannte die hier einen ›sexy Aufstand des Fleisches‹, und da dachte ich mir, das dürfen wir uns auf keinen Fall entgehen lassen, oder?« Er lachte und trat auf dem oberen Treppenabsatz vor einen Schreibtisch. »Zweimal, bitte.«
Ich schaute zu einem riesigen Poster vor uns an der Wand auf. Sex, Macht und Gewalt in der Aktmalerei der Renaissance stand über dem Bildnis einer nackten schlafenden Frau. Eine Hand war über ihren Kopf gelegt, die andere fummelte zwischen ihren Schenkeln herum.
»Mittelalterliche Masturbation«, bemerkte Rory mit einem Nicken zu dem Plakat.
Ich lachte und lief schon wieder knallrot an. Konnte man eigentlich vom Rotwerden sterben?
»Komm mit«, sagte er, und ich spürte seine Hand auf meinem Rücken, als er mich durch die Tür in den ersten Ausstellungsraum führte.
Ich schob mich an einer korpulenten Frau in Pelzmantel vorbei, um einen Einführungstext an der Wand zu lesen, doch die Schrift war zu klein.
»Damit wollen wir uns nicht aufhalten«, meinte Rory mit einer wegwerfenden Handbewegung Richtung Wand. »Ich erzähle dir was darüber, während wir herumgehen.«
Ich war völlig überfordert. Das erste Gemälde, vor dem wir stehen blieben, stammte von Tizian – eine splitterfasernackte Venus, die ihr Haar im Meer wusch, ihre Nippel so prall wie Himbeeren. »Siehst du das?«, fragte Rory, auf eine Muschelschale neben ihrem Schenkel deutend. »Darin wurde sie geboren und ans Ufer getragen.«
Als Nächstes kamen Adam und Eva, nackt wie Gott sie schuf, wobei Eva sehnsuchtsvoll einen Apfel an ihrer Wange rieb. Dann folgte das Gemälde eines pummeligen und echt hässlichen Jesuskindes von einem flämischen Maler. Bei jedem Bild erklärte Rory die Hintergrundgeschichte, und meine Verlegenheit angesichts von so viel Nacktheit verzog sich allmählich.
»Woher weißt du das alles?«, fragte ich ihn.
»Von meiner Mutter. Sie liebte Kunst schon immer, und ich bin ein Einzelkind, also musste ich alles über mich ergehen lassen. Das komplette Programm. Von wegen Strandurlaub. Es hieß Rom, Florenz, Venedig … Jede Ausstellung sehen, die sie finden konnte. Oh, schau, dieser Tizian ist besonders exquisit!«
Rory ergriff meine Hand und zog mich vor eine weitere sich rekelnde Frau, deren Hand in ihrem Schritt ruhte und die uns mit gelangweilter Miene betrachtete.
»Ist das nicht außergewöhnlich?«, fragte er, während er die Leinwand musterte. »Es ist eines seiner berühmtesten Bildnisse. Er hat es damals für einen italienischen Edelmann von dessen frisch angetrauter Gattin angefertigt. Siehst du den Hund und die Mägde?« Er deutete auf einen kleinen Spaniel, der zusammengerollt auf den Laken lag, sowie zwei Mägde im Hintergrund.
Ich nickte.
»Sie sind dazu gedacht, seine Frau daran zu erinnern, bei all den Plackereien des Ehelebens das Schlafzimmer nicht zu vernachlässigen.«
Er drehte sich mit einem Zwinkern zu mir um, und ich prustete laut los, bevor ich mir die Hand vor den Mund schlug. Die Stimmung in den Ausstellungsräumen war zu gedämpft für johlendes Gelächter.
»Wollen wir einen Kaffee trinken?«, fragte er grinsend.
»Ja, guter Plan«, antwortete ich dankbar.
Ich verspürte zwar jenes befriedigende Gefühl wachsender Kultiviertheit, nachdem wir durch eine ganze Reihe von Sälen geschlendert waren, doch all die nackten Damen mit ihrem Hüftgold, dem üppigen Haar, das sich kunstvoll über ihre Schultern ergoss, den Brüsten so rund wie Makronen, fingen allmählich an, zu einer einzigen hautfarbenen Soße zu verschwimmen.
Rory schlug vor, ich solle einen Tisch am Fenster des Cafés besetzen, während er sich anstellte. Wie ich so dasaß, blickte ich mich im Raum um und fragte mich, ob Rory und ich aussahen wie zwei Fremde auf einem Date oder einfach wie zwei Freunde, die sich trafen. Umgeben von Touristen und mit leeren Zuckerpäckchen übersäten Tischen, fühlte es sich nicht unbedingt wie ein Rendezvous an. Mehr wie ein Vorstellungsgespräch, wie ich Jaz gesagt hatte. Vielleicht würde Rory gleich zum Tisch zurückkehren, um mich zu fragen, was meine Stärken und Schwächen waren und wo ich mich in fünf Jahren sah? Ich warf einen Blick auf mein Handy.
Ruby: Update, bitte schön!
Mia: Kommt er mit zur Hochzeit?
Ich ließ es in meine Tasche gleiten, da Rory sich bereits mit einem Tablett zwischen den Tischen hindurchschlängelte.
»Da wären wir«, sagte er, stellte die Kaffeetassen und einen Teller mit Shortbread auf den Tisch, bevor er das Tablett auf einen leeren Stuhl schob, sodass es unter dem Tisch verborgen war. »Sonst sieht es aus, als wären wir in der Schulmensa. Bäh.« Er schüttelte sich.
»Wie ist dein Buch?«, stellte ich die Frage, die ich mir überlegt hatte, während er anstand. Es war immer gut, ein bisschen vorbereitet zu sein, um peinliches Schweigen zu vermeiden.
Rory kräuselte verwirrt die Stirn.
»Kampfansage.«
Er kniff die Augen zusammen. »Ich muss dir etwas beichten.«
»Was denn?«
»Ich hatte es schon gelesen.«
»Wie meinst du das?«
»Bevor ich in den Laden kam. Und Dooleys erstes Buch auch. Inmitten der Nacht. Du hast recht. Es ist großartig.«
»Aber warum hast du es dann …?«
»Gekauft? Weil ich mich weiter mit der charmanten Frau in dem Laden unterhalten wollte. Sie heißt übrigens Florence, und ihr Nachname ist …?«
»Fairfax«, antwortete ich, erneut heftig errötend. Ich würde wahrscheinlich demnächst einen Arzt konsultieren müssen.
»Sie heißt Florence Fairfax, ganz genau. Ich wollte mich eben weiter mit ihr unterhalten. Und auch die Tatsache überspielen, dass meine Mutter ein Buch über erotische Kunst bei ihr bestellt hatte.«
Ich lachte und lehnte mich sofort zurück, vor Sorge, dass ich ihm meinen Kaffeeatem entgegengeweht hatte. »Oh, ich verstehe«, erwiderte ich. »Also war es eine heimtückische List?«
»Um heimtückisch zu sein, müsste doch eine böse Absicht dahinterstehen, oder?«
»Und du hegst keine?« Ich bemühte mich, seine Coolness zu kopieren, wo es doch die Art Frage war, von der so viel abhing. Die Art Frage, die sich manche von uns schrecklich zu Herzen nehmen und deren Antwort wir in unserem Kopf hin und her wenden würden wie eine Glaskugel, ganz so, als könnte man ein geheimes Wissen daraus ablesen.
Rory schüttelte den Kopf. »Nicht im Geringsten. Ich bin durch und durch ein aufrichtiger Typ.« Er lehnte sich zurück und verhakte die Daumen unter seinen Hosenträgern.
»Was machst du eigentlich so?«, wechselte ich die Richtung. Ich konnte ihn mir nicht in einem Büro vorstellen, wo er schwitzend über irgendwelchen Excel-Tabellen saß.
»Ich arbeite im Auswärtigen Amt.« Er verkündete das so beiläufig, als wäre es das Postamt.
»Wow. Und was tust du da?«
»Ich bin ein Sobi – ist nur meine persönliche Abkürzung für Sonderberater.«
»Und wen berätst du?«
»Den Minister. Aber ich hoffe, bei den nächsten Wahlen selbst zu kandidieren.«
»Als Abgeordneter?« Ich versuchte, nicht ungläubig zu klingen.
Er nickte. »Mein Großvater war auch Abgeordneter, und schon als Jugendlicher dachte ich, warum eigentlich nicht?«
»Kandidierst du für die Konservativen?« Sein vornehmer Akzent und die schicke Kleidung hatten mich darauf schließen lassen.
Rory verzog einen Mundwinkel, bevor er antwortete. »Wenn ich Ja sage, kannst du mich dann weniger gut leiden?«
Ich lächelte. »Nein, ich finde es … bewundernswert, sich dem allen aussetzen zu wollen. Ich könnte mir das nicht vorstellen. All diese Reden …« Jetzt war ich an der Reihe zu schaudern.
»Aber lass uns nicht über Politik sprechen.« Rory zerbrach das Shortbread und hielt mir ein Stück hin. »Ich verbringe mein gesamtes Leben damit, über Politik zu sprechen. Was ist mit dir? Wie kommt es, dass Florence Fairfax in einer Buchhandlung in Chelsea arbeitet? Was ist ihre Geschichte?«
»Ich arbeite da einfach schon immer«, sagte ich und spielte dabei am Henkel meiner Tasse herum. »Ich habe an der Uni englische Literatur studiert und wusste nicht so recht, was ich damit anfangen sollte. Aber ich liebe das Lesen. Also bin ich dort gelandet.«
»Und denkst du, du wirst dort bleiben?«
»Im Laden?«
Er nickte.
»Ja. Obwohl …« Ich hielt inne und seufzte. »Die Miete wird schon wieder erhöht, und Norris, der Besitzer, ist in heller Aufregung deswegen. Also, wer weiß. Aber ich schreibe nebenbei Kinderbücher. Na ja, nicht Bücher. Ein Buch. Über eine Raupe namens Zelda. Ich hoffe, dass sich daraus vielleicht etwas ergibt.«
»Wie süß. Und was ist mit deiner Familie?«
»Was soll mit ihr sein?«, fragte ich etwas verwirrt. Er hatte die letzten Fragen so rasch runtergerattert, fast so, als wäre das ein Interview, und ich bekam Angst, dass ich etwas Falsches sagen würde.
