Die nächsten Tage waren schwer vor Trauer, und jeder von ihnen fühlte sich an, als müsste ich durch Treibsand laufen, um hindurchzukommen. Rory war in Brüssel. Am Abend, nachdem wir Marmalade hatten einschläfern lassen, hatte er mich schließlich angerufen, um mir zu sagen, dass er geschäftlich verreisen müsste.
»Ich werde doch bald wieder zurück sein, mein Schatz«, sagte er in der Annahme, meine Tränen würden ihm gelten.
Ich erklärte, dass ich aufgelöster war, weil ich meinen Kater hatte einschläfern lassen müssen.
»Ich weiß, meine Süße, aber letzten Endes musst du dir in Erinnerung rufen, dass es nur ein Kater war.«
Am folgenden Tag traf ein riesiger Strauß cremefarbener Rosen als Entschuldigung im Laden ein.
Tut mir leid wegen dem Kater. Darf ich dich Freitagabend zu einem ganz besonderen Essen entführen?
Rory x
Freitag war mein Geburtstag, aber auch der Gedanke munterte mich nicht sonderlich auf. Bei Erwachsenengeburtstagen war da einfach zu viel Druck im Spiel. »Hattest du einen schönen Geburtstag?«, fragen die Leute, und man muss positiv antworten, um sie nicht zu enttäuschen. »Ja, doch, war super, danke. Ich habe ein Buch bekommen und eine unverschämte Karte übers Älterwerden!« Das mit den Geburtstagen erreicht doch seinen absoluten Höhepunkt mit sieben oder acht Jahren, wenn man eine Torte, Luftballons und die obligatorischen Geschenke von allen Partygästen bekommt (warum sonst hätte man sie eingeladen?), und vielleicht noch einen Zauberer obendrauf. Danach geht’s nur noch bergab. Erwachsenengeburtstage geben einem das Gefühl, ein Junkie zu sein, der mittlerweile clean ist, sich aber sehnsuchtsvoll an seinen ersten Schuss zurückerinnert. Jemand aus dem Büro greift in die Portokasse, um einen überzuckerten Kuchen zu kaufen, und man versammelt sich um den Kopierer zu einer pflichtgemäßen Darbietung von »Happy Birthday«, aber es ist nicht annähernd so aufregend wie die Prinzessinnentorte, die man bekam, als man sieben wurde.
Wie üblich hatte ich auch für dieses Jahr nichts geplant und mir lediglich überlegt, zwei Tage davor ein paar Leuten zu schreiben und sie zu fragen, ob jemand Lust hätte, was trinken zu gehen. Meine Theorie lautete folgendermaßen: Wenn ich kein Riesentrara aus meinem Geburtstag mache, kann ich auch nicht enttäuscht werden, wenn er damit endet, dass ich im Pub Bierdeckel zähle. Doch die Vorstellung eines Abendessens mit Rory hob meine Stimmung; nach dem Desaster auf dem Ball würde es für Normalität sorgen und dieser schrecklichen Woche ein Ende setzen. Also versöhnten wir uns per Handy, und er verriet, dass er in einem italienischen Restaurant reserviert habe, das ein »sensationelles Ossobuco« mache. Ich ging davon aus, es sei ein Käse, doch Google verriet mir, dass es geschmortes Kalb war.
Am Dienstag öffnete ich in der Buchhandlung einen Karton mit Neuware und sah, dass Norris mehrere Ausgaben eines neuen Comics bestellt hatte. Der Titel lautete Woran du erkennst, dass deine Katze deinen Tod plant, was mich erneut aus der Fassung brachte. Am nächsten Nachmittag kam Mrs. Delaney hereinspaziert, als ich gerade wieder hinter der Kasse heulte, und erkundigte sich, ob es sich um »Männerprobleme« handle. Eugene geleitete sie rasch in die Gartenabteilung.
Er, Norris und Zach waren allesamt geradezu unheimlich nett zu mir – wie Ehemänner, die beim Vögeln mit dem Kindermädchen erwischt worden waren. Immer wieder bekam ich ungefragt eine neue Tasse Tee an die Kasse gebracht. So viel Tee, dass ich sie irgendwann bitten musste, damit aufzuhören, damit ich nicht so oft zur Toilette musste. Eugene putzte die Küche unten jeden Tag, Norris brüllte nicht herum, und es kamen auch keine Sticheleien zu Rory-dem-Tory von Zach. Ich mailte ihm auch meine Geschichte von Zelda, der zählenden Raupe, und am Donnerstag kam er nach oben in den Laden, um vorzuschlagen, gemeinsam auf dem Platz zu Mittag zu essen.
»Ich habe mein Mittagessen mitgebracht.«
»Ich weiß, ich weiß.« Er hob kapitulierend die Hände. »Ich hatte gar nicht vor, dir noch mal vorzuschlagen, es mit einer anderen Sorte Sandwich zu versuchen. Nimm es ruhig mit. Ich wollte bloß mit dir über die Weihnachtsfeier reden.«
Kaum dass wir auf der Bank draußen saßen, enthüllte er, dass das nur ein Vorwand gewesen war. »Ich wollte zwar über die Weihnachtsfeier reden, aber ich wollte mich auch erkundigen, ob es dir gut geht.«
Ich lächelte zu ihm auf. Er saß auf der hölzernen Armlehne, die Stiefel auf der Sitzfläche. »Geht so. Unser Haus ist ziemlich seltsam diese Woche. Ich komme immer heim und erwarte, dass er mir um die Knöchel streift. Aber Ruby und Mia waren wirklich toll.«
Erst am Vorabend hatten sie sich in der Küche aufgestellt und dabei eindeutig etwas hinter ihren Rücken versteckt.
»Warum seid ihr so komisch? Was ist hier los?«, hatte ich gefragt.
Mia hatte daraufhin ein gerahmtes Foto von mir und Marmalade im Garten präsentiert. Ruby hatte es letzten Sommer von ihrem Zimmerfenster aus geschossen. Ich lag bäuchlings im Gras und las, er lag quer über meinem Rücken in einem Rechteck aus Sonnenlicht. Es brachte mich natürlich wieder zum Weinen, aber es erfüllte mich auch mit einem nie da gewesenen Gefühl von Dankbarkeit für meine Schwestern. Wir hatten danach zwei Flaschen Rotwein gekippt, und ich hatte Ruby wegen Zach aufgezogen.
»Wie lief es mit den Porträtaufnahmen, Rubes?«
Sie verdrehte die Augen. »Ich hab’s versucht. Ich hab ihm meinen sexy Blick gezeigt, aber es hat nicht funktioniert, also war’s das wohl.«
Mia nötigte sie natürlich, uns vorzuführen, wie dieser sexy Blick aussah, woraufhin Ruby ihre Augenlider auf Halbmast senkte wie eine Betrunkene und einen Schmollmund machte. Wir mussten so heftig lachen, dass ich beinahe erstickt wäre.
»Ich glaube übrigens, Ruby hat dich aufgegeben«, klärte ich Zach auf, während er sich durch sein Baguette mampfte.
Er grinste mit vollen Backen. »Ah, sie ist ja echt toll. Aber sie ist deine Schwester. Ich konnte einfach nicht. Wie geht’s eigentlich deinem Fascho-Lover?«
»Ganz gut. Er war die Woche über auf Dienstreise, führt mich aber morgen zu meinem Geburtstag aus.«
Zach riss die Augen auf. »Dein Geburtstag! Das hast du gar nicht erzählt. Was hast du vor?«
»Gar nichts, ich hasse Geburtstage.«
Er schüttelte den Kopf. »Du kannst deinen eigenen Geburtstag nicht hassen. Selbst für deine Verhältnisse ist das echt tragisch.«
»Danke. Und ja, ich weiß. Aber es ist so. Also werde ich mit Rory essen gehen, und das war’s.«
»Dann sollte er dich besser in einen ordentlichen Laden ausführen. Ich möchte nächste Woche nicht hören, dass du deinen Geburtstag mit einem Piri-Piri-Hähnchen bei Nando’s verbracht hast.«
»Ich glaube nicht, dass Rory weiß, was das Nando’s ist«, sagte ich. Dann begegnete ich Zachs Blick, und wir beide prusteten los. Völlig ausgeschlossen, dass Rory das Risiko eingehen würde, Chilisoße auf einem seiner gestärkten Hemden zu verkleckern.
»Hey, was ist jetzt eigentlich mit der Weihnachtsparty?«, fragte ich, als wir uns wieder beruhigt hatten.
