»Ich sagte doch, keine Penisse!«, schrie Mia.
Es war der Samstag vor der Hochzeit, und wir saßen zu zwanzigst um einen Tisch in einem Club in Soho. Es handelte sich um einen neuen Privatclub nur für Frauen, hatte Ruby erklärt, und wir würden vor dem Cocktailempfang und dem Dinner noch etwas »Spaßiges« erleben.
Die ganze Woche war sie nicht damit herausgerückt, um was es sich dabei handelte. Kein Wunder. Es war ein Kurs mit dem klingenden Namen »Milky Moments«, obwohl er absolut nichts mit Milch zu tun hatte. Stattdessen stand ein Kerl namens Lewis vor uns und erklärte uns, dass wir gleich in den Genuss einer »ungezwungenen« neunzigminütigen Unterrichtsstunde in Sachen Vorspiel kommen würden. Lewis war ein Sänger aus Guildford, der diese Kurse anbot, um sich etwas dazuzuverdienen, vertraute er Ruby und mir an. Sobald alle eingetroffen waren, hatte er uns knallrosa Federboas, peinliche Schürzen mit nackten männlichen und weiblichen Oberkörpern vorne drauf und Dildos ausgeteilt. Das war es auch, was Mia so auf die Palme gebracht hatte: Jede von uns hatte einen labbrigen Gummidildo vor sich auf dem Tisch stehen.
»Beruhige dich, und trink deinen Prosecco«, riet Ruby ihrer Schwester.
»Ich bin nicht sicher, ob ich schon mal einen so großen gesehen habe«, sinnierte Patricia, die ihr Glas bereits geleert hatte und ihren Dildo wie ein Laserschwert in die Luft streckte.
»Das sagen sie alle, Madam«, erwiderte Lewis mit einem Zwinkern. Er hatte ebenfalls eine Federboa um den Hals geschlungen, die sich mit seinem lila Seidenhemd biss.
»Bitte, weniger von dem ›Madam‹ und dafür mehr von dem Blubberwasser«, erwiderte Patricia, stellte den Dildo ab und wedelte mit ihrem Glas.
Lewis drehte eine Runde um den Tisch, um die Gläser aufzufüllen, dann ging es los.
Zuerst kam eine Aufwärmübung. »Wackeln Sie mit Ihren Fingern, Ladys! Wir haben einiges vor mit ihnen. Sehr gut, Mutter der Braut, so ist’s richtig. Und dann kreisen wir unsere Arme, passen Sie auf Ihre Nachbarin auf. So ist’s gut.« Lewis’ Becken schob sich vor und zurück, während er es uns vormachte. Seine Arme schnitten dabei kraftvoll durch die Luft wie die eines Schwimmtrainers.
Um den Tisch waren Mias Freundinnen versammelt. Wir hatten uns zu Anfang alle höflich mit Wangenküsschen und Hallos begrüßt, aber mittlerweile hatte ich fast alle Namen schon wieder vergessen. Manche von ihnen waren Kolleginnen aus der Modebranche. Sie waren auch die Finstersten in der Runde: In Samtkleider oder Seiden-Jumpsuits gehüllt und mit elegant geföhntem Haar hatten auch sie ihre Dildos mit grimmigem Grauen gemustert.
Dann waren da noch die Schulfreundinnen von früher. Weniger ernst, mehr aufgedreht. Sie waren zum Großteil schon verheiratet und hatten Kinder, die sie den Tag über bei ihren Yuppie-Vätern mit Namen wie Biffer und JP gelassen hatten.
Hugos Schwestern, Holly und Henrietta, saßen nebeneinander. Ich sah sie an und versuchte, mich zu erinnern, was sie beruflich taten. Die eine trainierte auf jeden Fall Springpferde in Berkshire, die andere war Lehrerin an einer Londoner Privatschule. Henrietta sah selbst ein bisschen wie ein Pferd aus – lange Nase, hohe Stirn –, also war sie vielleicht die Springreiterin von beiden.
Dazu kamen noch Mia, Ruby, Patricia und ich. Mia trug eine Plastik-Tiara und eine Schärpe, auf der Zukünftige Braut stand, obwohl sie protestiert hatte, dass die Accessoires überhaupt nicht zu ihrem Kleid von Erdem passten und ihren gesamten Look ruinierten.
Nach dem Aufwärmen hopste Lewis erneut um den Tisch herum, verteilte Papierbögen und gab die Anweisung, uns in Zweiergruppen zusammenzutun.
Henrietta stieß ein wieherndes Lachen aus – ja, sie war definitiv die Sorte Frau, die wieherte – und hielt den Stift vor sich hoch. »Schaut, sogar die haben Pimmel drauf!«
Sie hatte recht. Am Ende meines Stiftes steckte ein ganz kleiner Plastikpimmel. Ich schaute zu Mia. Ihr gesamtes Gesicht verzog sich vor Abscheu.
Lewis’ Aufgabenblätter waren mit einer detaillierten Illustration eines Penis versehen.
»Meine Damen, Sie müssen alle Teile richtig benennen«, verkündete er. »Und diejenigen mit den meisten Punkten bekommen einen Preis.«
»Komm schon, mein Schatz«, sagte Patricia.
Da ich neben ihr saß, war sie meine Partnerin. Es war wie in der Schule, wo man sich mit dem am wenigsten beliebten Klassenkameraden zusammentat, um ein kleines Stück Magnesiumband anzuzünden.
»Das ist ganz klar der Schaft«, verkündete meine Stiefmutter. »Und das da sind die Hoden, obwohl sie mir recht klein erscheinen. Dein Vater hat vi...«
»PATRICIA, ich muss dich direkt unterbrechen!«
»Und schau, das ist die Harnröhre«, fuhr sie ungerührt fort. »Hopp, hopp, Schätzchen, schreib es hin. Wie geht es übrigens Rory?«
»Gut«, sagte ich, den Kopf über das Papier gebeugt. »Ist in Prag mit Hugo.« Sie waren am Vorabend zum Junggesellenabschied aufgebrochen, und Rory hatte mir ein Selfie aus dem Flugzeug geschickt, auf dem sie Heineken-Dosen hochhielten. Hugo war als Frau verkleidet gewesen, samt blonder Perücke und knallrotem Kleid, aus dessen Ausschnitt sein Brusthaar lugte.
»Wie schön, dass sie befreundet sind«, sagte Patricia und tätschelte mein Knie. »Und ich bin froh, dass er zur Hochzeit kommt. Genauso wie dein Vater.«
Ich überhörte das geflissentlich und schrieb in winzigen Buchstaben Vorhaut auf unser Blatt. Um uns herum ertönten quietschende Schreie. »Das sieht aus wie eine Nacktschnecke!« oder »Nein, das ist nicht die Prostata, das hier ist sie!«
Mia hatte sich mit einer Arbeitskollegin zusammengetan. Glücklicherweise lachte sie nach drei Prosecco intus nun ebenfalls.
»Wie läuft es so?«, rief Lewis. »Sind wir alle fertig?«
»Wir schon«, trällerte Patricia, schnappte sich das Blatt und wedelte damit über ihrem Kopf.
Wir tauschten die Blätter untereinander, um sie zu bewerten wie Buchstabiertests in der Schule.
»Was bedeutet, dass Holly und Henriette sich den ersten Platz mit Patricia und Florence teilen!«, verkündete Lewis ein paar Minuten später, bevor er uns jeweils unseren Preis überreichte: einen Lutscher in Penisform.
»Den werde ich mir schmecken lassen«, sagte Patricia und ließ ihn in der Handtasche verschwinden.
»Mum!«, schalt Mia.
Dann folgte der letzte Teil des Kurses: eine Lektion in Sachen Vorspiel unter Einsatz des Gummidildos. Lewis verteilte Fläschchen mit Gleitmittel, warf eine Packung Feuchttücher in die Tischmitte und scharwenzelte um uns herum, um hilfreiche Tipps zu geben.
»Nein, Jessica, viel fester«, wies er eine von den Modepüppchen an, während diese mit ihren manikürten Fingern am Dildo auf und ab fuhr. »So ist’s richtig, Mia, perfekt! Dein Göttergatte ist ein glücklicher Mann. Gut gemacht, Patricia, das ist eine exzellente Technik. Aber, Florence, ach du liebe Güte! Was ist denn hier los?«
Meine Hand erstarrte, ich schaute auf. »Was denn?«
»Sie müssen ihn packen, nicht kitzeln! Schließen Sie die Finger schön drum herum.«
Ich betrachtete skeptisch meinen Dildo und griff ihn fester. Es war wie damals, mit sieben im Sportunterricht, als ich als Einzige kein Rad schlagen konnte. Nur dass es schlimmer war, weil eine miese Runterholtechnik viel beschämender war, als kein Rad schlagen zu können.