»Na, wie sind sie? Verstehst du dich mit ihnen?«
»Oh, das. Ja, meistens schon. Ich wohne mit meinen zwei Schwestern in einem Haus in Kennington. Na ja, eigentlich sind es meine Halbschwestern. Und mein Dad … wobei, warte mal, du bist ihm womöglich schon begegnet: Er heißt Henry Fairfax, der Botschafter in Argentinien?«
»Du machst wohl Witze?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Nein, ich bin ihm nicht begegnet, aber ich weiß, wen du meinst. Was für ein Zufall, dass er dein Vater ist. War er davor nicht in Pakistan?«
»Ja, genau. Du weißt aber Bescheid!«
Rory grinste. »Ist Teil meiner Jobbeschreibung. Fliegst du oft dorthin?«
»Argentinien?« Ich schüttelte erneut den Kopf. »Nein, ich war noch nie dort. Er kommt hin und wieder hierher, aber nur ganz kurz und auch nur, wenn Meetings anstehen.«
»Ist deine Mutter bei ihm in Argentinien?«
»Nein. Sie ist gestorben, als ich drei war.« Ich war mittlerweile so daran gewöhnt, das zu sagen, dass ich manchmal vergaß, welchen Effekt das auf andere Leute hatte, ihre stammelnde Betretenheit.
»Oh, was bin ich doch für ein Trampel. Tut mir leid.«
»Ist schon okay. Das ist lange her.«
»Was ist passiert?«, fragte er, während sein Blick auf mir verharrte.
»Autounfall. Nicht ihre Schuld. Einfach … einer dieser Unfälle.«
Er verzog das Gesicht. »Tut mir leid.«
»Ist schon okay. Ich hatte in vielerlei Hinsicht Glück. Ich habe schließlich immer noch eine Familie.« Das rief ich mir in Erinnerung, wann immer ich mit dieser komischen Stimmung aufwachte, wenn ich mir wünschte, das Leben mit irgendwem anderen, den ich auf Instagram gesehen hatte, zu tauschen. Ich konnte mich glücklich schätzen – ich hatte einen guten Job, und ich lebte immer noch im Haus meiner Kindheit. Irgendwann würde ich mich verlieben. Musste ich. Selbst Hitler hatte eine Freundin gehabt. Ich konnte unmöglich der einzige Mensch sein, der nie eine richtige Beziehung haben würde.
»Ich finde, du bist ein bisschen streng mit dir, oder nicht?«
Ich runzelte die Stirn. »Wie kommst du darauf?«
»Na ja«, begann Rory und beugte sich über den Tisch vor, »ich denke, wenn man ohne Mutter aufgewachsen ist, muss man sich nicht einreden, dass das okay ist, nur weil man immer noch zwei Schwestern und einen Vater hat. So funktioniert das nicht.«
»Ich habe auch eine sehr engagierte Stiefmutter«, fügte ich grinsend hinzu.
»In diesem Fall nehme ich alles zurück. Was murrst du überhaupt herum?«, erwiderte er, was mich zum Lachen brachte. Dabei hatte mich noch nie jemand zum Lachen gebracht, wenn das Gespräch auf meine Mutter kam. Normalerweise versuchte ich, das Thema komplett zu umgehen.
Wir saßen noch eine ganze Stunde gemeinsam am Tisch, redeten und tasteten uns langsam aneinander heran. Er war in Norfolk aufgewachsen und lebte nun in Pimlico. Ich erzählte ihm von meiner französischen Großmutter und davon, dass meine Halbschwester gerade einen Hochzeitsfetisch entwickelte.
»Willst du denn nicht heiraten?«, fragte Rory, und urplötzlich hatte ich das Gefühl, gleich einen Stolperdraht auszulösen. Wie lautete die richtige lockere, ungezwungene Antwort darauf, und das vor einem Mann, den man jetzt schon mochte?
»Ähm, doch, ich denke schon«, begann ich. »Ich … kann mir nur nicht vorstellen, dass ich deswegen durchdrehe.«
»Ich kann es kaum erwarten.«
»Zu heiraten?«, hakte ich sicherheitshalber überrascht nach.
»Genau. Das volle Programm: Hochzeit, Familie, Hund.«
»Oh, klar«, erwiderte ich, unsicher, was ich sonst sagen sollte. Es schien mir unfair, dass ein Mann das zugeben durfte, dass er freiheraus erklären konnte, dass er sich inbrünstig nach häuslicher Harmonie sehnte, aber Frauen jedes derartige Verlangen versteckt halten sollten. »Ich dachte, du magst Katzen?«, fragte ich und dachte in diesem Moment sowohl an meine Liste als auch an Marmalade, der sich wahrscheinlich gerade den Hintern auf meinem Bett putzte.
»Idealerweise hätten wir beides.«
Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, aber ich hatte das Gefühl, als würde mein gesamtes Gesicht sich bei dem »wir« in seinem Satz zu einem Lächeln verziehen.
»Nun gut«, sagte er und griff nach dem Tablett unter dem Tisch. »Das war ein wunderschöner Nachmittag, aber ich sollte los. Muss vor morgen früh noch diversen Kleinkram lesen.«
»Cool«, erwiderte ich und wünschte mir in diesem Moment, der Nachmittag wäre nicht so rasch vergangen. Aber selbst falls es sich hiermit erledigt hätte und ich ihn, so wie die anderen Typen, nie wiedersehen würde, hatte ich doch zumindest eine nette Zeit mit ihm verbracht. Besser als nett. Es war toll gewesen. Ich hatte nicht mal was Peinliches getan, bis auf drei Stunden am Stück durchzuschwitzen, aber was das anging, musste ich lediglich heimgehen und ein großes Glas Wasser trinken.
»Was hast du heute Abend noch vor?«, erkundigte er sich.
Normalerweise verbrachte ich meine Sonntagabende damit, die Haferkekse für die Woche vorzubacken und zwanghaft meine Unterhosen in der Kommode neu zu falten. »Wahrscheinlich bisschen in der Badewanne lesen und dann früh ins Bett.«
Er schob das Tablett in einen Metallständer, und wir spazierten schweigend Richtung Hof hinaus, während mein Herz im Rhythmus unserer Schritte auf den Stufen schlug.
»Also«, sagte Rory, blieb vor dem Steinbogen zur Piccadilly Road stehen und drehte sich zu mir. »Wie kommst du nach Hause?«
»Zu Fuß.«
»Die ganze Strecke nach Kennington?«
Ich lächelte. »Ich gehe gerne zu Fuß. Es ist nicht so weit.«
»Okidoki, ich springe in die Bahn. Aber vielen Dank, das war schön.«
»Ja, ich auch. Verdammt. Ich meine nicht, ich auch, sondern danke auch. Falls das Sinn ergibt?« Ich lief schon wieder feuerrot an.
»Ich weiß, was du meinst«, sagte Rory. Dann beugte er sich vor und küsste mich ganz leicht auf den Mund. »Bis bald, Florence Fairfax.«
Ich sah ihm hinterher, als er zur U-Bahn-Station ging. Wenn er sich in den nächsten sechs Sekunden umdreht, sagte ich mir, dann hat das hier wirklich was zu bedeuten und er wird sich nicht einfach verkrümeln. Ich zählte in meinem Kopf und spürte ein Gefühl von Panik in mir aufsteigen. Bitte, lass ihn sich umdrehen, ja? Könnte er sich bitte zu mir umdrehen? Meine freudige Aufregung würde sich in tiefe Trübsal verwandeln, falls er es nicht tat.
Er drehte sich um, als ich die Vier erreichte, grinste und tippte sich mit den Fingern an die Stirn, wie er es im Buchladen schon getan hatte. Ich erwiderte sein Lächeln, dann machte ich mich auf den Weg nach Hause. Es war erstaunlich, wie schnell es passieren konnte. In der Spanne eines einzigen Nachmittags hatte mein Gehirn sämtliche anderen Gedanken entsorgt, sodass da nur noch Platz für Rory war. Ich registrierte nicht mal die Farbe der Autos, die an mir vorbeifuhren.
Er schrieb mir am nächsten Morgen. Mir ist bewusst, dass das etwas sehr übereifrig ist, aber ich würde dich gerne bald wiedersehen. Wärst du morgen für ein Abendessen zu haben?
Wenn am morgigen Abend meine eigene Beerdigung angestanden hätte, wäre ich aufgesprungen und hätte darauf bestanden, dass ich mich tatsächlich schon viel besser fühlte.
Ich antwortete ihm, dass ich Zeit hätte, woraufhin er eine weitere Nachricht schickte, in der stand, ob er um zwanzig Uhr mit »meiner Anwesenheit« in einem Restaurant namens Ratatouille in Battersea rechnen dürfe. Rory textete genauso gewählt, wie er sprach – so als ob Mr. Bingley aus Stolz und Vorurteil ein Smartphone in die Finger bekommen hätte. Es beeindruckte mich; er schien so viel kultivierter als andere Männer. In der AmbergateRoad-WhatsApp-Gruppe, die nach unserer Straße benannt war und die aus mir, Ruby, Mia und Hugo bestand, sandte Hugo Nachrichten wie: Mia, wann daheim? Oder: Kanns jemand Klopapier kaufen?, so als wäre er nicht in der Lage, simpelste Sätze zu formulieren.
»Eugene, würde es dir was ausmachen, wenn ich die erste Pause nehme?«, fragte ich am Dienstagvormittag. »Ich muss nur ein paar, äh, Besorgungen machen.« Ich hatte ein altes schwarzes Kleid von Whistles in meinem Schrank wiederentdeckt, aber es war verhältnismäßig tief ausgeschnitten, sodass ich einen neuen BH brauchte, der alles ein paar Zentimeter weiter nach oben hievte.
»Nein, alles gut, Schätzchen, geh du nur«, erwiderte Eugene. »Guten Morgen, Adrian«, schob er hinterher, als einer unserer Stammkunden durch die Tür kam. »Wie geht es uns denn heute?«
»Famos, ganz famos«, erwiderte Adrian. Er war General im Ruhestand und schätzte unsere Geschichtsbücher.