Zach wischte die Krümel von seiner Jeans. »Was hältst du von Weihnachtsliedersingen?«
»Wir?«
»Nein, um Himmels willen! Kannst du singen? Nein, natürlich nicht. Ich hab dich im Lagerraum gehört.«
»Pass bloß auf, ich bin immer noch sehr sensibel.«
»Das verkraftest du schon. Außerdem habe ich mich kundig gemacht. Die Chelsea Pensioners haben wohl einen Seniorenchor, also dachte ich, die könnten wir doch anfragen. Ein bisschen miteinander singen, ein bisschen Glühwein trinken und Norris im Weihnachtsmannkostüm. Das wird meine letzte Woche im Laden, also will ich, dass es richtig gut wird.«
»Deine letzte Woche?«
»Ja. Ich fliege an dem Wochenende nach Südamerika.«
»Oh, natürlich.« Ich schaute auf mein Sandwich runter und wurde beinahe überwältigt von einer Woge des Selbstmitleids. Mein Leben fühlte sich so klein an. Ich machte jeden Morgen das gleiche Sandwich und packte es doppelt in Klarsichtfolie ein. Das war im Grunde der einzige Nervenkitzel, dem ich mich tagtäglich stellte – bei der Arbeit ankommen und nachschauen, ob ja kein Tomatenstückchen im Rucksack gelandet war.
»Dann wirst du mich endlich los sein«, sagte Zach und knuffte mich sanft mit der Faust in die Schulter.
»Wird ja auch Zeit.« Ich gab mir Mühe zu grinsen. »Hat Norris sein Okay für den Weihnachtschor schon gegeben?«
»Nein, aber das wird er.«
Die Chelsea Pensioners waren eine Gruppe von Armeeveteranen, die in einem Altersheim in der Nähe wohnten und immer noch in roter Uniform und schwarzen Mützen die King’s Road hoch und runter stolzierten. Ich hatte keinen Schimmer, wie es um ihre Gesangskünste bestellt war, aber im Viertel waren sie so was wie eine Institution.
»Und wie macht der Laden dabei Umsatz? Werden wir sie nicht bezahlen müssen?«
»Läuft auf Spendenbasis«, erwiderte er achselzuckend. »Wir lassen ein Körbchen für die Sänger umgehen, bleiben für die Weihnachtseinkäufer bis spätabends geöffnet und bieten gratis Geschenkeinpackservice an oder so.«
»Wir haben bereits gratis Geschenkeinpackservice.«
»Schon gut, kleine Pedantin, ich überlege mir was anderes. Aber findest du es generell eine gute Idee?«
Ich nickte. »Ja, gut gemacht, Superman.«
Er reckte den Arm vor sich aus wie Clark Kent, der durch die Luft fliegt.
»Jetzt werd mal nicht übermütig. Der Chef hat sich noch nicht weichklopfen lassen.«
»Wird er«, sagte Zach und knüllte seine Sandwichverpackung zusammen. »Wird er.«
Eugene hatte zwar angeboten, am nächsten Morgen den Laden aufzuschließen, damit ich an meinem Geburtstag ausschlafen könnte, aber ich wachte trotzdem schon um sieben auf. Wie ich so im Bett lag, spürte ich nach, ob sich dreiunddreißig irgendwie anders anfühlte als zweiunddreißig. Vom rein mathematischen Standpunkt betrachtet, hatte ich ein Jahr und einen festen Freund dazugewonnen, aber einen Kater verloren. Hob sich das gegenseitig irgendwie auf? War ich ein bisschen klüger geworden? Schwer zu sagen.
Ich rollte mich auf die Seite und betrachtete das Foto von Mum, das vor dreißig Jahren aufgenommen worden war und auf dem sie hinter mir hockte, während ich meine pummeligen roten Bäckchen aufplusterte, um meine Kerzen auszublasen. Ich runzelte angestrengt die Stirn, so als könnte ich sie mit schierer Gedankenkraft zum Leben erwecken, und fragte mich, was sie wohl heute zu mir sagen würde, wenn sie immer noch da wäre.
»›Geh jetzt endlich duschen‹, wahrscheinlich«, murmelte ich und schlug die Bettdecke beiseite. Noch immer verspürte ich das Bedürfnis, mich morgens mit Marmalade zu unterhalten, so wie ich es immer gemacht hatte.
Ich zog mich an und spazierte gemächlich zum Laden, doch dort angekommen war es seltsam still.
»Hallo?«, rief ich.
Keine Antwort. Hinter der Kasse war niemand, auch nicht im Verkaufsraum oder unten.
»HALLO?«, rief ich noch einmal die Treppe runter zum Büro.
Nichts. Was zur Hölle war da los? Da ließ ich sie einen Morgen allein, und der ganze Laden fiel in Tiefschlaf.
»Männer«, brummte ich, zog meinen Rucksack vom Rücken und erlitt beinahe einen plötzlichen Herztod, als Eugene, Norris und Zach wie Lachse hinter der Kasse hervorsprangen. Nun ja, Eugene und Zach sprangen – Norris stand nur ein bisschen schneller auf, als er es normalerweise tun würde.
»ALLES GUTE ZUM GEBURTSTAG!«, brüllten sie, während ich nach einem Regal griff, um nicht umzukippen.
»O Gott!«, keuchte ich und umklammerte das Regalbrett. »Ich habe keine akrobatischen Einlagen erwartet.«
»Ich glaube, meine Hüfte ist hinüber«, ächzte Norris. »Ich muss mich setzen.«
»Warte noch«, sagte Eugene. »Wir müssen ihr doch die Karte geben.« Er streckte mir einen Umschlag hin.
Ich öffnete ihn und sah, dass die Karte von allen dreien unterzeichnet war, plus allen, die offenbar die Woche im Laden gewesen waren. Rita, die Reinigungskraft. Mrs. Delaney. Ich entzifferte einen der Glückwünsche: Ein schönes Geburtstagsfest, und ich hoffe, das nächste Jahr bringt Ihnen alles, was Sie sich wünschen. Herzlichst, Terence.
»Wer ist Terence?«
Eugene schaute betreten zur Seite. »Er hat gestern ein Buch über Fahrräder gekauft, als du gerade mit Zach in der Mittagspause warst.«
»Danke, Leute.«
»Da ist noch etwas anderes drin«, schob er hinterher und nickte zum Umschlag.
Ich zog einen Zettel heraus – ein Gutschein für eine Massage in einem schicken Spa ums Eck.
»Wir dachten, du könntest etwas Entspannung gebrauchen, nach, na ja, der ganzen Sache«, erklärte Zach.
Ich grinste erneut. »Danke euch, ich bin sehr gerührt.«
Norris hinkte nach unten, und ich schubste meinen Rucksack unter die Kasse. Ich hatte dasselbe schwarze Kleid mitgenommen, das ich bei meinem ersten Date mit Rory getragen hatte, und dazu meine altbewährten schwarzen Pumps, in denen ich tatsächlich auch gehen konnte. Ich hatte immer noch keine Ahnung, wo das italienische Restaurant war. Er hatte mir am Morgen geschrieben, ich solle »weitere Anweisungen abwarten«.
»Was hast du später vor?«, fragte Eugene.
»Keine Ahnung, es ist eine Überraschung.«
»Denk dran, was ich übers Nando’s gesagt habe«, warf Zach mit zusammengekniffenen Augen ein, »falls er es je wagen sollte.«
»Es wird nicht das Nando’s«, erwiderte ich und griff in meine Hosentasche, da mein Handy vibrierte.
Schatz, das Meeting wurde verschoben. Ich weiß noch nicht, mit welchem Zug wir zurückkommen, aber so wie es aussieht, nicht vor 22 Uhr. Ich muss bleiben, bis der Minister fertig ist. Es tut mir so leid, vergib mir. Können wir stattdessen morgen Abend ausgehen? Rx
»Oh«, murmelte ich. »Wie es aussieht, werden wir nirgendwo hingehen.«
»Was?«, riefen Zach und Eugene gleichzeitig.
»Rorys Meeting wurde verschoben, also kommt er erst spät zurück.« Ich versuchte zu lächeln. »Habt ihr vielleicht Lust auf ein Geburtstagsessen bei Nando’s?«
»Nein«, erwiderte Zach kopfschüttelnd. »Das bekommen wir besser hin. Eugene, hast du heute Abend Zeit?«
Eugene nickte.
»Also gut, überlass das mir.«
»Wie meinst du das?«
»Mach dir keinen Kopf, aber Superman eilt zur Rettung. Es wird kein Piri-Piri-Hähnchen geben, und du wirst dich amüsieren. Einverstanden?«
»Einverstanden.« Ich gab mir Mühe, nicht ganz so deprimiert zu klingen, wie ich mich innerlich fühlte. Vielleicht war ein Kater eben doch besser als ein Freund.
Als der Laden an dem Abend schloss, sagte Eugene, ich solle meinen Mantel anziehen, und Zach tauchte mit einer Augenbinde wedelnd aus dem Büro auf. Beinahe wäre mir herausgerutscht, dass Rory einmal eine von Mias Schlafmasken stibitzt und meine Hände gefesselt hatte, aber ich war nicht sicher, ob das in diesem Moment so passend war.
»Wofür ist das denn?«, fragte ich, während er die Binde um meinen Kopf knotete.
»Wirst du sehen. Und trink das.« Ich spürte Zachs Hand auf meiner, als er eine kalte Flasche in sie schob. »Bier. Flüssiger Mut.«
»Für was denn?«
»Warte ab«, sagte er. »Eugene, ist das Uber da?«
»Gerade vorgefahren.«
»Ich brauche meinen Rucksack«, warf ich ein.