»So ist’s recht«, meinte Lewis beifällig. »Der Penis ist viel härter im Nehmen, als Sie denken, meine Damen. Sie werden ihn schon nicht abbrechen.«
»Ich wünschte, ich könnte deinen abbrechen«, murmelte ich.
»Wie meinst du, Schätzchen?«, fragte Patricia.
Nach dem Unterricht rauschte Lewis mit seiner Schachtel Utensilien von dannen, und wir zogen ein Stockwerk höher in eine Bar. Dort gab es noch mehr Prosecco-Flaschen, und es wurden Tabletts mit Häppchen gereicht.
»Wenn sich dann alle für das Höschenspiel bereit machen würden!«, verkündete Ruby.
Alle, die nicht wissen, was das Höschenspiel ist, dürfen sich gesegnet schätzen. Ich war davor nur auf zwei Junggesellinnenabschieden gewesen: einer für eine Freundin aus Edinburgh, einer für eine Schulkameradin. Aber wir hatten das Höschenspiel auf beiden gespielt, da es mittlerweile Tradition geworden war. Es wird in einer der zweihundertdreiundsiebzig Mails erwähnt, die man vor der Veranstaltung erhält, und der Witz besteht darin, dass jede Freundin ein Höschen kaufen muss, das die Braut dann in ihre Flitterwochen mitnimmt. Auf der Party selbst werden sie alle in eine Tüte gepackt, und die Braut muss eines nach dem anderen herausziehen und erraten, von wem es ist. Bei manchen wird es sich um geschmacklose Tangas handeln. Einige werden Mrs. So-und-so auf den Hintern gestickt haben. Andere werden aus Spitze sein oder mit Leopardenprint drauf oder riesige Schlüpfer mit Gummisaum, die auch als Zelt durchgehen könnten. Ruby hatte das zwar vor einigen Wochen in einer Mail erwähnt, aber ich hatte es vergessen, bis sie mich an diesem Morgen daran erinnert hatte. Ich war nach oben in mein Zimmer geflitzt und hatte meine Schubladen durchwühlt, um den einen Spitzentanga rauszuziehen, den Mia mir vor Jahren geschenkt hatte. Zu meiner Verteidigung: Er war praktisch nicht getragen und sah tadellos aus.
Wir machten es uns auf den Barhockern bequem und sahen zu, wie Mia den ersten Slip herauszog.
Er war aus schwarzer Spitze mit einem roten Schleifchen hinten dran. Sie schaute angestrengt in die Runde. »Amy! Das musst du gewesen sein! Er ist wunderhübsch!«
Er sah aus wie eines dieser Dinger, die einem im Nu in die Poritze rutschten, aber Amy – eine von den Modebewussten – nickte lächelnd. »Viel Spaß damit, Süße.«
Dann folgten: ein Höschen mit einer gestickten Just Married-Aufschrift; ein G-String aus Bonbons; ein Tanga mit dem Aufdruck Das leckt sich nicht von allein! vorne drauf (von Ruby) und ein korallenrotes Rüschenmodell mit dem Wort Frauchen. Mia quietschte bei dem Anblick, und ich fragte mich, welches Wort wohl schlimmer war: Frauchen oder Göttergatte?
Mein Exemplar wurde als Letztes herausgezogen. »Der muss von Flo kommen!«, sagte Mia, und ich wappnete mich schon für einen Rüffel. »Woher wusstest du, dass ich die Marke liebe?«, fragte sie und hielt den Tanga hoch. »Du bist echt clever. Danke schön.«
Puh, gerade noch mal gut gegangen.
Nach diesem Spiel verabschiedete Patricia sich, und wir anderen kehrten zum Abendessen an den Tisch unten zurück. Zwischen den Fenstern hatte Ruby eine selbst gebastelte Girlande aufgehängt, die aus Fotos von Mia und Hugo bestand. Sie hatte auch eine Sitzordnung gemacht, wonach ich am anderen Tischende saß, neben Cressida, einer von Mias Kolleginnen.
Platten mit Lachs wurden aufgetischt, doch die meisten waren zu betrunken, um etwas zu essen. Die Modebewussten gingen immer wieder zum Fenster, um sich hinauszulehnen, eine zu rauchen und dabei über die Sohoer Straße zu blicken, auf der die Touristen und Partygänger von Pub zu Pub zogen.
»Bist du die Schwester, die mit Rory Dundee zusammen ist?«, fragte Cressida.
»Ja, warum?«
Sie kicherte. Ein Schwall Zigarettengeruch wehte mir aus ihrem Mund entgegen. »Wie witzig. Mein Mann kennt ihn.«
»Oh, ach so. Was arbeitet er denn?«
»Er ist in der Politik.«
»Mit Rory?«
»Im Außenministerium.« Sie kicherte erneut. »Ich glaube, sie lassen es ganz schön krachen auf ihren Geschäftsreisen.«
»Krachen?«
Sie kicherte erneut. »Ja, ziemlich ausschweifend. So wie auf diesem Trip nach Nigeria neulich. Wilf meinte, sie hatten Glück, dass sie nicht verhaftet wurden, aber Rory ist so charmant – er hat den Polizisten wieder beruhigt. Und dann dieses eine Mal in Brüssel, als Rory in eine Prügelei mit dem Ehemann von einer geraten ist. So witzig! Ungezogene Jungs, eben.«
Als ich nichts erwiderte, verebbte ihr Kichern.
»Ausschweifend? Inwiefern ausschweifend?«, fragte ich.
»Nein, entschuldige, ich wollte damit nicht … Ich glaube, dass er sich heute besser benimmt. Ich meine nicht, besser benimmt, sondern … Oje, das kommt jetzt alles ganz falsch rüber.«
Ich lächelte, da ich nicht wollte, dass sie merkte, dass mein Herz unter meinem Kleid doppelt so schnell schlug wie sonst. Was wusste sie, was ich nicht wusste?
Cressida winkte ab. Sie hatte dunkelblaue Fingernägel, die farblich auf ihren Jumpsuit abgestimmt waren. »Nur so Kram im Suff. Vergiss, was ich gesagt habe. Wilf meint, dass er eines Tages Premierminister wird«, schob sie mit einem mitfühlenderen Lächeln hinterher.
»Ja, das hat er zumindest vor«, erwiderte ich. Meine Wangen schmerzten allmählich schon vom falschen Lächeln.
»Ich genehmige mir noch eine Kippe«, sagte Cressida, die offensichtlich so schnell wie möglich der Situation entfliehen wollte, in die sie uns gebracht hatte. Sie stand auf und eilte mit ihrer Clutch zum Fenster.
Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück, als auch schon ein Espresso Martini vor mir abgestellt wurde.
»Ich habe eine Runde bestellt«, brüllte Ruby von der anderen Seite des Tisches.
Das war der Moment, in dem Mia sich schwankend erhob und die Aufmerksamkeit des Raumes für sich beanspruchte – ting, ting, ting –, indem sie mit ihrem walnussgroßen Verlobungsring gegen ihr leeres Weinglas klimperte.
»Ichwillnursag’n«, begann sie, »dassicheuchalleliebe. Un’ichbinjasofroh, dassihralledaseid.«
»SETZ’ICHWIEDERHIN!«, schrie Ruby lachend.
Mia hickste und ließ sich auf den Stuhl zurückplumpsen. Der Plan war, im Anschluss in einen Gay-Club ums Eck zu gehen, wo Go-go-Tänzer auf Podesten tanzten, aber Cressidas Enthüllung ließ mich nicht mehr los. Außerdem stand ich nicht so auf Go-go-Tänzer, und ich machte mir Sorgen um Harry, weil er schon so lang allein zu Hause war.
»Ich geh nur kurz aufs Klo«, formte ich stumm in Rubys Richtung, bevor ich mich mit meiner Tasche zur Tür aufmachte, um den Bus nach Hause zu nehmen. Sie würden es gar nicht bemerken. Mich klammheimlich davonstehlen war eine Fähigkeit, die ich beim Ausgehen während des Studiums perfektioniert hatte. Damals hatte ich Partys prinzipiell immer dann verlassen, wenn sie in vollem Gange waren, damit ich es mir mit einem Buch im Bett gemütlich machen konnte. Mir war dabei durchaus klar, dass das meinem Liebesleben nicht zuträglich war, da sich die Pärchenbildung meist erst gegen Ende der Nacht ereignete. Aber ich begab mich eben lieber mit Mr. Rochester oder Captain Wentworth ins Bett als mit einem sabbernden Studenten, der zehn Bier intus hatte und auf dem Weg nach Hause noch schnell Pommes mit Currysoße holen wollte.