»Brauchen Sie Hilfe, oder wollen Sie lieber alleine etwas stöbern?«
»Nur keine Umstände«, winkte Adrian ab, während er schon auf die Biografien zuwankte.
»Wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf«, sagte Eugene, als ich mich dem Büchertisch vor mir zuwandte, »du scheinst mir heute ungewöhnlich gut gelaunt.«
»Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich heute Abend ein Rendezvous habe.«
Eugene schlug sich beide Hände an die Wangen. »Lasst die Fanfaren erklingen! Wie ist es denn dazu gekommen?«
»Er war letzte Woche hier im Laden, am Sonntag haben wir uns zum Kaffeetrinken getroffen, und heute steht ein Abendessen an.«
»Wo?«
»Im Ratatouille. In Battersea.«
Er nickte beifällig. »Sehr gute Wahl.« Dann kräuselte er die Stirn. »Was ziehst du an?«
»Nicht das hier, keine Sorge«, sagte ich und strich mit den Händen über mein dunkelblaues T-Shirt und die bequeme Hose. »Ich habe ein altes schwarzes Kleid im Schrank gefunden.«
»Zu welchen Schuhen?«
»Schuhe mit Absatz und Strumpfhose.«
Er nickte erneut. »In Ordnung, das lasse ich durchgehen. Und ich hoffe sehr, du hast einen Enthaarungstermin gebucht.«
»Was? Warum?«
Eugene seufzte und bedachte mich mit einem Kopfschütteln. »Schätzchen, du darfst nie unvorbereitet in die Schlacht ziehen.«
»Ich habe noch nicht vor, mit ihm zu schlafen«, erwiderte ich spröde, konzentrierte mich wieder auf den Tisch und rückte einen Stapel Napoleon-Biografien gerade. Ich hatte darüber nachgedacht, natürlich hatte ich das. Gestern Nacht hatte ich versucht, mir vorzustellen, wie ich mich rittlings über Rorys Hüften schwang, bevor ich sein Hemd aufknöpfte, aber diese Fantasie wurde von Marmalade unterbrochen, der das Kissen neben mir mit seinen Pfoten knetete.
»Du erinnerst dich noch, was ich über meine uralte Mutter in ihrem Altersheim erzählt habe?«
»Ja, ja, ich weiß.«
»Na schön«, Eugene hob kapitulierend die Hände in die Luft, »sollte ja nur eine freundliche Erinnerung sein. Aber jetzt sag mir, wer ist der Glückliche?«
»Er heißt Rory. Er ist charmant und klug. Und er arbeitet im Außenministerium. Er will Politiker werden und …«
Wir wurden durch ein bellendes Lachen von der Kellertreppe unterbrochen; Zach erschien mit seiner Kamera um den Hals. Er machte immer noch Fotos für die neue Webseite und schien sich endlos Zeit dafür zu nehmen, aber ich sagte mir, dass die Spur von Verwüstung, die er hinterließ – Becher mit kalten Kaffeeresten, die in den Bücherregalen stehen blieben, seine Motorradausrüstung, die den Geschenkeeinpackbereich zumüllte –, dem übergeordneten Wohl des Ladens diente.
»Was ist so lustig?«, wollte ich von Zach wissen.
»Tschuldigung«, sagte Zach und kam auf uns zu, »aber du hast ein Date mit einem Politiker namens Rory. Ein stockkonservativer Tory, stimmt’s? Muss er sein mit dem Namen. Rory, der Tory. Ha!«
Ich sagte nichts darauf.
Zach schaute von mir zu Eugene und wieder zurück. »Es ist nur … Ach, kommt schon, er klingt wie so ein Typ aus einem Evelyn-Waugh-Roman.«
»Ja, weil du so viele Romane von ihm gelesen hast, stimmt’s?« Ich konnte mir Zach – heute wieder in schwarzem T-Shirt und schwarzer Jeans, das schwarze Haar zerzaust in die Stirn fallend – nicht vorstellen, wie er es sich mit einer Ausgabe von Wiedersehen mit Brideshead gemütlich machte. Er sah eher aus wie ein Holzfäller als wie eine Leseratte.
»Habe ich aber«, sagte Zach und ging in die Hocke, um ein Foto zu machen. »Zumindest die meisten von ihm, aber Scoop ist mein Favorit, weil es da um Kriegsjournalismus geht, und das wollte ich immer machen.« Er schaute von seiner Kamera auf. »Und was ist mit dir?«
In Wahrheit hatte ich kaum etwas von Waugh gelesen und auch nur die Filmversion von Wiedersehen mit Brideshead gesehen, also ging ich nicht weiter darauf ein.
»Rory ist gar nicht wie eine seiner Figuren«, sagte ich abwehrend. »Er ist klug und witzig. Und …« Ich wollte mich gerade in die Details seiner Kleidung vertiefen, hauptsächlich Eugene zuliebe, weil ich wusste, dass er die Hosenträger zu schätzen wüsste, aber ich hielt mich davon ab. Zach würde doch nur lachen. »Und außerdem ist er noch gar kein Politiker.«
»Aber er ist ein Tory, stimmt’s?«, bohrte Zach weiter.
»Und wenn?«
»Nichts«, sagte er, wieder in die Kamera spähend. »Ich bin sicher, er ist ganz reizend. Ich bin sicher, er isst keine Babys zum Frühstück und will auch nicht das öffentliche Gesundheitssystem in Grund und Boden stampfen.«
Ich spürte einen Anflug von Ärger. »Das ist typisch.«
»Was denn?«
»Leute aufgrund ihres Namens zu verurteilen. Davon auszugehen, dass er ein Monster ist, wo du doch gar nichts über ihn weißt. Wie kannst du jemanden einfach so in eine Schublade stecken? Das ist so …« Ich hielt inne, während ich nach dem richtigen Wort suchte.
Zach sah mich erwartungsvoll an.
»Das ist so …«, fuhr ich fort. »Das ist einfach so was von … spießig!«
»Kinder, Kinder«, unterbrach Eugene, »jetzt lasst uns mal nicht Adrian den Vormittag ruinieren, indem wir uns hier lautstark über Politik ereifern.«
»Ach, mir geht’s ganz gut«, krächzte Adrian aus einer Ecke und winkte ab.
»Ich gehe jetzt Pause machen«, sagte ich eingeschnappt und griff unter die Kasse nach meinem Rucksack. Die Ladentür ließ sich nicht zuknallen, da sie einen Stopper an den Angeln hatte, aber wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich es getan.
Was für ein arroganter, ungehobelter Computer-Geek, dachte ich bei mir, während ich halb nackt in einer Intimissimi-Umkleidekabine stand und einen schwarzen BH-Träger kürzer stellte. Ganz ehrlich, ich hatte Mitleid mit jeder Frau, die diesen Kerl daten müsste.
Ich wartete, bis die anderen Feierabend gemacht hatten, bevor ich in das beengte Klo runterging, um mich dort umzuziehen. Ich blinzelte krampfig in den Spiegel über dem Waschbecken, während ich versuchte, den Lidschatten so aufzutragen, wie Mia es mir gezeigt hatte. Helles Braun übers Augenlid. Dunkles Braun knapp unter die Augenbraue. Dann verwischen. Ich lehnte mich ein Stück zurück, um das Ergebnis zu inspizieren, und schrie beinahe los. Was machte ein Waschbär hier auf dem Klo? Schnell entfernte ich das Ganze mit einem Feuchttuch, schaute auf mein Handy und sah, dass ich in einer halben Stunde beim Restaurant sein sollte. Mist! Vergiss den Lidschatten! Ich trug einen wackligen Lidstrich auf die vom Rubbeln ganz geröteten Lider sowie etwas Wimperntusche auf, dann tupfte ich noch einen Hauch Rouge auf meine Wangen.
Ich nahm den Bus, der die King’s Road entlang und über die Battersea Bridge fuhr, und zählte währenddessen die Autos, die an uns vorbeikamen. Natürlich war ich komplett verschwitzt, als ich mich durch die Restauranttür schob. Wie machten normale Menschen das eigentlich?, fragte ich mich, während ich mir mit dem Zeigefinger einen Tropfen von der Oberlippe wischte. Wie schafften es normale Menschen, auf eine Verabredung zu gehen und das Ganze zu überleben, ohne vor Scham und Peinlichkeit (und Dehydrierung) zu sterben? Wie gelang es der menschlichen Spezies, sich fortzupflanzen, wenn man schon so einen schrecklichen Hindernisparcours überwinden musste, bis man jemandem im Restaurant gegenübersaß?
Ich reichte gerade einem Kellner Tasche und Jacke, als ich ihn hinter mir hörte; allein seine Stimme sorgte dafür, dass ein Schwall von Adrenalin durch mich hindurchrauschte.
»Hallo.«
»Hi«, erwiderte ich und wirbelte herum. O Gott, die Begrüßung! Wie begrüßte man sich, wenn man sich bereits auf den Mund geküsst hatte? Kehrte man zu zwei Wangenküsschen zurück? Oder doch eher ein kleiner, flüchtiger Kuss auf den Mund? Oder ein Kuss mit dieser ungelenken halbseitigen Umarmung? Ich wünschte mir, ich wäre erfahrener in solchen Dingen, als Rory sich schon zu mir vorbeugte, mich auf die Wange küsste und meinen Oberarm sanft drückte – eine Option, auf die ich nie im Leben gekommen wäre.
Ein Kellner führte uns zu einem Tisch in einer schummrig beleuchteten Ecke – eine Kerze und ein Sträußchen Primeln in einem Marmeladenglas – und zog meinen Stuhl hervor.
»Bitte sehr, Madame, Monsieur, ’ier ’aben Sie die Speisekarten und ’ier die Liste unserer Weine«, sagte er mit einem so heftigen französischen Akzent, dass ich den leisen Verdacht hegte, dass er aufgesetzt war.
»Vielen Dank. Auch ein Glas Champagner?«, fragte Rory mich über den Tisch hinweg, nachdem er sein dunkles Jackett über die Stuhllehne gehängt und ein Paar roter Hosenträger entblößt hatte.