»Den hat Eugene. Keine Sorge«, sagte Zach.
Und so – als würde er eine äußerst zivilisierte Entführung durchführen, bei der die Geisel ein Bier bekommt, bevor sie in das Fluchtfahrzeug bugsiert wird – führte Zach mich hinaus und drückte sanft meinen Kopf runter, damit ich gefahrlos einsteigen konnte.
»Florence, würdest du dir bitte kurz die Ohren zuhalten?«
»Was? Warum?«
Er seufzte. »Ehrlich, wenn das hier echt wäre, hätte ich dich schon ganz ohne Lösegeld freigelassen. Tu’s einfach. Ich muss mit dem Fahrer besprechen, wo wir hinfahren.«
Ich klemmte die Flasche zwischen meine Beine und schob die Finger in meine Ohren, bis ich Zach brüllen hören konnte, dass ich sie rausziehen durfte.
»Könnten Sie bitte Magic reinmachen?«, bat Eugene vorne, woraufhin der Fahrer an seinem Radio herumtippte und die Lautsprecher Tina Turners »Simply the Best« rausposaunten. Eugene fing an mitzusingen.
»Komm schon, Geburtstagskind, du kennst doch den Text«, sagte Zach, bevor er ebenfalls einstimmte.
»Give me a lifetime of promises and a world of dreeeeeeams«, grölten sie.
Ich nahm einen großen Schluck Bier und kniff die Lippen zusammen.
»Florence, ich kann dich nicht hören«, sagte Zach.
»Schon gut«, brummte ich, öffnete den Mund sang verhalten ein paar Worte mir: »Better than all the rest, better than anyone.«
»Du klingst wie ein Backfisch bei der Chorprobe, komm schon!«, drängte Zach, bevor er den nächsten Vers schmetterte.
»Zach, ich hatte ja keine Ahnung, dass du so ein Fan bist«, sagte Eugene, der bei seiner Darbietung innehielt.
»Tina? Ich liebe sie. Großer Fan von Achtziger-Balladen.«
Eugene seufzte schwer. »Ich wünschte, du wärst schwul.«
»Sorry, Kumpel. Aber wenn ich es wäre, stündest du ganz oben auf meiner Liste.«
Ich grinste in meine Flasche. Das hier war verrückt. Mit verbundenen Augen in einem Uber sitzen und zu Tina Turner mitsingen, während ich an einem Bier nuckelte, war verrückt. Aber auf eine gute Art verrückt.
»Hier ist es super, Kumpel, danke«, hörte ich Zach ein paar Minuten später zum Fahrer sagen, und der Wagen hielt an. »Raus mit dir, komm schon«, sagte er, nahm meine Hand und zog mich über den Rücksitz.
Wieder spürte ich seine schützende Hand auf meinem Kopf, als ich ausstieg.
Ich konnte das Brummen des Londoner Verkehrs hören sowie das vereinzelte Kreischen eines Kindes. Wo waren wir?
»Bereit?«, fragte Zach, bevor er die Augenbinde abnahm.
»ÜBERRASCHUNG!«, ertönte der einstimmige Ruf.
Ich blinzelte zu den Lichterketten in den Bäumen um uns herum hinauf. Wir befanden uns vor dem Naturhistorischen Museum, und vor mir standen Ruby, Mia, Hugo, Jaz und Dunc.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Süße«, sagte Jaz und trat vor, um mich zu umarmen. »Dunc, zeig Flo, was du für sie hast.«
Er trat ebenfalls vor und reichte mir eine Karte, auf der mit Wachsstiften ALLES GUTE ZUM GEBURTSTAG geschrieben stand. »Hab ich für dich gemacht«, erklärte er.
»Oh, Dunc! Danke schön! Bin das ich?«, fragte ich und deutete auf die Zeichnung. Es war entweder eine Frau oder ein Puddingförmchen mit Perücke.
Er nickte.
»Das ist genial.« Ich ging in die Hocke und drückte ihn an mich. »Vielen, vielen Dank.«
Nach mehreren Glückwünschen und Umarmungen von allen anderen drehte ich mich erneut zu Zach um. »Also? Was haben wir vor?«
»Wir gehen Schlittschuh laufen«, sagte er und zeigte an den anderen vorbei zu einer Eisbahn neben dem Museum. Da kam das Kinderquietschen also her. Neonblaue und pinke Lichter huschten über die weiße Oberfläche, während die Leute darüberglitten und einen riesigen blinkenden Weihnachtsbaum in der Mitte umkreisten. Ein Song von Justin Timberlake drang aus einem Lautsprecher.
»Ich kann nicht Schlittschuh laufen!«
»Doch, natürlich kannst du«, erwiderte er. »Dunc, kannst du Schlittschuh laufen?«
Er dachte kurz nach. »Ja, aber nur wenn meine Mum meine Hand hält.«
»Ganz genau«, fuhr Zach fort. »Wenn Dunc Schlittschuh laufen kann, kannst du es auch. Lass uns gehen.«
Er führte uns hinter der Eisbahn über eine Schräge nach unten in ein Zelt. Regale mit blauen Plastikschlittschuhen erstreckten sich über eine Wand.
»Größe?«, fragte ein gelangweilt wirkender Mann, der vor den Regalen stand.
»Einundvierzig«, flüsterte ich ganz leise.
»Wie bitte?«
»Einundvierzig«, sagte ich kaum lauter.
»EINUNDVIERZIG!«, brüllte Ruby, die neben mir auftauchte.
»Danke, Rubes.«
Wir stapften wie eine Horde Transformers hinaus, unfähig, unsere Beine richtig zu beugen, nachdem wir die Schlittschuhe umgeschnallt hatten. Hugo murmelte irgendwas davon, ob die Eisbahn auch über die korrekten Sicherheitsstandards verfüge, woraufhin Mia entgegnete, er solle sich nicht wie ein Baby anstellen. Jaz erzählte, dass sie Eiskunstläuferin werden wollte, als sie klein war.
»Wirklich? Warum?«, fragte ich.
»Ich habe damals Torvill und Jean geliebt.«
»Meinst du Dean?«, fragte Zach.
»Ja, genau.«
Jaz und Dunc liefen als Erste los. Dann Mia und Hugo, gefolgt von Eugene, danach Ruby, womit nur noch ich und Zach übrig blieben.
»Komm schon«, sagte er und hielt mir die Hand hin.
»Ich wette, du bist richtig gut in dem hier, stimmt’s? Deswegen hast du’s ausgesucht«, sagte ich, während meine Finger sich um seine krallten und ich zittrig wie eine alte Oma die Eisfläche betrat.
Er grinste. »Vielleicht. Ich werde Dean sein, wenn du meine Torvill bist?«
Ich schob mich Stück für Stück übers Eis und betete, dass ich nicht sofort ausrutschte. Kleine Kinder flitzten um mich herum wie Profis. Ruby hatte bereits mehrere Runden gedreht, und ihr Haar wehte majestätisch hinter ihr her. Ich lachte, als ich Hugo sah, der sich an der Bande am Rand der Eisfläche entlanghangelte, während Mia neben ihm auf ihn einschrie: »Lass uns fahren, sei nicht so ein Angsthase. Warum bloß heirate ich so einen Angsthasen?«
»Ich bin kein Angsthase, es ist nur so weit zum Boden«, entgegnete Hugo mit panischer, quiekender Stimme.
»Fahr ruhig!«, sagte ich zu Zach, der mich mit sich zog. »Das ist doch stinklangweilig für dich.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, es ist witzig. Konzentrier dich, lehn dich zurück. Du beugst dich vor, als hättest du Verstopfungen.«
»Halt die Klappe!«
»Tja, tust du aber. So ist’s gut. Und beug deine Knie etwas mehr. Genau so. Benutz deine Arme, um das Gleichgewicht zu halten. Und sieh mal, du fährst!«
Ich fuhr. Quasi. Es gab zwar immer noch Kinder, die mich locker überflügelten, aber ich nahm an Tempo zu. Ich ließ Zachs Hand los und schob ein Bein nach dem anderen hinter mir weg, wobei ich ein herrlich schabendes Geräusch mit meinen Kufen machte.
»YOU’RE SIMPLY THE BEST!«, brüllte Eugene, als er an mir vorbeiglitt und dabei einen kleinen Kreis vollführte.
»Angeber!«, schrie ich zurück.
Zach rauschte hinter Dunc heran und nahm ihn an der Hand.
Jaz ließ die beiden vorfahren und glitt zu mir. »Er hat eine ziemlich große Schwäche für Zach«, meinte sie und nickte zu den beiden rüber. Zach zog Dunc mit sich, während der glucksend lachte.