Ich betrat unser Haus, goss mir in der Küche ein großes Glas Wasser ein und ging nach oben. Als ich die Zimmertür öffnete, entdeckte ich Harry eingerollt unter einem Zipfel meines Kopfkissens. Eigentlich hätte ich sauer sein müssen. Ich versuchte, ihn dazu zu bringen, in seinem Körbchen auf dem Boden zu schlafen, aber er weigerte sich strikt und hatte es mittlerweile sogar gelernt, am Saum meiner Bettdecke hochzuspringen und sich mit den Krallen emporzuhangeln wie ein winzig kleiner Bergsteiger.
Ich zog mein Handy aus der Tasche. Seit dem Flugzeug-Selfie hatte ich nichts mehr von Rory gehört, aber Mia hatte mich schon ermahnt, dass sie auf einem Junggesellenabschied waren und dass es »solange sie nicht verhaftet wurden« besser war, nicht zu wissen, was sie trieben.
Ich machte ein paar Fotos von Harry und schaute nach der Uhrzeit. Es war 23.43 Uhr. Zu spät, um zu schreiben?
Ich öffnete WhatsApp, scrollte zu Zachs Namen und schickte ihm ein Foto von Harry. Das Baby schläft xxx, schrieb ich, in der Hoffnung, dass es keine dieser Nachrichten war, die ich am nächsten Morgen bereuen würde.
Aus einem mir unerfindlichen Grund hatte Mia entschieden, der Sonntag nach ihrem Junggesellinnenabschied wäre der perfekte Tag für die letzte Anprobe unserer Brautjungfernkleider. Ich fühlte mich zwar nicht besonders, aber mein Kater war nichts, verglichen mit dem von Mia und Ruby. Am folgenden Vormittag zwischen den beiden im Uber zu hocken (Mia hatte ernsthaft angefangen zu weinen, als ich vorschlug, die U-Bahn zu nehmen), war wie ein Ausflug mit zwei Kadavern.
»Das ist alles deine Schuld«, ächzte Ruby, wie ein nasser Sack gegen die Wagentür gesunken.
»Ich war nicht diejenige, die neunhundert Martinis bestellt hat«, entgegnete Mia, die an der anderen Tür lehnte.
»Ich brauche einen Kaffee, bevor wir irgendwas tun«, sagte Ruby.
Mia würgte.
Sie stiegen langsam und stöhnend aus dem Auto, als hätten sie gerade einen Marathon absolviert.
»Guten Morgen, meine Schätzchen!«, trällerte Patricia. Sie stand voll ausstaffiert mit Baskenmütze und Sonnenbrille vor dem Ladeneingang.
Mia hielt eine Hand hoch. »Pat, bitte nicht so laut.«
»Nicht dieser Name, du weißt, dass ich ihn nicht ausstehen kann. Aber, ach du liebe Güte, sind wir etwa ein bisschen lädiert?«
»Ja«, sagte Ruby. »Du etwa nicht?«
»Nein. Mir geht’s blendend. Florence, was ist mit dir? Du siehst mitgenommen aus.«
Ich räusperte mich. »Mir geht’s gut. Könnte aber einen Kaffee gebrauchen.«
»Wir können drinnen welchen bestellen«, sagte Mia, die schon die Tür aufschob.
Wir folgten ihr hinein, und bei dem Geruch der teuren Duftkerzen hätte ich am liebsten auch gewürgt. Außerdem war es furchtbar warm. Warum heizten sie hier drin so stark? Es war, als würde man einen Backofen betreten.
Hilda, die Dame, die bei Mias Brautkleidanprobe behilflich gewesen war, führte uns in einen Ankleideraum, und wir drei ließen uns umgehend aufs Sofa sinken, als könnten uns unsere Beine keine Sekunde länger tragen. Allein das Anziehen heute Morgen war eine überirdische Kraftanstrengung gewesen. Die Vorstellung, mich aus meinen Klamotten zu schälen und mir ein pfirsichfarbenes Seidenkleid über den Kopf zu ziehen, war zutiefst unerquicklich.
»Darf ich den Damen etwas zu trinken bringen?«
»Könnte ich einen Kaffee bekommen? Schwarz?«, fragte Ruby. »Und ein großes Glas Mineralwasser? Und einen O-Saft?«
»Einen Cappuccino für mich«, bat Patricia.
»Ich hätte gerne einen Kaffee mit einem Schuss Milch«, sagte Mia. »Und haben Sie vielleicht San Pellegrino da?«
Falls Hilda von den zahlreichen Getränkebestellungen meiner Familie genervt war, so ließ sie sich nichts anmerken. Sie nickte und schaute zu mir.
»Einen Milchkaffee, bitte«, sagte ich.
»Wie war denn der Rest des Abends?«, erkundigte sich Patricia.
»Tja, am Ende hat Mia links und rechts einen Penis ins Gesicht geklatscht bekommen«, sagte Ruby.
»Wie bitte?«, sagte ich.
»WIE BITTE?«, kreischte Patricia.
»Leise, bitte«, sagte Mia, die sich mit geschlossenen Augen wieder aufs Sofa lehnte. »Und sie übertreibt. Wir sind in einen Club gegangen, und ich habe ganz kurz an einer Stange getanzt.«
»Mit einem Mann, der eine Socke in Elefantenform auf seinem Pimmel hatte«, fügte Ruby hinzu, gerade als Hilda mit den Kleidern über dem Arm in den Raum zurückkehrte. Ihre bleistiftdünnen Augenbrauen schossen schockiert in die Höhe.
»Entschuldigen Sie bitte meine Töchter, Hilda«, sagte Patricia. »Aber die Kleider sehen wundervoll aus. Sind sie nicht ganz wundervoll?«
»Dieses hier ist Rubys«, sagte Hilda mit einem Blick auf ein am Kleiderbügel befestigtes Etikett. »Und dieses hier ist für Florence.« Es war das gleiche Modell – zartrosa Seide, lang, mit Spaghettiträgern und einem tiefen V-Ausschnitt. Aber Rubys Kleid war etwas kürzer und enthüllte deutlich mehr Busen. Sie würde in ihrem Kleid einer märchenhaften Nymphe gleichen, während ich an eine Dragqueen erinnern würde.
Hilda sah uns erwartungsvoll an. Niemand auf dem Sofa rührte sich.
»Kommt schon, Mädchen«, drängte Patricia.
»Ich kann nicht aufstehen, solange ich nicht meinen Kaffee hatte«, beharrte Ruby.
Da mir meine Familie peinlich war und ich Hilda nicht verärgern wollte, stand ich auf, zog die Vorhänge der Umkleidekabine hinter mir zu und begann, mich auszuziehen.
»Irgendwelche Neuigkeiten von den Jungs in Prag?«, fragte Patricia laut, während ich mich aus meiner Jeans schälte.
»Nein«, sagte Mia. »Florence? Hast du was gehört?«
»Nö!«, rief ich, während ich mich finster im Spiegel betrachtete. Nackt bis auf Schlüpfer, BH und Socken. Kein schöner Anblick. Die einzigen Nachrichten auf meinem Handy heute früh waren von Zach gewesen, gleich eine ganze Reihe davon, die um ein Uhr morgens als Antwort auf mein Foto von Harry verschickt worden waren.
Hallo, wie kommt’s, dass du so lange wach bist?
Oh, Mias Junggesellinnenabschied. Jetzt fällt es mir wieder ein. Hoffe, es war … lustig?
Hey, übrigens, da ist morgen eine neue Quentin-Blake-Ausstellung in Dulwich, die ich sehen wollte, falls du auch Lust hast?
Als Recherche für Zelda, die Raupe?
Aber kein Problem, wenn nicht.