»Ja, bitte. Sehr gerne.«
»Zwei Gläser vom Billecart, bitte, und die hier behalte ich«, sagte er zu dem komödiantischen französischen Kellner und tippte dabei mit den Fingern auf die Weinkarte. »Also«, sagte er dann und beugte sich über den Tisch nach vorne. »Wie war dein Tag?«
»Gut«, erwiderte ich mit einem scheuen Lächeln. Ich hatte Zach den gesamten Nachmittag ignoriert, während er weiter Fotos knipste, Kabel über den Boden schleifte und Bücher von ihrem richtigen zum falschen Platz verlegte, mit der Begründung, dass sie da, wo er sie hinstellte, »besser aussehen würden«. Aber er vergaß danach, sie wieder an ihren angestammten Platz zurückzustellen, also räumte ich hinter ihm her, während Zach an der Kasse herumlungerte und Eugene seine Kamerasettings erklärte. »Mein Tag war gut«, wiederholte ich. »Und deiner?«
»Verdammt gut sogar, und das feiern wir!«
»Warum denn?«
»Weil ich heute einen Anruf von der Partei bekommen habe. Sie sagen, ich bin auf der Liste.«
»Liste?«
»Für die Kandidatur bei der nächsten Wahl. Es gibt diverse Hürden, die es zu meistern gilt, und man muss auf eine offizielle Liste, bevor man sich für einen Wahlbezirk bewerben kann. Aber heute wurde ich für ebendiese Liste zugelassen.«
»Meinen Glückwunsch! Wie aufregend. Und was kommt als Nächstes?«
Er atmete aus. »Man muss im Grunde nur darauf warten, bis ein Sitz frei wird. Und die müssen einen dann akzeptieren, und man muss sich zur Wahl stellen. Normalerweise bekommen Erstkandidaten Sitze in Randbezirken zugewiesen, und es ist ein mühsames Prozedere. Aber ich bin dennoch guten Mutes.« Er setzte eine tiefe Stimme auf und verkündete über den Tisch hinweg. »Das ist nicht das Ende. Es ist noch nicht einmal der Anfang vom Ende. Aber es ist vielleicht das Ende vom Anfang.«
»Siehst du? Du bist wie geschaffen für einen Politiker«, erwiderte ich lachend auf seine Vorstellung hin.
»Eigentlich war es Churchill, der das gesagt hat.«
»Klar«, erwiderte ich. »Wusste ich doch.« Wusste ich natürlich nicht, also blickte ich in die Speisekarte, um meine geröteten Wangen ein paar Sekunden zu verbergen, bis der Kellner wiederauftauchte. Er stellte zwei Gläser Champagner auf dem Tisch ab und nahm unsere Bestellungen entgegen.
»Ich denke, wir sollten uns vorab ein Dutzend Austern gönnen«, sagte Rory. »Du isst doch Austern, oder? Die sind hier exzellent.«
»Tatsächlich habe ich noch nie welche probiert.«
»Grundgütiger! Das müssen wir sofort ändern. Also, ein Dutzend Austern. Und dann, Florence, was hättest du gerne?«
»Den Kabeljau bitte«, sagte ich. Ganz automatisch hatte ich das Gericht gewählt, das mit nichts serviert wurde, was zu fummelig und kleinteilig zum Zählen war.
»Und ich bekomme das Bourguignon«, sagte Rory. »Dazu purée de pommes de terre und … die Karotten, denke ich. Ah, Moment, der Wein.« Er fuhr mit dem Finger die Weinliste entlang und summte ein paar Sekunden vor sich hin. »Eine Flasche von dem Côtes du Rhône, bitte.«
»Absolument, Monsieur.«
»Ah, nein, Entschuldigung, einen Moment«, sagte Rory, und der Kellner drehte sich wieder zu ihm um. »Da wir Austern als Vorspeise haben, was hätten Sie denn für einen Sancerre da?«
»Wir ’aben nur einen«, erwiderte er. »Einen sehr schönen 2016er.«
»Gut«, sagte Rory. »Dann eine Flasche von dem 2016er, und den Côtes du Rhône bitte danach.«
Mein Kopf schwirrte von Austern und Weinen, als Rory seine Aufmerksamkeit wieder mir zuwandte und sich die Hände rieb. »Ich liebe den Moment, wenn man gerade bestellt hat und alles vor einem liegt, du nicht auch?«
Ich lachte laut auf. Ich wusste nicht, ob ich je jemanden getroffen hatte, der so selbstbewusst war.
Er legte den Kopf schief. »Was ist?«
»Na, du! Dein Selbstbewusstsein. Ich wünschte, ich könnte mehr so sein.«
»Wirklich? Du wirkst immer so positiv.«
»Ach ja? Gut. Denn manchmal bin ich das auch.«
»Und manchmal nicht?«
Ich dachte an die Tage, an denen mein Gehirn in einer Schlacht gegen mich selbst gefangen schien, eine leise, aber wütende Stimme, die mir das genaue Gegenteil von dem sagte, was ich hören wollte: »Wenn du doch nur ein paar Pfund leichter wärst« oder »Warum sieht dein Haar immer so schrecklich aus?«
»Nein, nicht immer.«
»Jeder hat seine Momente, aber schau uns doch gerade an.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und streckte die Arme aus. »Hier bin ich, in einem meiner Lieblingsrestaurants, einer sehr schönen, intelligenten Frau gegenübersitzend, und habe gerade erst Austern bestellt. Daran ist nicht viel verkehrt, oder?«
Ich lachte wieder. »Warst du immer schon so positiv?«
Er nickte. »Glaube schon. Warum auch nicht? Das ist auch der Grund, warum ich in die Politik will. Es sollten mehr Menschen so sein. Die meisten jammern immer nur rum. ›O die Schulen, die Immobilienkrise, das Gesundheitssystem.‹ Ach, kommt schon, wenn wir aufhören würden, so pessimistisch zu sein, könnte alles besser laufen. Findest du nicht auch?« Er beugte sich nach vorne, die Ellbogen auf die Tischdecke gestützt, seine blauen Augen auf meine gerichtet.
»Ja, vielleicht. Aber ich weiß nicht, ob es für manche Leute so einfach ist.« Dann hielt ich inne und lächelte ihn neckisch an. »Und? Wo siehst du dich in zehn Jahren – Premierminister?«
»Idealerweise ja«, erwiderte er, als der Kellner ihm gerade ein Schlückchen Wein zum Probieren eingoss.
»Ernsthaft?«
Er nickte.
»Wunderbar«, sagte Rory zum Kellner, bevor er mich angrinste und sich wieder über dem Tisch vorbeugte. »Warum nicht? Man muss große Träume haben.«
»Klar, ja, ich schätze schon«, erwiderte ich, als mir einfiel, dass »ambitioniert« ebenfalls auf meiner Wunschliste stand. Ich nahm einen großen Schluck Wein und dachte immer noch darüber nach, als ein anderer Kellner mit einer riesigen silbernen Platte auf uns zu stolziert kam.
»Oh, großartige Sache, die Austern kommen!«, rief Rory. »Lass uns Platz schaffen.« Er räumte Salz- und Pfefferstreuer aus dem Weg, als der Kellner die Platte mit Eis, Zitronenvierteln und den Austern abstellte, die in ihren Schalen so nass und glibberig aussahen wie der Inhalt eines kräftigen Niesers in der Handfläche.
Ich griff mir das kleinste Exemplar sowie ein Stück Zitrone.
»Runter damit«, sagte Rory, bevor er eine Muschel an seinen Mund hob und sie nach hinten kippte.
Ich ließ meine den Hals runtergleiten, ohne zu kauen. Sollte sie so cremig sein?
»Hm.« Ich gab mir Mühe, genießerisch zu klingen.
»Was ist mit dir?«, fragte er. »Willst du für immer in London bleiben?«
»Weiß nicht genau. Es ist mein Zuhause, ich bin hier aufgewachsen, aber es ist auch nicht besonders abenteuerlich, das ganze Leben an ein und demselben Ort zu verbringen.«
»Was ist mit dem Land?«
»Vielleicht. Wie kommst du darauf?«
»Mich zieht es aufs Land«, sagte Rory, der die nächste Auster erledigte. »Momentan verbringe ich mein halbes Leben im Flieger, aber idealerweise werde ich irgendwann einen Sitz in Norfolk haben, in der Nähe von zu Hause. Magst du Norfolk?«
»Ich war noch nie da«, erwiderte ich und stocherte mit einem Teelöffel in einer Auster herum.
»Es ist wunderschön. Das Meer, die Strände. Der Fisch! Der unerhörteste, köstlichste Fisch überhaupt. Und wusstest du, dass es die einzige britische Grafschaft ohne Autobahn ist? Ist das nicht großartig?«
Ich lachte erneut und nickte. Und während er weiterredete, entspannte ich mich mehr und mehr. Mir kam sogar der Gedanke, dass ich Spaß haben könnte, statt mir Sorgen zu machen, was als Nächstes schiefging. Ich hob mein Glas, leerte es und fühlte mich plötzlich wie berauscht von dieser neuartigen Wendung in meinem Leben: in diesem Restaurant zu sitzen, diesem Mann gegenüber. Ein echtes, richtiges Date.
»Ich denke, ich könnte vollauf damit zufrieden sein, alle möglichen Aufgaben im dortigen Wahlbezirk zu erledigen«, fuhr er fort. »Und es gibt da eine exzellente Buchhandlung in einem Örtchen namens Holt. Die könntest du also einfach übernehmen.«
»Wie bitte?«
»Na, wenn du dann mit mir nach Norfolk ziehst«, sagte er vergnügt, bevor er die letzte Auster ausschlürfte. »Grundgütiger, die waren sagenhaft. Waren sie nicht sagenhaft?«
Ich war so verdattert von dieser beiläufigen Erwähnung einer gemeinsamen Zukunft in Norfolk, dass ich mich nicht auf die Austern konzentrieren konnte. Es war schon ein ziemliches Statement für ein zweites Date, aber ich spürte auch, dass ein Teil von mir seine Gewissheit beruhigend fand. Ich konnte mich oft nicht einmal entscheiden, ob ich einen guten oder einen schlechten Tag haben würde, bis auf dem Weg zur Arbeit eine gewisse Anzahl von silbernen Autos an mir vorbeigefahren war, und hier saß nun ein Mann, der zu wissen schien, dass sein gesamtes Leben genau so verlaufen würde, wie es das wollte.