»Niedlich.«
»Ist es«, sagte Jaz und sah wieder zu mir. »Also, wo steckt Rory?«
»Hängt bei der Arbeit fest. Nimmt einen späten Zug aus Brüssel.« Ich hatte an dem Tag zunehmend zerknirschte Entschuldigungen erhalten sowie einen weiteren Strauß Blumen. Dieses Mal rosafarbene Amaryllis, ein noch größeres Bouquet als die Rosen von vor ein paar Tagen. Wenn man durch die Schaufenster vom Frisbee schaute, hätte man es für einen Blumenladen halten können. Blumen schienen Rorys Standardentschuldigung zu sein. Schick einen riesigen Strauß, und alles wird gut.
»Wie läuft es sonst mit ihm?«
»Alles gut.«
»Wirklich?«
»Ja.« Ich nickte. »Wirklich.« Dann seufzte ich. »Es war nur eine schräge Woche.« Über das mit Marmalade wusste sie bereits Bescheid, doch ich erklärte ihr das mit dem Schwarz-Weiß-Ball, dem Kleid und unserem Streit danach.
»Na ja«, sagte sie mit einem Blick über die Eisbahn, »entweder ist es der erste Test für eure Beziehung, und wenn du ihn wirklich magst, dann ist es in Ordnung. Oder ...«
»Oder was?«
Sie biss sich auf die Unterlippe.
»Sag schon, wann bitte hattest du je Angst, mir was zu sagen?«
»Pass einfach auf, dass du nicht eine Beziehung führst, nur um in einer Beziehung zu sein. Es gibt noch andere Kerle da draußen, weißt du. Schau dir George und mich an.«
»Jetzt heißt es schon ›George und mich‹, ja?«, neckte ich sie. »Also, habt ihr euch getroffen?«
Sie lächelte. »Ja, wir sind am Wochenende mit den Kindern in den Park gegangen, und dann hat er bei mir noch ein Glas Wein getrunken.«
»Schon geknutscht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nee, ich glaube, der wird seine Zeit brauchen. Er scheint Maya die meisten Nächte bei sich zu haben, und ich habe Dunc, aber ja, doch, wir schreiben uns jeden Tag. Ich wollte damit nur sagen, dass man nie weiß, wann jemand einfach so in deinem Leben auftaucht.«
Ich nickte, verspürte jedoch innerlich einen überraschenden Stich von Eifersucht. Andere Frauen schienen ihre Freunde so einfach zu finden, schwangen nahtlos vom einen zum nächsten wie ein Affe an einer Liane. Ich hatte jahrelang auf diesen einen gewartet, und der Gedanke, Rory nicht mehr zu haben, erfüllte mich mit Panik, als würde ich im Leben haltlos rückwärts rutschen. Ich durfte ihn nicht so schnell verlieren. »Jaz, ich kann nicht nach einer schlechten Woche gleich mit Rory Schluss machen.«
»Ich sage auch nicht, dass du das sollst. Stell einfach sicher, dass du aus den richtigen Gründen mit ihm zusammen bist. Aber genug geredet, wir können nicht den ganzen Abend hier rumstehen wie ein Rentnerpärchen.«
Sie zog mich vom Rand fort, und als die ersten Akkorde von »Livin’ on a Prayer« durch den Lautsprecher erschallten, sausten wir schon um den Weihnachtsbaum in der Mitte herum. Jaz grölte so laut zu Bon Jovi mit, dass die Eltern ihre Kinder von uns wegzogen. Ich fiel der Länge nach hin, ein spektakulärer Sturz, bei dem meine Beine unter mir wegrutschten, und landete, alle viere von mir gestreckt, auf dem Eis. Mein Pulli rutschte hoch und überließ meinen Bauch der Kälte. Für einen kurzen Moment fühlte ich mich auf die Tanzfläche des Schwarz-Weiß-Balls zurückversetzt, nur dass hier niemand mit gerümpfter Pferdenase auf mich herabschaute. Stattdessen ging Jaz in die Hocke, um mir aufzuhelfen, auch wenn das unglücklicherweise zur Folge hatte, dass sie ebenfalls umfiel, und so lagen wir da, kreischend vor Lachen, bis einer der Aufseher zu uns rübergefahren kam und uns ermahnte, dass wir die anderen behinderten.
Dann kam die Durchsage über den Lautsprecher, dass unsere Zeit um war, also stapften wir ins Zelt zurück und tauschten unsere Kufen gegen Schuhe ein.
»Alkohol!«, verkündete Eugene und deutete zu einem Bar-Schild.
»Ich bringe lieber den Kleinen da heim«, erwiderte Jaz und neigte den Kopf zu Dunc. »Noch mal, alles Gute zum Geburtstag, meine Süße«, sagte sie und schloss mich in ihre Arme.
»Danke, dass du gekommen bist.«
»Amüsier dich gut«, sagte sie. »Lass dich ordentlich volllaufen.«
»Wird gemacht«, versprach ich. Und rückblickend gebe ich tatsächlich Jaz die Schuld für das, was als Nächstes passierte, denn ich nahm ihre Anweisungen sehr wörtlich.
Ein paar Stufen hoch, oberhalb der Schlittschuhbahn, befand sich ein Raum, der wie eine Berghütte gestaltet war: eine rustikale Holztheke, die mit Girlanden aus Tannenzweigen und Lichterketten dekoriert war, lange Holztische und -bänke, an denen die Gäste saßen und Bier aus Krügen tranken.
»Besetzt einen Tisch«, sagte Zach, »ich besorge die Getränke.«
Wir setzten uns an einen der Holztische. Hugo meinte, er müsse sich ans Ende der Bank setzen, damit er seine schmerzenden Schienbeine reiben konnte. Anscheinend hatten die Schlittschuhe sich »hineingegraben«. Mia verdrehte die Augen und kehrte ihm den Rücken zu.
»Wann ist denn die Hochzeit?«, fragte Eugene.
»Morgen in drei Wochen«, erwiderte Mia in einem Tonfall, der aufrichtige Begeisterung verriet.
Ich schaute erneut zu Hugo, der das Gesicht verzog wie ein Vierjähriger, der auf dem Spielplatz hingefallen war und sich das Knie aufgeschürft hatte, und fragte mich erneut, wie sie so beglückt über diese Aussicht sein konnte.
Ich checkte mein Handy und sah einen verpassten Anruf von Rory, ignorierte ihn jedoch erst mal, da ich Zach erspähte, der sich mit einem großen Tablett durch das Gedränge an der Bar schob.
»Haut rein«, sagte er und stellte es ab. Er hatte einen großen Krug Bier, Gläser und mehrere Packungen Chips mitgebracht. Ich griff direkt nach dem Bier. Ich kippte eines, dann noch eins. Als Nächstes wurde Hugo von Mia an die Bar geschickt. Eugene kümmerte sich um die nächste Runde und kehrte nicht bloß mit Wodka und noch mehr Bier zurück, sondern auch mit gummiartigen Hotdogs. Es war, als würde man an einem salzigen Fahrradreifen nagen, aber ich hatte meinen innerhalb von Minuten verschlungen und widmete mich erneut dem Bier. Irgendwann – alles wurde schon etwas verschwommen – beugte sich Zach über den Tisch, in den Händen einen Muffin, in dem eine einzelne Geburtstagskerze steckte, und es folgte ein »Happy Birthday«-Ständchen.
»Happy birthday, liebe Florence«, sang unser Tisch.
»Happy birthday, liebe wie auch immer«, sang der Rest der Bar.
»Happy birthday, liebes Iiiiiiiich«, lallte ich.
»Ich liebe euch, Leute«, verkündete ich danach und grinste in die Runde. »Ich liebe dich«, sagte ich mit Blick zu Mia. »Und dich«, sagte ich zu Ruby. »Und dich muss ich lieben, da du bald mein Bruder bist«, erklärte ich Hugo. »Dich liebe ich ganz arg«, versprach ich Eugene. »Und ich glaube, dich habe ich nicht geliebt, aber jetzt tu ich’s«, sagte ich an Zach gewandt und sah ihn unter schlaffen, halb geschlossenen Lidern an.
»Da bin ich aber froh, dass ich es noch geschafft habe«, sagte er lachend.
»Gern geschehen«, erwiderte ich, bevor ich an Eugenes Schulter zusammensackte.
»Ich glaube, wir müssen das Geburtstagskind nach Hause bringen«, sagte Ruby.
»Nein!« Ich setzte mich kerzengerade auf. »Nicht nach Hause! Mehr Schnaps!« Ich hickste und spürte einen Happen Hotdog hochkommen. Ich schluckte schnell, aber Ruby entging es nicht.
»Oh, oh, wir gehen definitiv nach Hause«, sagte sie. »Mia, rufst du ein Uber?«
Und dann passierte etwas ganz Schräges: Ich versuchte aufzustehen, aber ich konnte nicht. Es war, als hätten sich meine Beine in labbrige Spaghetti verwandelt. Sie konnten mich einfach nicht hochstemmen. Ich versuchte es. Ich versuchte wirklich, mich von diesem Tisch zu erheben, aber nichts ging. Und bevor ich mich versah, flog ich.
Quasi.