Ich hatte sie gelesen, während ich im Bett lag, hatte das Display so lange angestarrt, bis es immer wieder schwarz wurde, aber ich war mir unschlüssig gewesen, was ich antworten sollte. Die Vorstellung, mit Zach am Wochenende in eine Ausstellung zu gehen, war mir unangenehm. Rory war mein fester Freund. Rory war derjenige, der mich liebte. Außerdem konnte ich sowieso nicht auf eine Ausstellung, weil ich dieses wenig schmeichelhafte Kleid anprobieren musste. Letzten Endes schickte ich eine kurze Nachricht zurück, in der ich die Anprobe als Entschuldigung vorschob und ihm sagte, dass wir uns am Montag im Laden sehen würden.
Ich zog den Reißverschluss der Plastikhülle auf, hob das Kleid über meinen Kopf und ließ den Seidenstoff über mich gleiten.
»Wie läuft es da drin?«, wollte Patricia wissen.
Ich drehte mich um und betrachtete mich erneut im Spiegel. Das Licht brach sich an meinen voluminösesten Partien: an meinen Hüften und an meinem Bauch. Und mein Hintern sah so gewaltig aus – ich hätte genauso gut einen Aufkleber draufklatschen können, Schwertransport mit Überbreite, und mit einem Piepsgeräusch rückwärts aus der Kabine zurücksetzen.
Hilda riss den Vorhang zurück; ich wandte mich langsam um und registrierte die stirnrunzelnden Blicke.
»Vielleicht mit einem besseren BH?«, schlug Hilda vorsichtig vor.
»Dreh dich mal«, wies mich Patricia mit einem Kreisen ihres Zeigefingers an.
Ich drehte mich einmal um meine Achse.
»Hm«, bemerkte Patricia, »definitiv mit einem besseren BH.«
»Und keine Unterhose«, befand Mia.
»Was?«, kreischte ich. »Ich kann nicht ohne Unterhose gehen.«
»Warum denn nicht?«
»Weil es deine Hochzeit ist. So kann ich doch nicht durchs Claridge’s spazieren. Was, wenn was durchsickert?«
»O Florence, wirklich«, sagte Patricia naserümpfend.
»Also mir macht es nichts aus«, sagte Ruby.
»Aber mir!«
»Florence, jetzt hör aber auf«, schalt mich meine Stiefmutter, woraufhin Hilda rasch vortrat und mein Kleid zurechtzupfte, während die anderen über ihre Kaffeetassen hinweg zusahen. Sie steckte es am Rücken und seitlich an meinem Körper fest, damit es um meine Brust herum nicht so aufklaffte, aber die Seide saß immer noch nicht richtig, da sie sich so wiederum fester über meinem Bauch spannte. Oh, was für ein Jammer aber auch. Am großen Tag sollte ich ein Sträußchen Rosen vor mir hertragen, also könnte ich ja immer noch versuchen, meinen Bauch dahinter zu verstecken.
Hugo und Rory sollten am Abend aus Prag zurück sein und direkt zu uns nach Kennington kommen. Mia hatte gemeint, das wäre lustig – wir könnten uns was bestellen und, vereint in unserem Katerelend, zusammen auf dem Sofa essen. Aber letzten Endes trudelte Hugo allein zu Hause ein.
»Wurdest du gerade aus dem Gefängnis entlassen?«, empfing ihn Ruby lachend vom Sofa aus. Sie und ich schauten uns Große Träume, große Häuser an, während Mia sich oben die Augenbrauen zupfte.
»Nein«, erwiderte er heiser, im Türrahmen lehnend. »Warum?«
»Du hast noch nie so schlimm ausgesehen. Was haben sie dir bloß angetan?«
Hugo verzog das Gesicht, als litte er körperliche Schmerzen. »Alles Mögliche. Wo ist mein Eheweib?«
Ich schauderte. Er hatte erst vor Kurzem angefangen, sie so zu nennen, aber es brachte mich jedes Mal wieder aus der Fassung.
»In ihrem Zimmer«, sagte Ruby.
Hugo trottete die Treppe hoch, und meine Schwester sah zu mir. »Ich dachte, Rory kommt auch?«
»Wollte er, aber er muss arbeiten«, sagte ich mit Blick auf die Nachricht auf meinem Handy. Mein Schatz, ich fahre direkt zu mir, da ich mich bis morgen für dieses Europa-Gipfeltreffen vorbereiten muss. Außerdem kann ich dich unmöglich in diesem Zustand treffen. Ich muss Prag von mir abwaschen. Sprechen wir uns morgen? R
»Laaaang-weilig«, bemerkte Ruby. »Hey, wo du schon dein Handy draußen hast, willst du mal schauen, was wir uns bei Deliveroo bestellen?«
Sie holte zu einem zehnminütigen Monolog aus, ob ihr mehr nach Pizza oder Chinesisch zumute wäre, während ich versuchte dahinterzukommen, warum Rorys Nachricht so ein schales, niedergeschlagenes Gefühl bei mir hinterließ. Weil ich ihn heute nicht sehen würde? Weil es Sonntagabend war? Weil ich immer noch daran zu knabbern hatte, was Cressida angedeutet hatte? Oder weil ich in Wahrheit mit jemandem zusammen sein wollte, der rüberkommen, mich in seinen Armen herumschwingen und sich nach meinem Wochenende erkundigen würde, selbst wenn er am nächsten Tag was für die verdammte UN präsentieren müsste?
Letzten Endes bestellten wir Pizza, und natürlich bezahlte ich.
»GUTE NEUIGKEITEN!«, brüllte Zach am nächsten Morgen, während er die Treppe hochrannte und dabei wild mit den Armen durch die Luft wedelte wie ein evangelikaler Priester.
Ich kniff die Augen zusammen. »Du hast den Kühlschrank ausgewischt?«
Zach schüttelte den Kopf.
»Jemand hat dir gemailt, dass du der einzige Begünstigte eines Dreiundfünfzig-Millionen-Pfund-Erbes bist, da alle anderen unter mysteriösen Umständen verstorben sind?«
Noch ein Kopfschütteln.
»Sie haben einen neuen und völlig schmerzfreien Weg gefunden, Tätowierungen zu entfernen?«
»Sehr amüsant. Aber nein. Die Agentin ist an deiner Raupengeschichte interessiert.«
»WAS? Du verarschst mich doch. Zach, mach bitte keine Witze darüber.«
»Ich mache keine Witze. Ich habe gerade eben eine Mail von ihr bekommen. Die Story gefällt ihr, und sie hat mich gebeten, den Kontakt zwischen euch herzustellen.«
Ich legte mir die Hände an die Stirn. »Das ist irre. Ich hätte nie gedacht … Ich habe nicht geglaubt … Ich …«
Zach hüpfte grinsend von einem Fuß auf den anderen. »Also? Darf ich ihr deine Kontaktdaten schicken?«
»Klar«, erwiderte ich lachend. »Ich meine, ja, bitte, vielen Dank.«
Er reckte die Hand für ein High five über den Tresen, und unsere Handflächen klatschten zusammen, als gerade Norris mit einer roten pelzbesetzten Jacke, die er mit spitzen Fingern vor sich weghielt, im Laden auftauchte.
»Zachary, was ist das, und warum war das an mich adressiert?«
Zachs Miene wurde ernster. »Ach ja. Das ist dein Outfit für Donnerstagabend. Oder zumindest ein Teil davon.«
»Und was, bitte schön, soll ich damit tun?«
»Es tragen, Onkel Norris. Wo ist denn der Rest? Da müsste noch eine Hose sein. Und ein Gürtel. Und eine Mütze.«
Eugenes Kichern drang aus der Geschichtsabteilung.
»Lustig, ja?«, sagte Norris, drehte sich herum und funkelte ihn erbost an.
»Achte nicht auf Eugene«, sagte Zach, »er bekommt sein eigenes Kostüm.«
»Entschuldigung?«, meldete sich Eugene und eilte zu uns herüber. »Davon wusste ich ja gar nichts.«
Zach lehnte sich mit dem Rücken gegen die Regale. »Es sollte eine Überraschung werden, aber da ihr hier in diesem Laden alle so verklemmt und spaßbefreit seid, werde ich es euch erzählen. Ich habe uns allen Kostüme für Donnerstag besorgt.«
»Was bin ich?«, fragte Eugene argwöhnisch.
»Du bist ein Weihnachtswichtel.«
Ich prustete leise hinter der Kasse.
Zach hob betont eine Augenbraue. »Florence, ich würde mich an deiner Stelle nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, denn du bist eine Lebkuchenfrau.«
»Ha!«, höhnte Eugene.
»Und Norris ist der Weihnachtsmann.«
Norris brummte.