Als nach dem Hauptgang der Käsewagen zu unserem Tisch gerollt wurde, war ich betrunken. Wir hatten den Großteil des Abendessens mit einer zunehmend leidenschaftlichen Debatte über unsere liebsten und verhasstesten Schriftsteller verbracht. Rory erklärte, dass er amerikanische Romane verabscheute. Ich hingegen hatte immer romantische Vorstellungen über amerikanische Autoren gehegt und verteidigte sie. Dann wettete ich darauf, dass er den schottischen Autor George MacDonald Fraser mochte. Es gab einen gewissen Typ Mann, der die britische Privatschulerziehung genossen hatte und die sexuell verderbten Eskapaden von dessen Helden Harry Flashman liebte. Rory erwiderte, dass es in der Tat stimmte, und gerade, als der Käsewagen neben unserem Tisch zum Stehen kam, sprang er auf, um ein imaginäres Schwert zu ziehen. Im nächsten Moment hatte er dem Kellner die Faust direkt ins Gesicht gerammt. Der Kellner stolperte rückwärts und hielt sich die Nase. Rory entschuldigte sich umgehend.
»Ai! Quel imbécile!«, nuschelte der Kellner durch seine Finger.
»Hören Sie, es tut mir furchtbar leid«, schob Rory hinterher, »es war ein Versehen. Ich wollte für meine Freundin eine Szene aus einem Buch nachspielen. Sind Sie in Ordnung? Ojemine, ich glaube, Sie brauchen ein Taschentuch. Haben Sie Taschentücher?«, rief er Richtung Küche. »Und einen Lappen zum Aufwischen?«
Die anderen Gäste im Restaurant hielten beim Essen inne, um das Spektakel zu beobachten.
»Ich denke, wir sollten besser gehen«, sagte Rory, der sich Minuten später setzte, nachdem man dem Kellner mit einer Handvoll Küchentücher vor dem Gesicht vom Boden aufgeholfen hatte.
Er bat um die Rechnung und zahlte. Meinen Einwand, die Hälfte zu übernehmen, unterband er mit einem strengen Blick.
Im Gegenzug fragte ich ihn, ermutigt durch den Wein und Rorys eigenes Selbstbewusstsein, ob er mit zu mir kommen wolle. Es fühlte sich richtig an. Er hatte mir ein Gefühl von Sicherheit gegeben, das mir Kühnheit verlieh; außerdem konnte ich mir nicht vorstellen, dass er sich am nächsten Morgen ohne Nachricht verkrümeln würde. Ich will gerne zugeben, dass es da einen kleinen, verborgenen Teil von mir gab, der meiner Familie, Eugene und sogar Jaz beweisen wollte, dass sie alle falschlagen, dass ihre Witze über mein mangelndes Liebesleben ungerechtfertigt waren. Aber es war nicht nur das. Ich wollte das tun. Ich wollte in Rorys hypnotisierender Gesellschaft bleiben.
»Das würde ich sehr gerne«, erwiderte er, also bestellte ich ein Uber und holte meine Umhängetasche und meine Jacke. Rory entschuldigte sich noch einmal bei den Mitarbeitern des Restaurants, und schon standen wir draußen auf dem Bürgersteig und warteten auf unseren Toyota Prius.
»Guten Abend, mein werter Kollege«, sagte Rory, der sich in den Wagen plumpsen ließ, nachdem ich über den Rücksitz gerutscht war. »Wir fahren nach Kennington, wenn ich mich nicht täusche.«
»Er weiß schon Bescheid, alles gut«, sagte ich, bevor ich einen gewaltigen Hickser ausstieß, der sowohl den Fahrer als auch Rory zu mir schauen ließ.
»Tschuldigung«, sagte ich, doch da kam der nächste, so laut wie das Quaken eines Frosches.
»Schau mich an, ich habe ein ganz wunderbares Mittel dagegen«, sagte Rory, als der Wagen losfuhr.
Ich drehte den Kopf.
»Ein bisschen näher«, sagte er, also rutschte ich über das Polster zu ihm. Noch ein Hickser. Praktisch schon ein Rülpser. Aber der Champagner und der Weißwein in Kombination mit dem Rotwein hatten dafür gesorgt, dass ich zu betrunken war, als dass es mir peinlich gewesen wäre.
»Was zur Hö...?«
»Schhhh«, befahl er. »Konzentrier dich. Schau mich an.«
»Ich verstehe nicht. Was soll das bringen?«
»Schhhh, bleib einfach zwei Minuten still.«
Er starrte mir weiter in die Augen, während seine Fingerspitzen gegen meinen Kopf drückten. Es fühlte sich an wie ein Nicht-Blinzeln-Wettbewerb auf dem Spielplatz, nur anstrengender, und ich fragte mich kurz, wie es wohl wäre, im Bett zu liegen und sein Gesicht über mir zu haben.
»Warum wirst du rot?«, fragte er, seine Finger immer noch an Ort und Stelle.
»Werde ich gar nicht!«
»Ich glaube, du bist geheilt«, sagte er und ließ die Hände sinken. »Siehst du?«
Ich lehnte mich wieder zurück und wartete auf den nächsten Hickser. Er kam nicht.
»Aber ich überprüfe es besser noch mal«, sagte Rory, also drehte ich mich wieder zu ihm, und er hob die Hand, nur um sie mir um den Hinterkopf zu schlingen und mich für einen Kuss an sich zu ziehen. Ein längerer Kuss als zuvor, aber ohne Zunge, denn so ein Toyota Prius ist ein recht intimer Raum, und wir waren nur Zentimeter von Aaron, dem Uber-Fahrer, entfernt. Aber es gab mir dennoch das Gefühl zu schweben. Ich betete bloß, dass meine Schwestern schon im Bett wären, wenn wir zu Hause ankamen.
Waren sie glücklicherweise. Im Haus war alles dunkel.
»Ich wohne ganz oben«, flüsterte ich Rory zu, während ich lautlos die Haustür schloss. Ich wollte nicht riskieren, Mia, Ruby oder Hugo zu wecken, damit sie ihren Kopf durch die Tür streckten, also führte ich ihn auf direktem Weg nach oben.
»Bleib hier«, flüsterte ich, als wir in meinem Zimmer waren. »Bin in zwei Minuten da.« Ich schloss mich im Bad ein, um zu pinkeln und mir die Zähne zu putzen. Ich hatte den Verdacht, dass meine Zunge nach Knoblauch schmeckte.
Ich pinkelte und trocknete mich mit extremer Sorgfalt ab, dann zog ich die Strumpfhose aus, schleuderte sie auf den Badezimmerboden und kehrte barfuß ins Zimmer zurück, wo Rory auf meinem Bett lag.
Er streckte einen Arm seitlich aus, damit ich mich an seine Brust schmiegte. So lagen wir ein paar Minuten reglos auf der Decke, bevor er sich auf die Seite rollte und mich ansah.
»Hallo«, sagte er, und dann kam ein richtiger Kuss, bei dem sein Mund sich hart gegen meinen presste. Seine Finger sanken langsam von meinem Gesicht zu meinem Hals hinab, streiften über meine Brust und dann über die gesamte Länge meines Kleides nach unten.
Er erreichte den Saum und zog daran. Das versetzte mich in Panik. Ich versuchte doch gerade, mich auf meine Kusstechnik zu konzentrieren, aber gleichermaßen darauf, wie ich das Kleid über meinen Kopf kriegen sollte, ohne herumzuzappeln wie ein Dorsch auf dem Deck eines Fischkutters.
»Steh auf und zieh es für mich aus«, raunte er, was mir ein sprudelndes Gefühl im Magen bescherte. Zumindest hoffte ich, dass er wegen Rory sprudelte und nicht wegen der Austern.
Ich stand etwas schwankend auf und griff hinter meinen Hals nach dem Reißverschluss, während ich den Blickkontakt mit ihm hielt. Es war schwer, das halbwegs verführerisch hinzukriegen – ich kam mir vor, als hätte jemand mit mir gewettet, ob ich meinen Ellbogen ablecken könnte. Bei dem Gedanken musste ich kichern.
»Was ist lustig?«, fragte Rory vom Bett aus. Sein Gesicht – ernst, eindringlich – ließ wieder etwas in meinem Inneren aufwallen. Bitte, lass es nicht die Austern sein.
»Nichts«, antwortete ich rasch und löste den Reißverschluss, so schnell ich konnte, bevor ich ihn mit der anderen Hand nach unten zog. Ob ich es wohl wie eine Revuetänzerin an meiner Hand im Kreis schwingen sollte? Nein, auf keinen Fall. Das wäre zu albern. Also legte ich das Kleid sorgfältig auf meinem Stuhl ab.
»Und jetzt das da«, wies Rory mich an. Sein Blick fiel auf meinen Slip.
Ich hakte die Daumen unter den Gummisaum an meinen Hüften und zog ihn Stück für Stück über meine Beine nach unten. War das verführerisch? Es fühlte sich nicht so an. Mein Hintern stand hinter mir raus, als ich mich vorbeugte, um das Höschen über meine Knöchel zu ziehen, und ich beschloss, dass ich mich mehr wie eine ältere Schwimmbadbesucherin fühlte, die versuchte, das Gleichgewicht zu halten, während sie sich aus ihrem nassen Badeanzug schälte.
Ich ließ das Höschen auf den Boden fallen. Um die Unordnung konnte ich mich später noch kümmern. Doch nun stand ich auf meinem Schlafzimmerteppich vor ihm und hatte nur noch meinen BH an. Das war schräg. Was für eine Art von Psychopathin lief bitte schön zu Hause nur in ihrem BH herum?
Rory ließ mich verunsichert vor sich stehen, während er seine Hosenträger über die Schultern schob und mit einer Hand sein Hemd über den Kopf zog.
»Komm her«, sagte er, daher kniete ich mich aufs Bett. Aber der BH machte mir immer noch zu schaffen. Wann sollte der BH runter? Sollte ich das selbst tun?