Zach hatte mich mühelos hochgehoben und hielt mich in den Armen wie ein Baby. Als er die Stufen nach unten ging, atmete ich über seine Schulter aus, damit ihn meine Fahne nicht umhaute. Alle Lichterketten waren eine große verschwommene Lichterkette geworden, die Stimmen der anderen Leute klangen, als hätte man sie absichtlich verzerrt, um ihre Identität nicht preiszugeben, und mein Schluckauf wurde immer heftiger.
Er schob mich durch eine Autotür, als würde er ein zerbrechliches Paket abstellen, und ich bemerkte, dass die Straßenlaternen draußen hin und her schwankten wie Palmen.
Das war der Moment, in dem ich meinen dritten großen Fehler des Abends beging. Ein weiterer Hickser verwandelte sich in den nächsten Hotdog-Happen, und ich zerrte meinen Rucksack auf, als sich auch schon ein Schwall aus Bier und Frankfurter Würstchen aus meinem Mund hineinergoss.
Ich hörte, wie Mia sich beim Fahrer entschuldigte, während Ruby meinen Rücken rieb. »Jupp, okay, lass alles raus. O nein, da kommt ja mehr. Gut. Alles klar, willst du ein Taschentuch? O nein. Immer noch nicht fertig. Das war’s. Mein Gott, das ist aber viel Bier. War’s das jetzt? Okay, hier, nimm.«
Ruby reichte mir eine Papierserviette aus ihrer Handtasche, und ich wischte mir den Mund ab. Dann wunderte ich mich, warum wir durch einen Sturm rasten: Mein Haar wehte um mein Gesicht, vereinzelte Strähnen klebten sich an meine feuchten Lippen. Ruby erzählte mir später, dass der Gestank so übel war, dass der Fahrer darauf bestanden hatte, alle vier Fenster runterzulassen, obwohl in der Nacht Temperaturen um den Gefrierpunkt herrschten. Und als wir endlich unser Haus erreichten, wollte Hugo mich anscheinend huckepack nach oben tragen, war jedoch zu schwach und musste sich nach einer Treppe hinsetzen. Ruby und Mia übernahmen: Eine packte meine Füße, die andere meine Achseln, während ich eine weitere Runde »Happy Birthday« anstimmte, bis sie mich ins Bett gewuchtet hatten. Trotzdem war es letzten Endes ein schöner Geburtstag. Viel glücklicher, als ich erwartet hatte. Weniger glücklich für Mia jedoch, da ihre Uber-Bewertung in Folge um zwei Sternchen sank.
»Bzzzzzzz«, machte der Riesenvogel. »Bzzzzzz, bzzzzzzzzz.« Wir befanden uns im dichten Unterholz, und sein großer Schnabel schnappte nach mir, um mir den Kopf abzureißen. »Bzzzzzzz, bzzzzzzzzzzzz.« Ich stolperte über eine Liane und wartete darauf, verschlungen zu werden. Das war’s dann wohl. Nun ja, ich hatte eine gute, erfüllte Zeit gehabt. Das Leben hatte es nicht schlecht mit mir gemeint. Ich hatte Freunde und Familie, Marmalade und einen Job in einer Buchhandlung. Das Bild von Dads Gesicht blitzte kurz vor meinem geistigen Auge auf, als ich auch schon sah, wie sich der Schnabel über meinem Kopf aufsperrte, und ich verspürte einen Anflug von schlechtem Gewissen, dass das hier in den Zeitungen peinlich für ihn aussehen würde: Tochter des Botschafters von Riesenvogel verspeist. Aber es gab weitaus schlimmere Arten zu gehen. »Bzzzzzzz, bzzzzzzzzzz.« Ich wappnete mich innerlich für das Ende und … Ah.
Das Summen war die Türklingel, und der Schmerz in meinem Kopf war so schrecklich, dass ich nicht wusste, ob ich mich würde rühren können. Konnte ich mich rühren? Ich streckte unter der Bettdecke meine Finger, dann probierte ich es mit den Zehen. Sie funktionierten. Was war mit meinen Armen? Nope, meine Arme zu bewegen intensivierte nur den Kopfschmerz. Es war, als würde mein Hirn versuchen zu platzen, um sich aus meinem Schädel zu befreien. Wasser. Aspirin. Blindlings tastete ich auf meinem Nachttisch herum und kippte mein Wasserglas um, das auf den Teppichboden fiel. Verdammt.
Bzzzzzzz, bzzzzzzzzzz. Die Türklingel ging schon wieder los. Wo war Mia? Und wo Ruby? Sie waren schneller an der Haustür als ich. Außerdem benötigte ich umgehend eine medizinische Behandlung. Ich öffnete die Schublade meines Nachttisches und fand eine Packung Ibuprofen, wankte zum Badezimmer und senkte den Mund unter den kalten Wasserhahn.
Bzzzzzzzzzzzzzzzzz. Ich richtete mich auf, schluckte die Tablette runter und schlug mir dabei den Kopf an der gläsernen Ablage unter dem Spiegel an. Wie konnte man an einem Samstagmorgen eine solche Nervensäge sein? Ich griff nach meinem Bademantel und knotete ihn im Hinuntergehen zu. Falls es jemand war, der Handtücher, Fische oder Gott verkaufte, würde ich denjenigen zur Strafe kräftig anhauchen.
Bzzzzzzzzzz, ging es schon wieder los, als ich die Diele erreichte. Mein Gott, wie es hier stank. Was war das bloß?
Mein Blick fiel auf meinen Rucksack, der unter dem Garderobenständer lag, und mich überkam das vage Gefühl, dass dem Rucksack etwas Schlimmes widerfahren war. Warum lag er hier unten und nicht oben in meinem Schlafzimmer? Wo war mein Handy, wo wir schon dabei waren? Aber als ich näher kam, wurde der Gestank nur noch schlimmer. Ich beugte mich runter, um ihn zu öffnen, und … O Gott, nein! Nein, nein, nein. Weiche zurück, Florence! Rühre den Rucksack nicht an. Der Rucksack war über Nacht böse geworden.
Bzzzzzzzzzzzzzzzzzz!
»Schon gut, schon gut, ich komme!«, ächzte ich und zog die Kette von der Tür. »Zach!«
Er stand mit einem Pappkarton auf der Fußmatte, warf jedoch den Kopf zurück und lachte lauthals los, als er mich sah.
»Entschuldige«, gluckste er, »ich wollte eigentlich Florence Fairfax besuchen, aber wie es aussieht, bin ich bei ihrer gebrechlichen Großmutter gelandet. Wissen Sie vielleicht, wo ich sie finden kann?«
»Bring mich bitte nicht zum Lachen«, sagte ich und legte mir die Hände an die Schläfen. »Das tut weh. Was machst du hier?«
»Kann ich reinkommen?«
»Ähm, ja, aber ich sollte dich wohl warnen, da...«
»Was ist das für ein Gestank?«, fragte er, als er in die Diele trat.
»Ach, nichts«, sagte ich rasch. »Kaffee?«
»Ja, bitte«, sagte er und steuerte die Küche an. »Ich habe dir Croissants mitgebracht.«
»Wie viele Croissants brauchen wir denn?«, fragte ich mit Blick auf seinen Pappkarton. »Da müssen ja Hunderte drin sein.«
»Das hier enthält nichts Essbares.« Er stellte den Karton behutsam auf dem Küchentisch ab.
»Was ist es denn?«
»Schau rein«, meinte er mit einem breiten Grinsen.
Ich kniff argwöhnisch die Augen zusammen und griff nach dem Deckel.
»Vorsichtig«, mahnte er ernster.
Ich klappte eine Seite des Deckels auf, dann die andere, und meine Hände flogen ganz automatisch zu meinem Gesicht. »O mein Gott, Zach!«
In der Schachtel saß, kaum größer als eine Teetasse, ein rostrotes Kätzchen.
»Ist das ein Scherz?« Ich sah zu ihm auf.
Er schüttelte den Kopf, immer noch grinsend. »Nein! Außer du willst ihn nicht?«
Ich griff in den Karton, hob das Katerchen raus und verliebte mich an Ort und Stelle. Es erinnerte mich daran, wie ich Marmalade kennengelernt hatte. Eine Schachtel öffnen und etwas so Winziges darin zu sehen, das mit großen Augen zu dir emporschaute, kam wohl dem Gefühl am nächsten, wenn einem direkt nach der Geburt das noch ganz verschmierte Baby an die Brust gelegt wird. Ich hob beide Hände vor das Gesicht, während er darin saß und mich anblinzelte. »Hi, Kleiner«, flüsterte ich, bevor ich ihm einen Kuss auf das kleine Köpfchen gab. Er antwortete mit einem ganz leisen Maunzen.
»Von einer Katzenmutti in Neasden, deren Haus noch erbärmlicher gemüffelt hat als das hier. Er hat übrigens schon einen Mikrochip implantiert, und den ganzen Papierkram habe ich hier in meiner Tasche.«
Ich drückte ihn ganz behutsam an meine Brust, unfähig, ihn abzulegen. In der Schachtel lag ein nagelneues Filzbett samt einer Auswahl an Spielzeug: eine Maus, ein rosa Ball und ein Kätzchen mit Plastikaugen, das größer war als das echte in meiner Hand.