»Was ist mit dir?«, fragte ich. »Du kannst nicht der Einzige sein, der ungeschoren davonkommt.«
»Nein, da hast du recht«, sagte Zach. »Ich werde die Feier als Schneemann besuchen.«
»Wie viele Kinder kommen denn?«
»Im Moment so um die fünfzig. Also dachte ich mir, dass du, Onkel Norris, hier oben auf einem Stuhl Platz nehmen und die Geschenke aus deinem Sack verteilen könntest? Dann ein paar Weihnachtslieder samt Glühwein und Plätzchen. Wenn ihr beide nichts dagegen hättet, die zu verteilen? Sie werden Donnerstagabend geliefert.«
»Was für ein Sack?«, wollte Norris wissen.
»Ich habe dir einen gekauft. Und Geschenke. Keine Sorge.«
»Und wie viel kostet mich der Spaß?«
»Ist ganz billig. Alles Made in China.«
»Zachary …«, knurrte Norris erneut.
Er hielt die Hände in die Luft. »War nur ein Witz. War nur ein Witz. Mehr oder weniger. Aber kommt schon, wo bleibt euer Gemeinschaftsgefühl? Das ist es doch, was wir brauchen. Und Florence, ich maile gleich dieser Agentin zurück und setze dich ins CC.«
Er hüpfte wieder nach unten, während ich mich fragte, ob mein Lebkuchenfrauenkostüm womöglich schmeichelhafter sein könnte als mein Brautjungfernkleid.
Nach der Arbeit spazierte ich zu Rory und schlängelte mich dabei gut gelaunt durch die Shoppingmeute, unbeeindruckt von ihrem lethargischen Trott. Zach hatte der Agentin gemailt. Jacinta, so hieß sie, hatte mir direkt geschrieben und mir vorgeschlagen, uns die Woche drauf auf einen Kaffee zu treffen. Allein ihren Namen und ihre E-Mail-Signatur in meinem Posteingang zu sehen – Jacinta Ewing, Millward & Middleton Literary Agents Ltd – versetzte mich in Euphorie.
»Schatz, wie fantastisch!«, sagte Rory, als ich ihm die Neuigkeit mitgeteilt hatte. »Obwohl …«
»Was?«
»Es ist nur ein Treffen.«
»Ich weiß. Aber ein Treffen ist mehr, als ich je erwartet hätte.«
»Natürlich. Ich will nur nicht, dass du dir zu große Hoffnungen machst.«
Ich fühlte mich niedergeschmettert, aber diese Sache sollte uns nicht den Abend ruinieren. Heute wollte ich nicht mal den Hauch eines Zweifels wegen dieser Beziehung zulassen. Dieser Abend sollte so werden wie früher.
»Wie war Prag?«, fragte ich, meinen Kopf an seine Schulter gelehnt. Wir saßen auf dem Sofa, während Rory E-Mails auf seinem Laptop schrieb.
Er murmelte tippend etwas Unverständliches.
»Rory, wie war es? Der Junggesellenabschied?«
»Entschuldige, Schatz, da ist so viel nachzuholen. Aber es war gut. Nicht viel zu berichten. Bier, Stripperinnen, das Übliche eben.«
»Stripperinnen?«
»Reingelegt! Nein, keine Stripperinnen. Nur Bier und Tequila und ein grottenschlechter Club, an den ich mich kaum erinnern kann. Aber es war spaßig. Er ist nicht so übel, weißt du, dein zukünftiger Schwager.« Er drehte sich um und drückte mir einen Kuss auf die Wange, bevor er sich wieder seinem Bildschirm zuwandte. »Kannst du mir fünf, maximal zehn Minuten geben, um die hier durchzugehen, dann gehöre ich ganz dir.«
Sobald er fertig war, hatten wir Sex auf seinem Sofa. Wortlos stellte er seinen Laptop auf dem Boden ab und legte seine Hand unter mein Kinn, um mein Gesicht anzuheben. Ich hatte solchen Hunger, dass ich beinahe protestiert und darauf bestanden hätte, dass wir zuerst essen und reden sollten, aber dann spürte ich, wie mein Körper auf ihn reagierte. Es war eine andere Art von Hunger. Frauen wird ja oft vorgeworfen, Sex als Waffe zu benutzen, eine heimtückische weibliche List, doch Rory hatte das auch drauf. Er war wie ein sexy Zauberer, überlegte ich und musste dabei beinahe in seinen Mund lachen. Doch dann glitt seine Hand unter mein T-Shirt, und ich keuchte stattdessen auf. Ich zwang mich dabei bloß, die ganze Zeit die Augen offen zu lassen, damit Zach sich nicht wieder in meinen Kopf stahl. Aber das war doch in Ordnung, nicht wahr? Das war doch normal?
Mein Lebkuchenfrauenkostüm war grotesk. Ich sah eher aus wie das Kackhaufen-Emoji. Der braune Filzstoff hing wie ein Sack an mir herunter, und auf meinem Kopf thronte eine braune Mütze mit roter Filz-Zuckergussverzierung.
Ich trat einen Schritt beiseite, als die Klotür aufging und Eugene in einem rot-grünen Anzug mit grünen Stiefelchen, die sich an den Zehen nach oben bogen, heraustrat.
»Paaahahaha, du siehst echt albern aus!«, rief ich und streckte mich, um an dem Glöckchen an seiner Zipfelmütze zu klingeln.
»Hör auf.« Er schlug meine Hand weg. »Und was bitte soll ich mit denen hier anfangen?« Er hielt ein Paar Plastikohren hoch.
»Na, aufsetzen.«
Er seufzte und stellte sich vor den Spiegel. »Kommt Rory heute Abend?«
»Nein, er muss arbeiten.«
Eugene schnaubte. »Wie schade.«
»Nicht wirklich. Oder würdest du auf den Anblick abfahren?«
Er drehte sich um und musterte mich eingehend. »Nein. Nicht einmal, wenn du der letzte Lebkuchen auf der Welt wärst.«
»Ganz genau. Außerdem ist es immer etwas komisch zwischen ihm und Zach. Es ist einfacher, wenn sie nicht aufeinandertreffen.«
Eugene machte erneut ein missbilligendes Geräusch, während er an seinen Ohren rumfummelte. »Wie dämlich. Ist doch nur Eifersucht.«
»Worauf soll Rory denn eifersüchtig sein? Auf gar nichts.«
Eugene fing meinen Blick im Spiegel auf.
»Was? Ist doch so! Zach ist mein Freund, und Rory ist mein Kollege. Die Dinge könnten nicht klarer sein.«
»Du meinst, Rory ist dein Freund, und Zach ist dein Kollege?«
»Ja«, blaffte ich, »das hab ich doch gemeint.«
»Klopf, klopf, darf ich reinkommen?«, fragte Zach von der anderen Seite der Klotür.
»Klar«, erwiderte ich und warf Eugene einen warnenden Blick zu.
Er öffnete die Tür, und sowohl Eugene als auch ich brachen bei seinem Anblick in lautes Gelächter aus. Wenn überhaupt möglich, sah Zach noch alberner aus als wir. Nur sein Gesicht und ein paar verirrte schwarze Locken lugten aus einem kleinen Loch in dem weißen Filzkostüm hervor, das ganz offensichtlich zu kurz für ihn war. Es bedeckte zwar seinen Kopf und den Körper darunter, reichte jedoch nur bis knapp über seine Knie, sodass seine Jeans und seine Doc Martens drunter hervorschauten. Auf seiner Nase saß eine künstliche Karotte.
»Leute, ihr seht echt toll aus«, bemerkte Zach. »Der heißeste Lebkuchen, den ich je gesehen habe.«
»Danke«, sagte ich errötend, wedelte dann rasch mit den Armen. »Es ist wirklich ziemlich heiß hier drin. Sollen wir nach oben gehen?«
Er nickte, und wir machten uns auf den Weg zum Verkaufsraum, wo der grummeligste Weihnachtsmann der Welt mit übereinandergeschlagenen Beinen in seinem Sessel saß und mit seinem Stiefel ungehalten in der Luft auf und ab wippte.
»Norris«, rief Eugene, »ich war ein ganz braver Junge! Bekomme ich ein Geschenk?«
Norris hielt inne, um uns zu betrachten, und ich sah ein Lächeln an seinen Mundwinkeln zupfen, als er auch schon losprustete und sich vor Lachen den Bauch hielt. »Zachary, ich weiß nicht, warum ich dich in diesen Laden gelassen habe. Wie bitte soll uns eine Weihnachtsparodie in diesen irren Kostümen bei irgendwas helfen?«
»Nicht so negativ, Santa, bitte.« Zach watschelte durch den Laden, wobei seine Schritte durch den weißen Filzstoff gedämpft wurden, und überprüfte noch mal, ob alles an seinem Platz war. Hinter der Kasse befand sich ein Kessel, in dem der Glühwein warm gehalten wurde. Eugene hatte auf einem Tisch daneben Gläser aufgestellt sowie zwei Tabletts mit Weihnachtsgebäck von Lidl angerichtet.