Er schob eine Hand zwischen meine Schenkel und zog eines meiner Beine über seine Hüfte, sodass ich rittlings auf ihm saß, dann streckte er sich vor, um gekonnt meinen BH mit einer Hand zu lösen. Er warf ihn auf den Teppich und senkte die Hände, um meinen Hintern zu umfassen, dann zog er mich zu sich ran, sodass er abwechselnd an jedem Nippel saugen konnte.
Dabei musste ich dann doch wohlig seufzen, schloss die Augen und lehnte mich zu ihm vor. Eine Hand stützte ich dabei über seiner Schulter an der Wand ab. Rorys Zunge schnellte über meinen rechten Nippel, dann meinen linken und sorgte dafür, dass ich vor Lust aufheulen wollte. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, das hier so lange zu vernachlässigen? Selbstbefriedigung war ja ganz okay, und ich hatte einen knalllila Vibrator, den ich ordentlich verstaut in einer Schublade unter meinem Bett aufbewahrte, direkt neben einer Packung Feuchttücher, um ihn danach zu reinigen, aber das hier hatte rein gar nichts damit zu tun. Wenn Masturbation eine schnöde Klaviertonleiter war, glich das hier mehr einer Sonate von Chopin.
Rory schob seinen Kopf nach hinten, um mich erneut zu küssen, und bei dem warmen Gefühl seiner Haut auf meiner verspürte ich einen elektrisierenden Schauder. Ich fuhr mit einer Hand über die Haarlinie, die sich über seine Brust zog, und verzehrte mich danach, dass er das Gleiche tat, dass er mit seinen Händen jeden Zentimeter meines Körpers erkundete.
Vor ein paar Jahren hatte ich mir einen Josh-Hartnett-Film angeschaut und ungläubig geschnaubt bei einer Szene, in der Josh eine Frau zum Orgasmus brachte, indem er nur mit einer Orchidee über ihren Körper wedelte. Das schien mir dann doch sehr unwahrscheinlich. Hättest du wohl gerne, Josh. Aber jetzt verstand ich es. Falls Rory damit fortfuhr, mich zu küssen, während seine Hände meinen nackten Rücken sanft berührten, würde ich bald so laut schreien, dass ich meine Schwestern wecken würde.
Hör auf, an deine Schwestern zu denken, Florence.
Seine Hände fuhren über meine Rippen nach unten, was mir eine Gänsehaut bescherte, aber dann hob er mich von sich und stand auf. Ich sah zu, wie er seine Hose aufknöpfte und sie zusammen mit seinen Boxershorts runterzog. Meine Augen huschten von seinem Gesicht zu seinem Penis, der mir in einem erfreulichen Winkel entgegenragte. Obwohl ich noch nie Dick-Pics zugeschickt bekommen hatte, war mir das Konzept dahinter immer befremdlich erschienen. Warum sollte ein Foto von etwas, das wie eine Grillwurstschnecke aussah, bei irgendwem ziehen? Aber Rorys Penis sah nicht aus wie eine Grillwurstschnecke. Er sah genauso stramm und gepflegt aus wie der Rest von ihm.
»Leg dich hin«, wies er mich an.
Ich rutschte von meinem Kopfende nach unten, die Beine angewinkelt, und er kniete sich zwischen sie.
»Bitte, berühre mich«, sagte ich, womit ich mich selbst überraschte. Ich hatte das nicht vorgehabt. Es war mir einfach so rausgerutscht.
Er schenkte mir ein Grinsen und schüttelte den Kopf. »Noch nicht.« Stattdessen schob er meine Knie weiter auseinander und beugte sich zwischen ihnen hinab, bevor er meine Innenschenkel abwechselnd mit sanften Küssen bedachte, immer weiter nach oben, während seine Bartstoppeln die weichsten, empfindlichsten Teile meiner Beine kitzelten.
»O mein Gott, o mein Gott, o mein GOTT«, keuchte ich. Der sehnsüchtige Schmerz zwischen meinen Beinen hatte sich in ein Pulsieren verwandelt. Er musste mich berühren. Bitte, lass ihn mich berühren. Bitte, kann er nicht einfach die Hand heben und … »O Goooott!«, seufzte ich, als ich seinen Mund über meiner Klitoris spürte und seine Zunge, die knapp darunter und dann wieder nach oben schnellte. Er hatte dieses Muster dreimal wiederholt, als ich begriff, dass ich gleich kommen würde. Ich konnte es nicht zurückhalten. Eine Hitze breitete sich von der Wölbung meiner Füße aus, flutete meinen Körper, bis sie die Stelle erreichte, wo Rorys Zunge immer fester und fester und fester …
»Ich komme gleich, ich komme gleich, ich komme gleich. ICH GLAUBE, ICH KOMME«, japste ich, rieb meine Hüften gegen seinen Mund und schnappte nach Luft.
Man stelle sich nur vor, zu beschließen, Nonne zu werden und das hier aufzugeben!
»Rühr dich nicht«, sagte er, erhob sich auf seine Knie, bevor er wieder nach vorne fiel und seine Arme um meine Schultern klemmte. Während er eine Hand vorschob, damit sie mein Kinn festhielt, blickte er ernsthaft in meine Augen und stieß in mich hinein. Ich keuchte immer wieder auf, als er in mich hinein- und wieder hinausglitt, mich auf den Hals küsste, auf meine Schlüsselbeine und dann auf meinen Mund. Seine Lippen pressten sich auf meine, und seine Zunge schob sich drängender in meinen Mund. Und als er anfing zu stöhnen, verspürte ich eine tiefe, urzeitliche Lust darüber, dass ich es war, die ihn dazu brachte, das hier zu tun. Er machte diese Geräusche wegen mir. Nach einer so langen Zeit der Enthaltsamkeit gab es mir das Gefühl, normal zu sein, ein normal funktionierender Mensch, der Sex haben konnte, ohne Panik zu schieben wegen der Konsequenzen und des Herzschmerzes, der unweigerlich darauf folgte. Nur dass das hier noch besser war als normal. Es fühlte sich grandios an, rangierte ganz weit oben, gleich neben meinem fünfzehnten Geburtstag, als ich Marmalade geschenkt bekommen hatte.
Hör auf, an deinen Kater zu denken, Florence.
Ich verbannte ihn aus meinem Kopf, während ich mit den Fingern Rorys Rücken hoch und runter strich und er an Fahrt aufnahm. Vor und zurück, vor und zurück, während ich mich zu dieser perfekten Nacht beglückwünschte, diesem perfekten Date, bei dem wir redeten und redeten und ich nichts Unreifes sagte wie: »Wo sollen wir in unseren Flitterwochen hinfliegen?« Oder: »Ich kann es kaum erwarten, deine Mum kennenzulernen.«
Und nun das hier: Ziemlich perfekter Sex. Keine peinlichen Pupsgeräusche. Kein unbeholfenes Rumgefummel. Kein Moment, wo er sich versehentlich in die Nähe meines Pos verirrte, weil darauf stand ich nun mal nicht.
Und gerade da, als ich die Hoffnung wagte, dass es ein zweites Mal geben könnte, als ich betete, dass er mich nicht ghosten würde, da stieß er ein letztes Mal zu, erstarrte über mir und schrie »COWABUNGA!«, während er kam.
Oh, okay. Also war es fast perfekt.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ich mich wieder ganz anständig und zivilisiert. »Morgen«, sagte ich zu Rory, so wie ich es im Grunde auch jeden Tag zu Eugene sagte.
Rory streckte den Arm nach mir aus und küsste mich auf den Kopf. »Morgen, mein kleiner chou-fleur.«
»Hast du gut geschlafen?«, erkundigte ich mich, während ich mich fragte, wie ich es wohl aus dem Bett schaffen könnte, ohne meinen Hintern zu entblößen. Ich hatte an der Wandseite geschlafen, was bedeutete, entweder über Rory drüberzuklettern oder rückwärts ans Ende der Matratze zu kriechen und ums Bettende herumzugehen.
»Ja, dieses Bett ist hervorragend«, erwiderte er gähnend, streckte die Arme aus und schlang dabei absichtlich seinen Unterarm über mich.
»Hände weg, du Spinner, ich brauche eine Dusche.« Ich schob seinen Arm weg, entschied mich für die Bettkanten-Route und versuchte, mich dabei mit so viel Würde wie möglich nach hinten zu schlängeln (nicht viel Würde), bevor ich mich Richtung Bad aufmachte. Aber als ich seitlich am Bett vorbeiging, packte er mich am Handgelenk und zog mich für einen Kuss zu sich. Ich hielt den Atem an, aber er hob seine Seite der Decke hoch und zog mich auf sich herab.
»Ich muss unter die Dusche«, protestierte ich und versuchte, meinen Atem von ihm wegzulenken.
»Zehn Minuten? Komm schon, zehn Minuten hast du«, beharrte er, bevor er mit der Hand über meinen Körper fuhr.
Ich zog den Bauch ein und merkte, dass ich pinkeln musste. Aber Rory küsste mich an meinem Hals hinab, meine Schulter entlang, und ich wollte nicht gegen ihn ankämpfen. Seine Hände schoben meine Beine auseinander, und ich seufzte durch den Mundwinkel. Meinen Atem versuchte ich dabei in Richtung Wand statt in sein Gesicht zu lenken. Es würde schon niemand sterben, wenn er in die Buchhandlung kam und zehn Minuten auf die neue Stalin-Biografie warten musste.
Es waren tatsächlich nur zehn Minuten. Mehr brauchte er nicht, um mich zum Stöhnen zu bringen, bevor er erneut »Co-wa-bung-aaaaaa!« in mein Ohr rief und sein Körper meinen niederdrückte. Ich wartete etwa eine Minute, bevor ich mich unter ihm hervorwand und mich im Bad einschloss.
Ich musste jetzt echt aufs Klo. Ich konnte meinen Magen spüren, der … rumorte. Die Austern, fiel es mir ein, und ich drehte die Dusche auf, damit sonst ja nichts zu hören war.
Ich saß auf dem Klo und kam zu dem Schluss, dass ich so nicht loslegen konnte. Nicht, wenn sein Kopf direkt auf der anderen Seite der Wand lag. Zu nah. Also kletterte ich über den Badewannenrand direkt in die Dusche. Cowabunga, dachte ich wieder. Ziemlich merkwürdig, oder? Aber er hatte danach nichts weiter gesagt, also hatte ich auch nicht gefragt.