»Ich dachte, er könnte einen Kumpel gebrauchen«, erklärte Zach.
»Das ist unglaublich. Er ist unglaublich. Vielen Dank.«
»Soll ich Kaffee machen?«
»Würdest du das tun?« Bei der Erwähnung von Kaffee fiel mir wieder ein, dass ich eigentlich völlig am Ende war und wahrscheinlich dem Tode nah. Ich zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte mich schwerfällig.
Zach schleuderte seinen Rucksack auf den Boden und füllte den Wasserkocher. »Wie willst du ihn nennen?«
»Kaffee ist im Kühlschrank, Tassen im Hängeschrank neben dem Kühlschrank, Kaffeepresse direkt daneben«, sagte ich, als er mehrere Türen aufriss. »Und ich weiß nicht. Was meinst du?«
»Nichts zu Offensichtliches.«
»So wie Tigger.«
»Oder Simba.«
»Oder Garfield. Hm. Harry?«
Ich schaute ihn ratlos an, da ich keine Ahnung hatte, wen er meinte.
»Na, Prinz Harry, der hat doch rotes Haar.«
»Harry«, wiederholte ich. »Kann man einen Kater Harry nennen? Was halten wir generell von Haustieren mit menschlichen Namen?«
»Mir gefällt’s. Ich finde es lustig.«
»Die Katzen von Rorys Mutter sind nach Künstlern benannt.«
Zach verdrehte die Augen. »Klar sind sie das. Die feinen Schnösel geben ihren Tieren immer überspannte Namen. Ich habe mal einen Typen im Park seinen Spaniel ›Tybalt‹ rufen hören.«
»Und das sagt jemand mit einem griechischen Gott auf dem Oberarm?«
»Ich könnte Harry auch nach Neasden zurückbringen.«
»O nein, der gehört jetzt mir.« Ich sah auf ihn hinab und verspürte ein schlechtes Gewissen wegen Rory, da mir einfiel, dass ich seine Anrufe gestern ignoriert hatte. Aber es gab nicht viel, was ich tun konnte. Höchstwahrscheinlich lag mein Handy im Rucksack, ertränkt in Kotze.
Zach stellte einen Becher vor mir ab. Kaffee schwappte über den Rand. »Entschuldige. Hast du Küchenpapier?«
»Neben der Spüle.«
»Teller?«
»Im Schrank neben der Spüle.«
Er wischte die Kaffeepfütze auf und fand die Teller; dann griff er in seinen Rucksack und zog eine Papiertüte hervor. »Ich war nicht sicher, wonach dir wäre«, sagte er und riss sie auf, »also gibt es Croissants, ein Pain au Chocolat, eine Zimtschnecke und eine mit Rosinen.«
Ich legte das Kätzchen in meinem Schoß ab – Harry? Funktionierte Harry? – und nahm mir ein Croissant. »Danke.«
»Gern geschehen.«
»Nicht nur für das hier«, erwiderte ich, mit dem Croissant wedelnd. »Für alles. Für gestern Abend, und dass du heute vorbeigekommen bist, und für ihn.« Ich schaute auf das Kätzchen runter, das in der Kuhle zwischen meinen Schenkeln lag.
»Hey, es war immerhin dein Geburtstag. Und du hast ihn nicht gehasst, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. Glücklicherweise setzte die Wirkung vom Ibuprofen langsam ein. »Ich hatte wirklich Spaß.«
»Und irgendwelche Nachrichten von Du-weißt-schon-wem?«
Ich zerpflückte das Croissant in zwei Teile und verzog gequält das Gesicht. »Wahrscheinich, aber mein Handy ist etwas indisponiert.«
Er sah mich fragend an.
»Ich hab mich darauf übergeben.«
»Nicht wirklich, oder?«
Ich nickte langsam. »Doch. Im Taxi auf der Heimfahrt. Ich wusste nicht, wohin sonst ich mich übergeben soll, also habe ich meinen Rucksack genommen.«
Er lächelte kopfschüttelnd. »Und das von der pedantischen Florence Fairfax. Ich bin sehr stolz auf dich.«
»Ich bin nicht pedantisch!«
Zach verschlang kommentarlos den Rest von seinem Croissant.
»Bin ich nicht!«, protestierte ich. »Oder doch?«
»Erinnerst du dich noch an meinen ersten Tag?«
»Als ich dich für einen Einbrecher gehalten habe?«
»Genau, als du mich für einen Einbrecher gehalten hast und fast mit dem Teppichmesser auf mich losgegangen wärst, weil ich Kaffee verschüttet hatte?«
»Okay, ich war vielleicht etwas pedantisch. Aber da kannte ich dich auch noch nicht!«
»Und jetzt tust du’s?«
Seine Offenheit machte mich verlegen, also schaute ich auf meinen Schoß und streichelte das schlafende Kätzchen. »Ich weiß, dass man dir keine Kaffeetasse anvertrauen darf.«
»Das machst du immer.«
»Was?« Ich hob meinen Blick.
»Einen Witz reißen, wenn dir was unangenehm ist. Das nennt man Ausweichmanöver.«
Ich hatte nicht die Zeit, mir einen Witz dazu zu überlegen, denn die Türklingel summte wieder los, woraufhin das Kätzchen in meinem Schoß auf seine Pfoten sprang.
Bzzzzzzzzzzzzzzzzz.
»Hier, nimm mal«, sagte ich und reichte ihn Zach.
Ich schleppte mich durch die Diele, hielt den Atem an, als ich an meinem Rucksack vorbeikam, und atmete erst wieder ein, als ich die Tür geöffnet hatte.
Es war Rory, der ebenfalls einen Karton in den Armen hielt. Auch wenn seiner hellblau war und Smythson draufstand.
»Du lebst ja noch!«, begrüßte er mich und warf die Finger einer behandschuhten Hand in die Luft. »Aber, Grundgütiger, fühlst du dich wohl? Du siehst aus wie ein Gespenst. Und warum gehst du nicht ans Handy? Ich dachte schon, etwas Schlimmes wäre passiert.«
Bevor ich antworten konnte, hörte ich Schritte in der Diele, und als ich über die Schulter blickte, sah ich Zach mit dem Kätzchen.
»Was macht er denn hier?«, schob Rory hinterher. »Und was um Himmels willen ist das für ein Gestank?«
Ich seufzte und trat zurück, um die Tür richtig zu öffnen. »Willst du einen Kaffee?«
Er ignorierte meine Frage und stolzierte an uns beiden vorbei zur Küche. Ich schlurfte ihm hinterher, gefolgt von Zach.
»Ich muss schon sagen, ich bin äußerst verwirrt«, fuhr Rory fort, während er seine Handschuhe abnahm und sie auf die Schachtel fallen ließ, bevor er seinen Mantel über die Lehne des Küchenstuhls hängte. »Ich habe die ganze Nacht angerufen, aber keine Antwort. Was ist das für ein fürchterliches Geräusch?« Er schaute zur Decke hoch, als würde eine Fledermaus durch die Küche kreisen.
»Das ist Harry.«
»Noch ein Fremder! Wer ist Harry?«, wollte Rory wissen.
»Mein neues Kätzchen«, sagte ich und deutete zu Zach, der in der Küchentür stehen geblieben war und das maunzende Katerchen in den Armen wiegte. »Zach hat ihn mir gekauft.«
»Ach, hat er das, ja?«
»Ich glaube, ich sollte lieber los und euch beide allein lassen«, sagte Zach rasch. Er legte Harry in seiner Schachtel ab und schnappte sich seinen Rucksack. »Wir sehen uns Montag, und, äh, war nett, dich zu sehen, Rory.«
Rory erwiderte nichts darauf. Stattdessen taxierte er Zach mit dem gleichen Blick, mit dem man auch den Inhalt eines Taschentuchs inspizieren würde. Ich trat an ihm vorbei, um Zach zu umarmen. »Vielen Dank.«
»Nicht der Rede wert, und iss den Rest ruhig auf«, sagte er mit einem Nicken zu der Tüte mit dem Gebäck. »Danach wird es dir besser gehen.«
Ich wartete, bis die Haustür zugefallen war, und drehte mich wieder zu Rory um.
»Florence, was geht hier vor sich? Ich rase von Brüssel zurück, und du gehst nicht an dein Handy, und dann komme ich heute Morgen her und muss feststellen, dass dein Haus zu einem Zoo verkommen ist.«
»Wie meinst du das?«
»Eine Katze und ein Menschenaffe in deiner Küche!«
Ich seufzte und setzte mich. Dieser Morgen erwies sich als viel ereignisreicher, als ich erwartet hätte.
»Er ist kein Affe. Er ist mein Kollege. Gestern Abend hat er spontan eine Geburtstagsfeier für mich organisiert, und heute Morgen hat er mir Harry geschenkt.« Ich griff in die Schachtel, um ihn erneut rauszuholen.