»Ist der Sack bereit?«, fragte Zach Norris.
Der Jutesack lehnte an seinem Ohrensessel. Ich hatte den gesamten Nachmittag damit verbracht, schrottige Geschenke in Seidenpapier einzuwickeln: kleine Flummis, lustige Stifte, Jo-Jos, Dinosaurier-Schlüsselanhänger und neonfarbenen Schleim, der hochgiftig aussah.
»Du musst schon ein bisschen freundlicher schauen«, sagte Zach, der immer noch neben seinem Onkel stand. »Versuch’s mit einem Lächeln.«
Norris hob seine obere Lippe an.
»Nicht so weit. Schalt einen Gang zurück. Nicht so viel Zähneblecken.«
Nach und nach trudelten die ersten Eltern mit ihren Kindern ein und stupsten sie Richtung Norris. Eugene und ich sahen von unserem Platz hinter der Kasse zu und kicherten.
»Frohe Weihnachten!«, sagte er steif zu jedem Kind. »Möchtest du gerne ein Geschenk aus meinem Sack?«
»Er muss echt aufhören, das zu sagen«, murmelte Eugene. »Er wird noch verhaftet.«
Die kleinen Kinder wirkten verschreckt, aber ihre überehrgeizigen Eltern hinter ihnen feuerten sie an, als wären sie bei einem Wettkampf. »Komm schon, Orangina/Archibald/Persimmon! Erzähl Santa, was du dir zu Weihnachten wünschst!«
Die kleine Orangina sah dann auf und erklärte, dass sie ein lebensgroßes Einhorn wolle.
»Ich bin nicht sicher, ob ich so eins dahabe«, erwiderte Norris mit einem Glucksen. »Aber steck doch mal deine Hand hier rein und schau, was du da findest.«
»Ernsthaft, ich rufe bald die Polizei«, raunte Eugene mir zu.
Ich schlug ihm auf den Arm. »Mach es nicht kaputt. Das ist doch nett.«
Es war mehr als nur nett. Es war magisch. Zach hatte die Regale mit weißen Lichterketten geschmückt, und Nat King Cole trällerte Weihnachtsweisen aus den Lautsprechern. Der Laden funkelte und strahlte durch die Schaufenster, was immer mehr Leute auf dem nasskalten Bürgersteig dazu ermunterte, einzutreten.
Nachdem sie mir Anfang der Woche geschrieben und gefragt hatte, ob sie »mit Begleitung« kommen dürfe, erspähte ich Jaz, die mit Dunc sowie Maya und George eintrudelte. Ich grinste und winkte ihnen über die Menge hinweg zu, konnte jedoch meinen Posten nicht verlassen, da so viele Kunden anstanden, um Bücher zu kaufen. Ich gab den gratis Glühwein aus, während Eugene abkassierte. Ich vergaß fast schon, dass ich wie ein Lebkuchen gekleidet war, doch Eugene schüttelte immer wieder den Kopf, um seine Schellen bimmeln zu lassen, wenn ein Kunde nach seiner Papiertüte griff.
In einem anderen Eck des Ladens, unterhalb der Gartenbücher, standen ein paar von der NOMAD-Truppe. Seamus hatte seinen schäbigen alten Mantel gegen eine Tweedjacke eingetauscht und sah aus, als habe er sich die Haare gebürstet, was einem Weihnachtswunder gleichkam. Lenka und Mary nippten nervös an ihrem Glühwein, und Elijah beäugte argwöhnisch ein Plätzchen. Ich hatte noch nie einen von ihnen außerhalb unseres Klassenzimmers gesehen und verspürte einen Anflug von Stolz, dass ich sie hier zusammengebracht hatte.
Obwohl wir das alles hier eigentlich Mr. Schneemann zu verdanken hatten. Hin und wieder schaute ich zu ihm rüber und sah ihn Fotos machen, wofür er die Kamera über seine drollige Karottennase heben musste, und verspürte Dankbarkeit. Nicht nur dafür, dass er Energie und frischen Wind in den Laden gebracht hatte, sondern auch dafür, dass wir alle mehr Spaß hatten. Selbst Norris schaute nicht ganz so mördermäßig in Zachs Kameralinse.
»Die Weihnachtssänger sind da!« Eugene stupste mich mit dem Ellbogen an und deutete durch die Schaufenster auf den Chor der Chelsea Pensioners, der draußen wartete.
»ZACH!«, brüllte ich über das Gedränge hinweg und zeigte nach draußen.
Er bahnte sich seinen Weg zur Tür. Sein weißer Kugelkopf hüpfte über den anderen entlang. Er schüttelte jedem einzeln die Hand, bevor er sich umdrehte und sich in die Ladentür stellte.
»ENTSCHULDIGEN SIE, MEINE DAMEN UND HERREN! Könnten Sie bitte den Weg freimachen für unsere Weihnachtssänger? Nein, du nicht, Weihnachtsmann, du bleibst, wo du bist. Aber wenn alle anderen etwas Platz machen könnten, wäre das super.«
Weihnachtseinkäufer, Eltern und Kinder rückten enger zusammen. Einige setzten sich auf die Stufen, andere drückten sich gegen die Regale. Ich sagte ein paar Leuten, sie könnten ihre Kinder auf den Verkaufstresen stellen, damit sie besser sehen konnten. Es war so proppenvoll wie montagmorgens um acht in der U-Bahn, nur festlicher gestimmt.
Ich bückte mich unter den Tresen, um Nat King Cole auszumachen, und schenkte mir ein Glas Glühwein ein, während die Chelsea Pensioners sich in einem Halbkreis aufstellten. Einer von ihnen hatte eine Trompete dabei. Kurz herrschte Stille, und dann legten sie los mit einer trällernden Interpretation von »Kommet ihr Hirten, ihr Männer und Frau’n«.
Dann setzte der Trompeter zu einer schmetternden Darbietung von »Fröhliche Weihnacht überall« an. Wir stimmten beim Refrain mit ein und wurden jedes Mal lauter. Ich weiß nicht, ob es der Wein war, die Musik, die alten Soldaten, die vor uns sangen, oder meine Hormone (eine Kombination von allem?), aber plötzlich übermannten mich die Emotionen. Ich schaute mich im Laden um, von Jaz, die Dunc auf ihrer Hüfte trug, bis hin zu dem Trompeter, der sich durch den letzten Vers trötete, und alle meine Ängste und Bedenken – wegen dem Laden, wegen Rory, wegen der Zählerei und der Farben der Autos – erschienen mir mit einem Mal bedeutungslos. Für einen kurzen Moment fühlte sich mein Kopf geräumiger an, frei von Sorgen. Ich schenkte mir noch einmal nach, und als ich dann wieder durch den Laden schaute, fing ich Zachs Blick ein und grinste breit, als der Altherrenchor »Lasst uns froh und munter sein« anstimmte.
Sie endeten zu tosendem Beifall und Zugaberufen. Zach ließ ein klimperndes Eimerchen für Spenden rumgehen, während sie ein letztes Stück zum Besten gaben. »Morgen, Kinder, wird’s was geben«.
»Heiliger Bimbam, da sind ja ein paar Fünfziger drin«, staunte Eugene, als der Eimer die Kasse erreichte.
»Das ist für sie, nicht für uns. Weißt du was, stell das hier ab und gib ihnen ein Gläschen.«
Ich reichte ihm ein Tablett mit dampfendem Glühwein. Das Durchschnittsalter der Weihnachtssänger musste bei vierundneunzig liegen, und ich konnte mir gut vorstellen, dass sie einen kleinen Zuckerschub gebrauchen konnten, bevor einer von ihnen noch umkippte. Es war ein niedlicher, kauziger Anblick: Norris in seinem Weihnachtsoutfit, der mit den alten Soldaten becherte, während ein Schneemann um sie herumwuselte und Fotos machte.
Ich sah vom Tresen aus zu, wie Eugene die Gläser verteilte, und Zach ließ die Kamera sinken und schob sich zu mir durch.