»Hey, Rory, der Sex ist echt toll, aber dürfte ich wissen, warum du am Ende immer wie so eine Comicfigur brüllst?«
Dazu war ich nicht mutig genug. Vielleicht war es einer seiner schrägen Witze? Ich mochte ihn. Ich mochte ihn so richtig. Ich wollte nichts Schlimmes in so eine Kleinigkeit hineininterpretieren. War ja nicht so, als würde er den Namen einer Ex schreien. Ich spülte mein Haar aus und drehte den Wasserhahn zu, dann rubbelte ich es, auf der Badematte stehend, grob trocken. Ich wollte wie ein Bikinimodel in mein Schlafzimmer zurückschlendern, mit feuchten Strähnen, die locker über meine Schultern fielen, statt nassem plattgedrücktem Haar wie ein Afghanischer Windhund.
Doch als ich die Badezimmertür öffnete, war er fort. Er hatte seine Klamotten vom Boden aufgesammelt, und das Bett war gemacht. Nicht so perfekt, wie es mir recht gewesen wäre – die Kissen befanden sich in der falschen Reihenfolge –, aber nicht übel. Ich ging zu meiner Zimmertür und lauschte. Aus der Küche konnte ich Mias und Rubys Stimmen hören, also zog ich mich so schnell an, als stünde der Dachstuhl in Flammen, und rieb mir etwas getönte Feuchtigkeitscreme ins Gesicht, während ich zwei Stufen auf einmal nehmend nach unten hastete. Zwei, vier, sechs, acht, und von vorne, bevor ich um das Treppengeländer herumschwang und Richtung Küche schlitterte.
»Guten Morgen zusammen«, sagte ich keuchend. »Das ist Rory. Rory, das sind Mia und Ruby.« Ich stützte mich mit einer Hand auf den Küchentisch und beugte mich vor, um wieder zu Atem zu kommen.
»Alles okay mit dir?«, fragte Rory.
»Ja, alles gut. Nur eine, äh, sehr heiße Dusche.« Ich schaute zu Ruby, die im Morgenmantel neben der Spüle saß. »So früh schon auf?«
»Ich habe Mia mit Rory reden hören, und das konnte ich doch nicht verpassen, oder?«
»Wir haben uns nur über seinen Job unterhalten«, fügte Mia hinzu, »und der klingt ja sehr interessant.«
Sie sagte das mit einem verschlagenen Lächeln, bei dem mein Herz anfing zu rasen. Sie durfte die Liste nicht erwähnen. Unter keinen Umständen durfte Rory von der Liste erfahren. Es gab keine vernünftige Erklärung dafür, dass ich, kurz bevor ich ihn traf, bei einer Hexe in der Harley Street gewesen war und das Universum gebeten hatte, mir einen maßgefertigten Freund zu schicken.
»Und dann all diese abenteuerlustigen Reisen, die er unternimmt!«, sagte Ruby. »Außerdem hast du wahrscheinlich viel Muße, um Bücher zu lesen, Rory? Bei all der Zeit im Flieger?«
Rory schaute kurz verwirrt von einer Schwester zur anderen. »Ähm, ja, ja, ich muss sagen, das stimmt. Deswegen habe ich auch Florence kennengelernt, hat sie euch das nicht erzählt? Ich war bei ihr im Buchladen.«
»Hat sie. Was für ein Zufall aber auch.« Rubys Augen funkelten schelmisch, während sie von ihm zu mir und dann wieder zurückhuschten.
»Hm, bestimmt«, murmelte ich unverbindlich, bevor ich nach dem Wasserkocher griff. »Willst du einen Kaffee, Rory?«
»Nein, nein, ich sollte besser los.«
»Ins Büro zu deinem interessanten Job?«, wollte Mia wissen.
Rory lachte. »Ja, ganz genau.« Er trat vor, um mich auf die Wange zu küssen. »Aber danke für den wundervollen Abend.«
Ich nickte zu ihm hoch und war einen Moment ganz baff, dass da ein attraktiver Mann in der Küche stand, und zwar wegen mir, nicht wegen einer meiner Schwestern.
»War schön, euch beide kennenzulernen«, verabschiedete er sich von ihnen mit einem Wink.
»Ebenso!«, riefen die beiden, als ich Rory durch die Diele führte und ihm die Haustür aufhielt.
»Dann bis bald, hoffe ich?«, fragte er, drehte sich um und küsste mich noch einmal.
»Klar«, sagte ich lächelnd, was sehr lässig formuliert war, wo doch jede Zelle meines Körpers schrie: »JA, JA, WIE WÄRE ES MIT MORGEN? HAST DU MORGEN ZEIT, ODER ÜBERMORGEN, ODER ÜBERÜBERMORGEN? ODER WIE WÄRE ES MIT FÜR IMMER? HAST DU AUF IMMER UND EWIG ZEIT?«
Er spazierte davon, das Jackett über die Schultern geworfen, und ich kehrte in die Küche zurück.
»Ein wundervoller Abend also, ja?«, bemerkte Ruby, die immer noch auf dem Küchentresen neben der Spüle hockte. »Du musst uns alles erzählen, und zwar sofort.«
Sie bekamen die zensierte Version zu hören, während ich meinen Kaffee trank und das Mittagessen vorbereitete. »Nettes Abendessen, kein peinliches Schweigen und danach zu mir.« Dann: »Ja, okay, wir haben miteinander geschlafen.« Es fühlte sich seltsam an, mit ihnen über Sex zu reden, wo ich das doch nie zuvor gemacht hatte.
»Und?«, drängte Mia. »Komm schon, ich brauche mehr als das. Hugo und ich tun es normalerweise nur sonntagmorgens, vor dem Golf, und selbst dann geht es ziemlich schnell, weil er nie das erste Tee verpassen will.«
»Und nichts. Es war nett«, sagte ich, während ich mein Sandwich in Klarsichtfolie wickelte und gleichzeitig versuchte, das Bild von Hugo beim Sex in seinen Pringle-Golfsocken aus meinem Kopf zu verbannen.
»Nett?«, fragte Mia. »Nur nett? Flo, ein Tässchen Tee und ein Stück Kuchen sind nett. Du kannst das sicher besser.«
Ich schob mein Mittagessen in den Rucksack und steuerte kommentarlos den Flur an, aber dann rief ich doch über meine Schulter zurück: »Na schön, es war unglaublich, er hat mich herumgewirbelt wie ein Olympiaturner, und wir haben es heute Morgen gleich noch mal getan. Okay, muss jetzt los, sehen uns später, ciao!«
»Ich werd’s Pat erzählen!«, brüllte Ruby mir hinterher, als ich schon die Tür schloss.
Während ich zur Arbeit spazierte, kullerten die Gedanken in meinem Kopf durcheinander wie Lotteriebälle.
Das Gute an Rory: Er war heiß, witzig, klug, ambitioniert.
Das Schlechte: »COWABUNGA!«
Ich konnte es ihn immer noch rufen hören. Andererseits hatte ich sehr wenig, womit ich die Performance der gestrigen Nacht vergleichen könnte. Vielleicht machten das ja alle heutzutage so? Vielleicht war es so eine Art Trend?
Ich öffnete gerade die Ladentür, als mir einfiel, was ich noch auf meine Liste geschrieben hatte: »O mein Gott, James Bond!« Ich hatte den Hintern und die sexuelle Kondition von James Bond auf meiner Liste notiert, und ja, zugegebenermaßen hatte ich recht wenig Erfahrung, aber Rory hatte definitiv einen beeindruckenden Auftritt hingelegt. Und das gleich zweimal.
»Ich fühle mich zwar geschmeichelt, aber ich bin’s nur, Zach«, sagte mein neuer Kollege und ließ die Kamera vor seinem Gesicht sinken.
Ich schüttelte den Kopf. »Entschuldige, ignorier mich einfach. Ich habe gerade nur über … etwas nachgedacht.«
»Über James Bond?«
»So in der Art. Lange Geschichte. Warum bist du so früh da?«
»Morgens um diese Zeit ist besseres Licht«, erklärte er. »Außerdem stehe ich so niemandem im Weg. Alles okay bei dir?«
»Ja«, gab ich patzig zurück. »Warum?«
»Du sieht fürchterlich aus.«
»Danke.«
»Entschuldige«, erwiderte er. »Nur ein bisschen blass«, schob er hinterher.
»Ich bin verkatert«, sagte ich und ließ meinen Rucksack hinter den Tresen fallen.
Zach riss die Augen auf. »Aber natürlich! Das große Date! Wie war es?«
»Gut, danke.«
»Entschuldige«, sagte er erneut. »Das geht mich ja eigentlich nichts an. Und auch wegen gestern. Ich wollte nicht oberflächlich sein.« Er hielt kapitulierend die Hände hoch.
»Ist schon okay«, sagte ich, weil es die einfachste Antwort war und ich keine Lust hatte, mit ihm zu reden. Ich brauchte unbedingt einen Kaffee.
An der Tür bimmelte es, als die morgendliche Lieferung eintraf. Fünf Kartons mit Büchern.
»Könnte ich mal mit dir über etwas reden?«, fragte Zach, als ich die Empfangsbestätigung unterschrieben hatte.
»Jetzt?«
»Oder später, wenn es dir lieber ist? Nichts Dringendes.«
»Können wir das eher gegen Mittag machen? Ich muss den Haufen da auspacken«, sagte ich und deutete auf die Kisten.
»Klar. Ich geh dir mal aus dem Weg«, sagte Zach. Er verschwand in den Keller, und ich öffnete die Schublade unter der Kasse, um das Teppichmesser rauszuholen. Ich fuhr damit über die erste Kiste, zog so viele Bücher heraus, wie ich mit einer Hand heben konnte, und begann damit, sie ins System einzuscannen. Ich ordnete sie in gleichmäßigen Stapeln vor mir, bevor ich erneut in die Kartons griff. Hardcover Belletristik, Sachbuch, Taschenbuch. »Zwei, vier, sechs, acht«, murmelte ich, während ich die Stapel überprüfte.