Rory schnaubte entrüstet. »Klingt, als wäre er in dich verknallt.«
»Er ist einfach nur nett.«
»Gut«, sagte er, bevor er vor mir in die Hocke ging. »Denn, mein Schatz, gestern Nacht, als ich dich nicht erreichen konnte, als ich Bilder vor meinem inneren Auge sah, wie du tot in der Gosse liegst, da wurde mir etwas klar.«
»In der Gosse? Rory, ich lebe in Südlondon. Wo bitte ist hier die Gosse?«
»Jetzt lass mal die Gosse. Hör zu. Was ich dir sagen wollte, ist, dass ich in dich verliebt bin. Ich liebe dich. Das wurde mir gestern Abend im Zug klar. Deswegen wollte ich so unbedingt nach Hause kommen.«
»Oh.«
»Oh?« Rorys Gesicht verharrte nur Zentimeter vor meinem. Er sah mich erwartungsvoll an.
»Was ist in der Schachtel?«, wechselte ich das Thema. Ich musste Zeit gewinnen.
Er stand auf, zog sie vom Tisch und reichte sie mir.
»Kannst du Harry nehmen?«
Rory sah skeptisch auf seine marineblaue Hose hinunter. »Was, wenn ihm ein Malheur passiert? Die Hose ist neu.«
»Wird es nicht.«
Als würde er mit einer Handgranate hantieren, nahm Rory ihn an sich; ich legte die Schachtel auf meinen Schoß und löste die Schleife. Unter dem Deckel, unter einer Lage Seidenpapier, befand sich eine schwarze Lederhandtasche mit Krokodilprägung.
»Dreh sie um«, sagte Rory, also nahm ich sie aus der Schachtel, drehte sie um und sah meine Initialen auf die Rückseite gedruckt. FAF – in goldenen Lettern. »Ich dachte, es sei an der Zeit, dass du diesen grauenhaften Rucksack loswirst«, erklärte er, »also ist hier eine richtige Handtasche, um dir zu sagen, dass ich dich liebe. Ich liebe dich, Florence Amélie Fairfax.«
»Wow«, murmelte ich, mit dem Daumen über die Initialen fahrend. »Vielen Dank. Das ist irre großzügig von dir.«
Rory schüttelte den Kopf. »Nein, ist es nicht. Nicht für die Frau, die ich liebe.«
Er sagte es schon wieder, und ich hatte keine Ahnung, was ich darauf antworten sollte. Dies war der Moment, von dem ich heimlich geträumt hatte. Ein gut aussehender Mann, mein Freund, saß vor mir und sagte, dass er mich liebte. In den Filmen war das der Augenblick, in dem die Geigen einsetzten, die Kamera die Gesichter der Liebenden heranzoomte, die andere Person die Liebesbekundung erwiderte und sie sich dann küssten, die Lippen und die Nasen so leidenschaftlich aneinandergepresst, dass man sich fragte, ob sie so überhaupt noch Luft bekamen. Und doch war ich hier, in der gleichen Situation, und alles, woran ich denken konnte, war: Wirkt es sehr verfressen, wenn ich mir die Zimtschnecke und das Pain au Chocolat schnappe?
»Danke schön«, sagte ich schließlich. »Ich fühle mich geehrt.«
Rory lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Du fühlst dich geehrt? Das war’s?«
Ich verzog entschuldigend das Gesicht. »Tut mir leid. Ich bin nur etwas überfordert heute Morgen, und ich will das nicht so dahinsagen. Ich will es sagen, wenn es sich richtig anfühlt. Nicht wenn ich …« Ich deutete auf meinen mit Croissantkrümeln übersäten Frotteebademantel.
Er nickte, wirkte jedoch mit einem Mal so niedergeschlagen, dass ich die Schuldgefühle an meinem Herzen nagen spürte. »Aber ich liebe die hier«, sagte ich und fuhr mit dem Handrücken über die Tasche, als würde das Lieben seines Geschenks es wiedergutmachen können.
»Wirklich?«, fragte er schon etwas hoffnungsfroher.
Ich nickte, obwohl es nicht stimmte. Eine Kroko-Handtasche war so eine Sache, die Patricia gefallen würde. Mein Käse-Tomaten-Sandwich könnte ich in dieser Monstrosität definitiv nicht zur Arbeit tragen. Was, wenn die Tomatenkerne das Seidenfutter vollsuppten?
»Können wir hochgehen?«, fragte er.
»Wirklich? Jetzt? So?«, erwiderte ich lachend, erleichtert, dass das Thema Liebe und Handtaschen damit erst mal vom Tisch war.
»Unbedingt ganz genau so. Ich glaube, es ist das Rosa und die Flauschigkeit vom Frottee, die mich so scharfmachen.«
»Aber was ist mit Harry? Ich kann ihn nicht hier allein lassen.«
»Er kann nicht mitmachen, sorry.«
Letzten Endes legte ich Harry in seinen Karton zurück, auf sein neues Bett, und trug ihn nach oben. Dennoch stellte ich die Kiste im Bad ab, da ich der Meinung war, dass Harry in seinem jungen Alter nicht mitansehen musste, was wir gleich tun würden. Außerdem verfolgte mich die Erinnerung an Marmalades puscheligen Schwanz an meinen Füßen immer noch. Ich putzte mir gründlich die Zähne, da mir bewusst war, dass ich das nicht erledigt hatte, als Mia und Ruby mich gestern Nacht ins Bett verfrachtet hatten, und zog die Badtür danach fast ganz hinter mir zu.
Rory lag bereits auf meinem Bett. Ich krabbelte neben ihm hinein und legte meine Hand auf seine Schulter, woraufhin seine Hand unter mein Kinn glitt und er mit seinem Daumen über meine Lippen fuhr und sie ein Stück teilte. »Ich liebe dich«, sagte er, bevor er mich küsste.
Ich fühlte mich immer noch nicht so fit. Mein Magen wogte wie ein Schlachtschiff, und der Kaffee hatte meinen Puls verdoppelt, aber es ist schon witzig, wie so ein bisschen Sex einen selbst den übelsten Kater vergessen lassen kann.
Oder zumindest wäre es witzig gewesen, wenn ich mir – exakt in dem Moment, als ich anfing, das Kribbeln in meinen Füßen zu spüren, die Hitze, die meine Beine emporschoss –, nicht Zachs Hand zwischen meinen Schenkeln vorgestellt hätte, sondern Rorys.
»O fuck«, entfuhr es mir, als der Schwall von Hitze weiter durch meinen Körper flutete.
»Ja, das ist es, mein Schatz«, raunte Roy, »das ist es. Das hat mir gefehlt.«
»Fuck, fuck, fuck«, wiederholte ich. Es war teilweise eine Reaktion auf das heiße Gefühl von Erlösung, das ich nahen spürte, während seine Finger ihren Druck verstärkten. Aber vor allem war es der Schock darüber, im entscheidenden Augenblick Zach in meinem Kopf zu sehen.
Was hatte er da verloren?
Als ich in der Woche darauf zu meiner letzten Sitzung bei Gwendolyn ging, verfolgte mich diese Wahnvorstellung noch immer.
Unglücklicherweise schien sie mittlerweile zu glauben, dass wir so gute Freundinnen wären, dass ich eine Umarmung verdiente.
»Florence, meine Liebe, willkommen!«, begrüßte sie mich und drückte mein Gesicht so fest an ihren wogenden Busen, als wollte sie einen Abdruck davon machen.
Ich nuschelte ein »Hallo« an ihre Nippel. Sie trug einen roten Mohairpulli, den sie in einen Tüllrock gesteckt hatte, dazu lila Strumpfhosen und ihre grünen Crocs – sie sah aus wie ein zu groß geratenes Kind, das am Morgen aufgestanden war und seinen Kleiderschrank zugunsten der Verkleidungstruhe übergangen hatte.
Endlich ließ sie mich los, und wir setzten uns.