»Nicht schlecht, was?«
»Der Gesang?«
Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Die ganze Party.«
Ich knuffte ihn mit der Schulter in seinen Arm. »Ja, okay, okay, hast du gut gemacht. Gute Arbeit.«
»Gut gemacht haben wir es alle«, sagte er nachdrücklich, legte den Arm um meine Schultern und zog mich an sich. »Teamwork.«
Ich blieb kurz an seine Brust gelehnt stehen, riss mich jedoch los, als ich in der Menge Jaz mit Dunc an der Hand auf uns zukommen sah.
»Gefällt mir, dein Outfit, Süße«, sagte sie breit grinsend. »Dunc, schau doch nur, was Tante Florence anhat?«
Er deutete auf die rote Zuckergussverzierung auf meinem Kopf. »Bist du Rudolph, das Rentier?«
Ich lachte. »Nein, nicht ganz. Ich bin ein Lebkuchen. Wie geht es euch beiden?«
»Supi. Wir haben auch brav mitgesungen, stimmt’s, Dunc?«
Er nickte und sah dann schüchtern zu Zach auf. »Aber deine Schneemannverkleidung, die gefällt mir am besten von allen.«
Zach lachte. »Danke, Kumpel.«
»Willst du noch was trinken?«, fragte ich Jaz.
»Ja, bitte«, sagte sie und wackelte mit dem Glas vor meiner Nase.
Ich füllte es auf und nickte zu George, der auf der anderen Seite des Ladens mit Maya dastand und sich mit Norris unterhielt. »Wie läuft es?«
Jaz’ Lächeln brachte ihr gesamtes Gesicht zum Strahlen. »O Floz, er ist ja so ein Schatz.«
Ich schielte zu Dunc, doch der war abgelenkt von Zach, der in die Hocke gegangen war und ihm auf seinem Handy Tierfotos zeigte. »Habt ihr es getan?«, flüsterte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Wir wollten uns diese Woche treffen, aber bei der Arbeit ist was dazwischengekommen, also denke ich, dass heute die Nacht der Nächte ist. Sie kommen beide zu einer Pyjamaparty zu uns.«
»Was macht er so?«
Sie zuckte die Achseln. »Irgendwas mit Computern. Ach ja, wo wir schon bei Partys sind, kann ich Dunc am Samstag mit ins Hotel bringen? Ich werde ihn nur mit einem iPad irgendwo ins Eck setzen, während ich euch zurechtmache.«
»Klar. Ich teile mir ein Zimmer mit Ruby, aber Mia hat das direkt nebenan, also werden wir genug Platz haben.«
»Super.« Sie nahm einen Schluck Wein. »Wie ist die Stimmung so kurz vor dem großen Tag?«
»Mia hat die ganze Woche nichts außer Äpfel gegessen, und Patricia mailt uns stündliche Wetter-Updates und schiebt Panik wegen Regen, obwohl die ganze Feier drinnen stattfindet. Also im Großen und Ganzen alles so wie erwartet.«
Sie senkte das Glas. »Und wo ist Rory?«
»Arbeiten. Er meinte, er hätte vor dem Wochenende viel zu tun, aber wir haben morgen Nachmittag das Probedinner für die Hochzeit und danach Drinks, also versteh ich’s.«
Jaz hob eine Augenbraue in meine Richtung, ertappte dann aber Dunc, dessen Hand sich zu den Plätzchen auf dem Tablett stahl. »Kein Stück weiter, mein Freundchen, das reicht für heute.«
»Was für ein GRINCH«, sagte Zach und hob den kleinen Jungen schwungvoll in die Luft. Dann kippte er ihn zu lautem Quieken und Lachen kopfüber.
»Vorsicht, du willst da bestimmt keine Kotze draufbekommen«, sagte Jaz und deutete mit einem Nicken auf Zachs schneeweißes Kostüm.
Zach stellte ihn wieder ab, und Dunc zupfte an Jaz’ Mantelärmel.
»Mum, Mum«, sagte er. »Zach hat mir Fotos von seinen Ferien gezeigt. Können wir auch nach …« Er hielt inne, da ihm das Wort nicht einfiel.
»Patagonien«, sagte Zach.
»Können wir auch da hin, Mum? Bitte? Da gibt es Wale und Delfine und Adler.«
Jaz lachte. »Vielleicht, obwohl das etwas teuer klingt.« Dann schaute sie zu Zach. »Was für Ferien sind das? Fliegst du über Weihnachten?«
»Ein ausgedehnter Urlaub. Ein paar Monate wahrscheinlich, um Fotos zu machen.«
»Echt jetzt? Ich dachte, du meinst so einen Trip mit Hotel und Piña Colada am Pool«, staunte Jaz und sah von Zach zu mir.
»Nein, ich fliege am Samstag um sieben mit meiner Kamera zu einem richtigen Abenteuerurlaub los.«
»Können wir auch fliegen, Mum?«, flehte Dunc.
»Vielleicht eines Tages«, sagte sie, bevor sie ihr Glas leerte, »aber jetzt müssen wir erst mal nach Hause.«
»Zu eurer Pyjamaparty?«, fragte ich mit gehobenen Augenbrauen.
»Ganz genau.« Sie nahm Duncs kleine Hand. »Komm, lass uns George und Maya holen.« Sie und Dunc verabschiedeten sich von Zach, dann wandte sie sich zu mir. »Wir sehen uns Samstag.«
Ich nickte und sah ihr zu, wie sie sich den Weg zu George bahnte. Sie legte eine Hand auf seinen Rücken und sagte etwas, woraufhin er nickte; er schüttelte Norris die Hand und winkte dann mir zu.
»Vielen Dank«, formte er stumm von der anderen Seite des Ladens.
Er stupste Maya, damit sie es ihm gleichtat, und dann verließen sie mit den letzten Kunden den Laden. Jaz zwinkerte mir durch das Schaufenster zu, als sie die Straße entlanggingen. Sie wirkte so glücklich.
Als ein lauter Ruf von der Tür erschallte – »Ho, ho, ho!« –, drehten wir uns verdutzt um. Norris hatte das Geöffnet-Schild auf Geschlossen gedreht und grinste uns breit an.
»Oh, hallo, der Weihnachtsmann ist ja aufgetaut«, bemerkte Eugene.
»Das ist er«, erwiderte Norris, zog sich die Mütze vom Kopf und rieb sich über das Haar, sodass die weißen Büschel abstanden wie Baiserhäubchen. »Und wisst ihr auch, warum?«
»Du wurdest nicht wegen Anstößigkeit verhaftet?«
Norris schüttelte den Kopf und klatschte in die Hände. »Dieser Mann. Dieser Mann! Er hat uns gerade gerettet.«
»Welcher Mann?«
»Na, der Mann«, sagte Norris, dessen Gesicht so puterrot angelaufen war, dass ich schon dachte, er müsste explodieren. Ich hatte ich noch nie so fröhlich gesehen. »George irgendwas, der mit Florence’ Freundin hier war.«
»Spencer?«
Norris nickte. »Ja, der. George Spencer. Der Mann ist ein Internet-Millionär, der so eine Shopping-Seite gegründet hat.«
»Was für eine Shopping-Seite?« Meine Stimme überschlug sich.
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Frag mich nicht. Ich habe keine Ahnung von diesen Dingen, wie ihr wisst. Aber er hat angeboten, unsere Mieterhöhung zu zahlen. Er wohnt ums Eck und ist der Meinung, dass wir unbedingt offen bleiben müssen. Seine Tochter ist anscheinend eine richtige kleine Leseratte.«
»Du machst Witze?«, sagte Zach.
»Er kann kein Millionär sein, er sieht aus wie elf«, schob ich hinterher, als ich an Georges Babypopo-Gesicht und die nerdige Brille dachte. »Jaz hat mir gerade erzählt, dass er mit Computern arbeitet.«
»Ganz genau«, sagte Norris, der immer noch wie wild nickte. »Irgendeine Shopping-Sache, die Google gerade für ein Vermögen aufgekauft hat, und er will uns unter die Arme greifen. Anscheinend hat die Petition den Anstoß dafür gegeben.« Er beugte sich vor, um sich noch Glühwein nachzuschenken, und hob das Glas in meine Richtung.
Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Jaz ging, ohne es zu ahnen, mit einem Millionär aus, und dann auch noch mit einem bescheidenen, anständigen IT-Millionär.