»Warum tust du das?«, fragte Zach, der ein paar Minuten später auf der Treppe erschien.
»Was?«
»Na, alles zählen?«
Ich zuckte die Achseln. »Ist nur so eine Angewohnheit.«
Er stellte einen Becher vor mir ab. Es war Kaffee. »Ich habe dich gestern dabei gehört, als ich die Fotos gemacht habe, und ich habe mich gefragt, ob das so eine Art System ist, das du hast. Aber wie auch immer, hier. Dachte, du könntest einen gebrauchen.«
»Danke«, erwiderte ich.
Eugene war heute bei seinem Vorsprechen für Romeo und Julia, also erledigte ich das Einräumen der Bücher an diesem Vormittag schweigend. Zach tauchte kurz vor der Mittagspause wieder auf, um zu fragen, ob jetzt ein »guter Moment« für unsere Unterhaltung wäre.
»Willst du mich feuern?«, fragte ich, während ich ihm die Treppe runter ins Büro folgte.
Er lachte. »Ich glaube nicht, dass meine Macht so weit reicht.«
Norris aß in der Mittagspause auswärts, trotzdem erschien es mir zu intim, mich mit Zach in den kleinen Raum zu quetschen. Ich blieb in der Tür stehen, während Zach sich auf einem Stuhl niederließ, dann zog er Norris’ Schreibtischsessel zu sich und bedeutete mir, mich zu setzen.
»Ich habe einen Plan für den Laden ausgearbeitet. Gerade kümmere ich mich um die Webseite plus Instagram, Twitter und das alles«, erklärte er und scrollte sich dabei durch ein Word-Dokument auf seinem Laptop. »Aber da ist noch etwas, an das ich gedacht habe. Und zwar Events.«
»Events?«
»Ja. Vorträge, Lesungen, Frage-und-Antwort-Runden. So Veranstaltungen eben. Darüber wollte ich mit dir reden. Habt ihr schon mal welche hier gemacht?«
»Nein. Aber lässt sich damit überhaupt Geld verdienen? Also so viel, dass sich der Aufwand lohnt?« Ein kleiner, engherziger Teil von mir wollte ihm seine Idee madig machen.
»Es geht nicht nur um die Kohle. Na ja, teilweise schon. Aber es kommen auch mehr Leute in den Laden, mehr Publikumsverkehr, mehr Verkäufe. Und wir könnten die Veranstaltungen aufnehmen und als Podcast online stellen. Ist ziemlich easy, das könnte ich auf dieser Plattform hier machen.« Als er sich nach vorne lehnte, um auf den Bildschirm zu zeigen, berührte sein Knie meines, und ich zuckte zurück, als hätte er mir einen elektrischen Schlag verpasst.
»Entschuldige.«
»Hast du das schon Norris erzählt?«
Zach schüttelte den Kopf. »Nee, wollte erst mal sehen, was du davon hältst.«
»Könnte funktionieren.« Ich versuchte, nicht allzu enthusiastisch zu klingen, obwohl mir klar war, dass es eine gute Idee war. Als Jugendliche hatten andere in mir immer die Streberin gesehen, weil ich so viel las: im Bus zur Schule, in der Mittagspause, im Bus nach Hause. Dabei war Lesen der einzige Weg, wie ich mich vom Zählen abhalten konnte. Doch heutzutage waren Bücher cool, und niemand wurde ein Streber genannt, wenn er gerne las. Es war sogar hip, Fotos von Büchern, die man gerade fertig gelesen hatte, auf Instagram zu posten, sich Podcasts über Bücher anzuhören und sich Tickets für Lesungen vom angesagtesten Autor zu kaufen! Ich hatte eine Idee.
»Tatsächlich«, verkündete ich, »kommt nächsten Monat eine neue Anthologie von Fumi raus.«
Zach sah mich ratlos an.
»Fumi ist eine berühmte Instagram-Dichterin«, erklärte ich. »Sie postet Haikus und hat einen Mops namens Percy. Die Leute sind besessen von ihr – und dem Hund. Sie hat letztes Jahr unfassbar viele Ausgaben von ihrem Debüt verkauft. Wir könnten ja versuchen, sie für eine Lesung zu gewinnen. Ich bin nicht sicher, ob sie es tun wird, aber wir könnten sie zumindest fragen.«
»Ja, genau so Sachen meine ich«, sagte Zach und zog sein Handy aus der Jeanstasche. »Heilige Scheiße, die hat ja fast eine Million Follower.« Er hob das Handy etwas näher an sein Gesicht. »Was tut sie da mit ihrem Hund?«
Ich spähte auf den Bildschirm. Fumis neuester Post war ein Badezimmer-Selfie mit ihrem Mops unterm Arm. Sie hatte eine lila Bomberjacke an und machte einen Schmollmund in die Kamera. Sowohl ihr Hund als auch sie hatten eine Sonnenbrille auf. Have a #beautiful day, my babies, lautete die Bildunterschrift, gefolgt von einer Reihe lila Herzen.
»Ja, das ist sie. Wäre einen Versuch wert, sie beide hierher einzuladen, allein um Norris’ Reaktion zu sehen.«
Zach lachte. »Stimmt. Also, willst du das mit ihm besprechen, oder soll ich?«
»Mach du das.« Ich war immer noch eingeschnappt, dass Norris meine Vorschläge ignoriert hatte.
Die Türklingel oben bimmelte, also stand ich auf, froh, aus dem beengten Raum wegzukommen. »Ich sollte besser wieder hoch.«
»Okay, cool, aber denkst du, dass Events generell eine gute Idee sind?«, fragte er, als ich schon halb durch die Tür war. »Du kennst den Laden besser als ich.«
Ich drehte mich um und verspürte einen Anflug von schlechtem Gewissen, weil ich nicht enthusiastisch genug reagiert hatte. »Ja, ist in Ordnung, sehr gut, gute Arbeit.«
»Nenn mich einfach James Bond«, erwiderte er mit einem Zwinkern.
»Übertreib’s nicht gleich!«, rief ich nach hinten.
Der Rest des Nachmittags verlief schleppend. Ich aß verstohlen Neapolitanerschnitten hinter der Kasse, während Eugene mich zu meinem Date löcherte und ich den Bericht jedes Mal wieder unterbrechen musste, wenn es an der Tür klingelte und ein Kunde hereinkam. Ich wollte unserer betagteren Kundschaft schließlich keinen Herzinfarkt bescheren.
»Ich nehme das mit meiner Mutter zurück und belohne dich hiermit mit einer Neun von Zehn«, erklärte er, als ich mit meinem Update fertig war, und hielt dabei ein imaginäres Punkteschild hoch. Eugene war ein großer Let’s Dance-Fan und hatte erst kürzlich einen Kalender im Lagerraum aufgehängt, damit er die Tage durchstreichen konnte, bis die nächste Staffel losging.
»Warum bekomme ich keine Zehn?«, fragte ich und griff nach der nächsten Waffelschnitte.
»Weil du am Anfang stehst und ich sehen will, was für Fortschritte du noch machst.« Er zog sein Handy vom Tresen. »Wie ist noch mal sein Nachname? Ich werde ihn googeln.«
»Dundee.«
Eugene tippte auf seinem Handy herum. »Oooh, der ist aber attraktiv. Hübsche Augen. Aber es gibt nur dieses eine Foto. Finde sonst nicht viel mehr über ihn.« Er sah mich fragend an.
»Nein, ich weiß, er macht sich nichts aus Social Media.« Rory hatte das beim Abendessen erklärt: Kein Social Media bedeutete keine zweifelhaften Schnappschüsse oder Tweets, die auf ihn zurückfallen könnten, wenn er Politiker wurde. Er hatte alles durchdacht.
»Oh, aber sieh mal«, sagte Eugene aufgeregt. »Er gilt als ›heißer Anwärter‹ auf dieser Kandidatenliste hier.« Er setzte eine ernste Stimme auf und las vom Display ab: »Rory Dundee, siebenunddreißig, besuchte die renommierte Harrow School und schloss sein Studium der Politik, Philosophie und Wirtschaft mit Auszeichnung in Cambridge ab. Zurzeit arbeitet er als Sonderberater im Außenministerium, strebt jedoch nach höheren Ämtern. Als Enkelsohn des ehemaligen Tory-Landwirtschaftsministers Edward Dundee hat Rory bereits diverse Regierungsbeamte mit seiner anpackenden Haltung und seiner Durchsetzungskraft beeindrucken können. Man munkelt, dass er nach ganz oben will.«
Er legte sein Handy ab und klatschte in die Hände. »Durchsetzungskraft – ich liebe es! Wenn ihr in der Downing Street wohnt, lädst du mich dann zu euren Cocktailempfängen ein?«
»Eugene, bitte sprich nicht von Alkohol«, stöhnte ich und legte die Stirn auf den Armen ab. Ich war es nicht gewohnt, während der Woche einen Kater zu haben.
»Falls ihr heiratet, könntest du die First Lady werden«, fuhr er fort.
»Eugene …«
»Darf ich dann dein Stylist sein? Du wirst einen Stylisten brauchen.«
»Eugene …«
»Darf ich auch mal mit eurem Privatjet fliegen?«
Ich hob den Kopf, da ich mir das nicht länger anhören konnte. »Eugene, jetzt lass uns mal nicht nach zwei Dates den Kopf verlieren. Außerdem hat der Premierminister keinen Privatjet. Wir sind nicht in Amerika.«
Er klemmte Finger und Daumen zusammen und fuhr sich damit über den Mund. »Schon gut, ich halt die Klappe. Aber ich bin aufgeregt. Ich habe ein gutes Gefühl bei dem Kerl.«
An diesem Nachmittag erhielt ich auch eine Nachricht von Patricia. Sie hatte ganz offenbar mit Mia telefoniert.
»Schätzchen, er klingt PERFEKT! Ein Politiker in der Familie! Dein Vater wird begeistert sein. Halte uns auf dem Laufenden.«
In der Familie? Patricia hatte echt einen an der Waffel. Obwohl ich ärgerlicherweise zugeben musste, dass ein winzig kleiner Teil von mir – ein ganz, ganz winziger Teil – sich bereits ausmalte, wie sich das wohl anfühlen würde.