»Wie geht es uns denn? Macht die Beziehung Fortschritte?«
Ich nickte, während ich vorsichtig antwortete: »Ja, ich denke schon. Er hat gesagt, dass er mich liebt.«
Sie kickte ihre Crocs in die Luft und klatschte gleichzeitig in die Hände. »Ah, das freut mich ja so!« Dann legte sie den Kopf schräg. »Aber warum so trübsinnig, Florence, Herzchen? Sie sehen ja aus, als hätten Sie gerade einen Frosch verschluckt.«
Ich hielt inne und presste die Lippen zusammen, bevor ich schließlich antwortete. »Ich bin nicht sicher, ob ich ihn auch liebe. Wie kann ich das wissen? Wie finde ich das heraus?«
»Ah, hier kommen wir zu einer der großen Lebensfragen«, erwiderte sie und lehnte sich wieder in ihrem Sessel zurück. »Fast alle, die zu mir kommen, versuchen das herauszufinden. Ob sie jemanden lieben, wie sehr sie ihn lieben, ob sie ihn ausreichend lieben, ob sie ihn wieder lieben können, ob sie jemand anderes mehr lieben.«
»Und was sagen Sie ihnen?«
Sie lächelte. »Das kann ich nicht für sie beantworten, Schätzchen, genauso wenig, wie ich es Ihnen verraten kann. So einfach ist das nicht. Wir können Ihre Gefühle nicht in einen Messbecher kippen und schauen, bis wohin sie reichen. Nur Sie selbst können das herausfinden.«
»Was, wenn ich es nicht kann?«
»Dann könnte das Ihre Antwort sein.«
»Aber … aber …«, wand ich mich. »Er hat alles, was ich auf meiner Liste stehen hatte! Und meine Familie mag ihn!«
»Mag sein. Aber vielleicht sind die Eigenschaften, die Sie auf Ihrer Liste haben, nicht diejenigen, die wirklich wichtig sind?«, schlug sie vor. »Vielleicht ist es das, was der Prozess Sie gelehrt hat. Und natürlich zählt die Meinung Ihrer Familie, wir alle werden beeinflusst von unseren Familien. Aber letzten Endes sind es Ihre Gefühle, die wichtig sind.«
Ich seufzte. In Disney-Filmen war es nicht so kompliziert, sich zu verlieben. Dann rüstete ich mich innerlich für meine nächste Frage, öffnete den Mund, bevor ich etwas sagte, da ich unsicher war, wie ich es formulieren sollte.
»Was hat es zu bedeuten, wenn man mit jemandem schläft, aber das Gesicht von einem anderen vor sich sieht?«, platzte ich heraus. Meine Wangen nahmen die Farbe von Gwendolyns Pullover an.
Sie kräuselte die Stirn. »Sie meinen …« Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »… während des Aktes?«
Ich nickte. Es war die Woche schon wieder passiert. Ich hatte am Mittwoch bei Rory übernachtet und ihn überredet, eine uralte Bake Off-Wiederholung anzuschauen, doch mittendrin hatte er mich auf seinen Schoß gezerrt, und wir hatten Sex auf dem Sofa gehabt, während Prue Leith im Hintergrund über Vanillecremeschnitten dozierte. Und wie ich da auf ihm saß, seinen Kopf an meine Brust gelehnt, schloss ich die Augen und malte mir aus, wie es wäre, wenn Zach das tun würde statt Rory. Ich hatte meinen Kopf schütteln müssen, um die Vorstellung loszuwerden, während ich gleichzeitig versuchte, Prues Stimme auszublenden. Es war wirklich kein entspannendes Intermezzo gewesen.
»Aber das ist doch okay, oder?«, schob ich hinterher. »Das passiert doch in Beziehungen, oder? Meine Freundin Jaz sagt, dass sie manchmal Gordon Ramsay sieht, wenn sie Sex hat.«
»Wessen Gesicht haben Sie denn gesehen?«
»Es ist ein Freund, jemand von der Arbeit.« Mein gesamter Körper schrumpelte zusammen vor Scham. Es auszusprechen machte es real, auch wenn ich es nur der überdimensionierten Fee vor mir gestand. Aber was, wenn jemand anderes es mithören konnte? Was, wenn Zach mich angerufen hatte und mein Handy in der Tasche versehentlich rangegangen war, sodass er dieses Gespräch belauschte? Ich würde zum Mond auswandern müssen. Ich beugte mich runter und kramte in meinem Rucksack, um es zu überprüfen. Das Display war schwarz. Kein versehentlicher Anruf.
»Wie ist er denn so, der Freund, mit dem Sie arbeiten?«
»Wirklich nett. Aber er ist nicht mein Typ. Er ist unordentlich, lässt seine Tassen und seinen Motorradhelm überall im Laden stehen und liegen. Er zieht sich an wie ein verschollenes Mitglied von Linkin Park. Und er hat nicht mal einen richtigen Job.«
»Ich dachte, er arbeitet mit Ihnen?«
»Das ist nur vorübergehend.«
»Aber welche Rolle spielt das? Warum ist irgendwas davon wichtig?«
»Weil …« Ich hielt inne und sah aus dem Fenster. Eigentlich wusste ich es auch nicht. Ich hatte nur mal einen Artikel über die menschliche Evolution gelesen, der erklärte, dass Frauen sich zu erfolgreichen Männern hingezogen fühlten, weil die, als wir noch in Höhlen herumkrabbelten, wohl die besten Jäger waren, die uns mit zotteligen Mammuts versorgten, um unser Überleben zu sichern, während die weniger erfolgreichen Männer von wilden Raubtieren niedergestreckt wurden und uns damit dem Hungertod überließen. Aber ich wollte gar nicht mit jemandem wie Hugo zusammen sein, nur weil er einen Firmen-Mercedes und eine gute Pension hatte. »Ich weiß es nicht«, antwortete ich daher wahrheitsgemäß.
»Ich sage Ihnen, was wir tun müssen«, sagte Gwendolyn, einen Zeigefinger in die Luft gereckt.
Jetzt ging’s los.
»Und das wäre ein kleiner Zauber für mehr Klarheit.«
Hätte ich mir denken können.
»Legen Sie sich aufs Sofa und schließen Sie die Augen. Ich werde eine kurze Beschwörung anstimmen.«
»Wird mir das wirklich helfen, mich zu entscheiden?«
»Das wird es«, versprach sie.
Ich legte mich hin und lauschte dem Klang von Schubladen, die geöffnet und geschlossen wurden, sowie dem Zischen eines Streichholzes. Dann legte sie etwas Kühles auf meine Stirn.
»Was ist das?«
»Ein Amethyst. Ich habe ihn auf Ihr drittes Auge gelegt, damit Sie zu mehr Klarheit gelangen.«
»Mein drittes Auge?«
»Das ist der Ort mystischer Kräfte. Unser sechster Sinn. Und nehmen Sie das hier in Ihre linke Hand. Es ist ein Malachit, um Ihre Aura zu stimulieren und Sie gegen jedwede negative Energie abzuschirmen.«
Ich spürte, wie sie etwas Hartes, Rundes in meinen Handteller drückte, und schloss die Finger darum.
»Und dieser Rauchquarz in Ihrer anderen Hand soll Ihre Konzentration erhöhen.«
Mit einem Kristall in jeder Hand lag ich also ganz still da, damit der Amethyst nicht von meinem Kopf kullerte. Bei dem plötzlich auftauchenden Qualm musste ich allerdings beinahe loshusten. Das war ja wie auf einem Hippie-Markt. »Was ist das für ein Geruch?«
»Das ist Zimt, um den Energiepegel im Raum zu erhöhen. Zimt ist ein sehr machtvolles Werkzeug.«
»Oh. Ich streue das nur auf meinen Porridge.«
»Florence, Ruhe bitte. Ich bin nicht an Ihrem Frühstück interessiert. Ich muss die Göttin heraufbeschwören.«
Ich presste die Lippen zusammen, blieb wie festgefroren liegen und hoffte bloß, niemand möge reinkommen und mich auf Gwendolyns rosa Sofa liegen sehen, mit zwei Steinen in den Händen und einem Kiesel auf dem Kopf. Ich selbst würde ja die Polizei rufen, falls ich je in solch ein Szenario reinplatzen würde.
»Sprechen Sie mir nach. Ich rieche die innere Macht.«
»Ich rieche die innere Macht.«
»Ich sehe die innere Macht.«
Meine Nase juckte und zuckte. »Ich sehe die innere Macht«, wiederholte ich und versuchte, das Jucken zu ignorieren.
»Ich spüre die innere Macht.«
»Ich spüre die innere Macht.«
Dann rezitierte Gwendolyn ein kurzes, sehr schlechtes Gedicht, doch alles, woran ich denken konnte, war meine Nase. Ich wollte mich nicht kratzen und mir einen Tadel einhandeln, also lag ich da und verzog das Gesicht in alle Richtungen, um das Jucken zu verdrängen. Ich stellte mir vor, dass sie das Gedicht vortrug wie Eugene, die Arme in der Luft herumwedelnd, aber ich wagte es nicht, ein Auge zu öffnen, um nachzusehen.
»Sorgen, hinfort, sie braucht euch nicht an diesem Ort, Sorgen hinfort, weichet durch die Türe dort. Lasten und Leiden, Kummer und Sorgen, gehet sofort, gehet von dannen, geschwind aus ihrem Leben fort!«
Unterm Strich muss ich sagen, dass ich »Eulerich und Miezekatz« besser fand.
»Sind Sie fertig?«, fragte ich, nachdem sie verstummt war.
»Das bin ich«, antwortete sie, entfernte den Stein von meiner Stirn und bog meine Finger auseinander, um die Kristalle aus meinen Händen zu nehmen. Ich setzte mich auf und kratzte mich an der Nase.
»Ich glaube fest, dass es Ihnen dabei helfen wird, Ihren Weg klarer zu sehen«, sagte sie mit feierlichem Ernst. »Sie haben eine gute Seele, Florence. Ich weiß, dass sie am Ende die richtige Entscheidung treffen wird.«
Als sie mich in einer Abschiedsumarmung wieder an ihre Brüste quetschte, wünschte ich mir, ich wäre ebenso überzeugt davon.