Wir sahen einander in staunendem Schweigen an, bevor Eugene einen Jubelruf ausstieß und aufsprang, woraufhin wir es ihm gleichtaten und die Arme um die Schultern des anderen schlangen. Ich zuckte innerlich zusammen, als der Glühwein gleich aus mehreren Gläsern auf die Holzdielen schwappte, ermahnte mich jedoch, jetzt bloß nicht den Moment zu ruinieren.
»Ich möchte euch allen für eure Mühe danken«, sagte Norris, als wir uns wieder beruhigt hatten. »Weil es funktioniert hat und ich es nicht … Ich kann nicht … Ich bin nicht sicher, ob ich selbst …« Er stockte und blinzelte in die Runde.
»Alles in Ordnung, Norris?«, erkundigte sich Eugene.
»Mir geht’s gut«, erwiderte er, griff sich dabei an die Brust und hustete. »Ich bin nur so dankbar.«
»Ich komme einfach nicht drüber weg«, sagte Zach. »Wir müssen feiern. Verzeihung, Herr Weihnachtswichtel«, sagte er und schob sich hinter die Kasse.
»Was tust du da?«, wollte Eugene wissen.
Zach zog sein Handy aus der Tasche, steckte es an die Anlage, und die ersten Takte von Mariah Careys »All I Want For Christmas Is You« trällerten über unseren Köpfen los.
Wir tranken den Glühweinkessel bis auf den Grund leer, also ging Norris nach unten, um eine staubige Flasche Whisky aus seinem Büro zu holen. Die tranken wir ebenfalls, obwohl ich Whisky eigentlich hasste. Ich aß sechs Lebkuchen, während wir zu Wham! und Shakin’ Stevens um den Tisch mit den Neuerscheinungen herumtanzten, dann wieder zu Nat King Cole und Mariah Carey, weil das Eugenes Lieblinge waren. Wenn jemand am Laden vorbeigekommen wäre und einen großen Schneemann gesehen hätte, der eine Lebkuchenfrau unter seinem Arm hindurchwirbelte, während ein Wichtel einen – grottenschlechten – Moonwalk auf dem Dielenboden hinlegte, hätte er sich womöglich gefragt, ob er halluzinierte. Es war der perfekte Abend, bis mir Harry einfiel. Also fing ich an, die Gläser einzusammeln und zum Spülen nach unten zu tragen.
Zach trocknete ab, während ich spülte, und wir summten gemeinsam »Lasst uns froh und munter sein« vor uns her.
»Hast du schon gepackt?«
»Nee, ich stopfe Samstagmorgen einfach ein paar schwarze T-Shirts in meine Tasche.«
»Wir werden dich vermissen«, sagte ich, als ich ihm das nächste Glas reichte. Das im Namen des ganzen Ladens zu erklären, quasi gemeinschaftlich, erschien mir unverfänglicher als zuzugeben, dass er mir ganz persönlich fehlen würde.
»Ach ja?«, sagte er, als er sich schließlich die Hände am Geschirrtuch abtrocknete.
»Klar. Obwohl ich es nicht vermissen werde, hinter dir herzuräumen«, schob ich hinterher, und weil ich ziemlich beschwipst war und es mir eine tolle Idee schien, schöpfte ich eine Handvoll Schaum aus dem Becken und pustete ihn in seine Richtung.
Zach lachte, wischte sich die Schaumflocken von den Wangen, und dann grinsten wir einander gerade so lange an, dass es anfing, sich komisch anzufühlen. Meine Wangen glühten, und es war, als hätte jemand alle Luft aus der winzigen Teeküche gesogen.
»Komm, wir müssen das noch fertig machen«, sagte ich und wandte mich verlegen der Spülschüssel zu; ich hatte das Gefühl, wegschauen zu müssen, überallhin, nur nicht zu ihm.
»Warum bist du mit ihm zusammen?«, fragte er leise.
»Wie bitte?«
Zach antwortete nicht sofort. Er sah mich einfach nur an auf diese Art, die mir das Gefühl gab, als könne er beinahe in mich hineinschauen. »Mit Rory. Warum?«
»Wie meinst du das? Weil er mein Freund ist, deswegen. Komm schon, trockne das ab.« Ich reichte ihm das nächste Glas.
Er trocknete schweigend ab, während ich Spülmittel über einen Teller kippte und mir Mühe gab, mir meine Verlegenheit nicht anmerken zu lassen. Von oben ertönte das gedämpfte Grölen von Norris und Eugene, die »In der Weihnachtsbäckerei« mitschmetterten.
»Der Typ ist ein egoistischer Arsch.«
»Zach …«
»Wo ist er denn gerade?«, fragte er und wirbelte herum, um mir direkt in die Augen zu sehen. »Wenn er so toll ist, warum war er dann heute Abend nicht hier? Warum ist er nie für dich da?«
»Zach, ich bin kein Kleinkind, das einen Aufpasser braucht. Er muss arbeiten.«
Zach ballte die Fäuste und knurrte: »Herrje, Florence, du verdienst einfach etwas viel Besseres. Du bist zu gut für ihn, und ich wünschte nur, du könntest das sehen.«
»Zach …«
Aber er ignorierte mich, seine Stimme wurde lauter. »Du glaubst, dass er alles ist, was du willst, weil er sich anzieht wie ein Kerl aus dem 18. Jahrhundert und redet wie ein tyrannischer mittelalterlicher König. Aber er wird dich zermalmen.«
»Zach, im Ernst jetzt, das ist etwas arg dramatisch«, versuchte ich, die Stimmung aufzulockern. Ich spürte bereits, wie sich die Angst vor einer schwierigen, emotionalen Auseinandersetzung in mir ballte.
»Ich fliege Samstag weg, ich muss dramatisch sein! Hör zu, als ich dich das erste Mal traf, da dachte ich, du wärst der schrägste, verklemmteste Mensch, dem ich je begegnet bin.«
»Vielen Dank.«
»Gern geschehen. Aber dann habe ich dich kennengelernt, und mir ist klar geworden, dass du, unter dieser schrägen Oberfläche und deiner echt krassen Kaffeetassen-Besessenheit, auch der liebste, netteste und loyalste Mensch bist, dem ich je begegnet bin. Und er nutzt das schamlos aus.«
»Zach …«
»Du liebst ihn gar nicht, stimmt’s?«
Ich richtete den Blick auf den Linoleumboden, der ganz klebrig war vor Kaffeeflecken, und nahm mir vor, ihn gleich Montag zu wischen. »Ich … ich bin nicht … Ich weiß nicht.«
Er schüttelte den Kopf. »Du liebst ihn nicht, ich weiß es.«
Ich spürte einen Anflug von Wut. »Warum sagst du mir das alles gerade?«
»Weil ich nicht mitansehen kann, wie er dich behandelt.«
»Er ist einfach nur beschäftigt. Immerhin hat er ein ernsthaftes Ziel vor Augen, anstatt …«
»Anstatt was? Fotos zu knipsen? Für seinen Onkel zu arbeiten?«
»Das wollte ich nicht sagen, ganz bestimmt nicht«, murmelte ich beschämt, als ich Zachs gekränkte Miene sah.
Wir wurden vom Vibrieren meines Handys in der Hosentasche unterbrochen. Eine Nachricht von Rory. Verlasse gerade das Büro und fahre zu mir. Hoffe, der Abend war ein voller Erfolg. Wir sehen uns morgen, mein Schatz. R
»Ich muss los.« Plötzlich wollte ich nur noch nach Hause und in mein eigenes Bett.
»Florence, bitte denk doch einmal nur an dich. An das, was du willst.« Er packte meinen Arm, seine Finger drückten sich in meine Haut.
»Ich muss los«, erwiderte ich und schüttelte seine Hand ab.
»Schön«, sagte er angespannt. »Dann sehen wir uns, wenn ich zurück bin.«
Ich drehte mich an der Tür um, erschüttert von der Vorstellung, dass Zach und ich uns so voneinander verabschieden sollten, aber auch ratlos, was ich sonst tun könnte.
»Hab eine gute Reise«, sagte ich mit einem jämmerlichen kleinen Wink, bevor ich nach oben rannte und mich von den anderen beiden verabschiedete, die sich lallend durch »Schneeflöckchen, Weißröckchen« sangen.
Ich stürmte aus dem Laden und sog die kalte Dezemberluft tief in meine Lunge ein. Es war dunkel, fast Mitternacht, und die Bürgersteige waren schwarz vom Regen, aber ich ging den ganzen Weg zu Fuß nach Hause, während ich einzelne Sätze unseres Gesprächs in meinem Kopf hin und her wälzte.