Gegen Ende der Woche bediente ich gerade Mrs. Delaney und bemerkte daher nicht den blonden Mann, der sich in der Abteilung mit den Biografien herumdrückte. Es regnete, was üblicherweise mehr Leute in den Laden trieb, da es ein guter Ort war, um sich die Zeit zu vertreiben, bis die Wolken vorbeigezogen waren. Ohne Eile. Entspannt. In Buchhandlungen kam nie ein Verkäufer auf einen zu und fragte: »Wollen Sie vielleicht ein Paar Pumps dazu anprobieren?« Die Kunden konnten ungestört stöbern, während es von ihren Jacken und Mänteln lautlos auf die türkischen Teppiche tropfte.
Mrs. Delaney kam seit Jahrzehnten zu Frisbee Books. Sie wohnte in einem großen Haus mit Blick auf die St. Luke’s Church, nur einen wackligen Katzensprung mit ihrem Gehstock entfernt, und schaute gerne jede Woche vorbei, um sich über neue Gartenbücher zu unterhalten. Sie begeisterte sich sehr fürs Gärtnern (auch wenn sie es nicht selbst machte; sie hatte einen Kerl namens Cliff, der die Arbeit für sie erledigte), und Eugene und ich wechselten uns damit ab, uns um sie zu kümmern. An diesem Vormittag war ich dran, also blätterte ich mit Mrs. Delaney ein neues Buch über renaturierte Gärten durch. Es lief nicht gut, denn sie erklärte jede Aufnahme eines Gänseblümchens oder Wiesenkerbels zu »einer Schande«.
»Dieser Garten da ist ja noch unordentlicher als der andere!«, empörte sie sich, als ich die letzte Seite mit einem Foto von einem Schmetterling auf einem Grasbüschel erreichte. »Nichts für mich«, beschloss sie. »Ich gehe dann mal wieder.«
Mrs. Delaney wedelte zum Abschied mit ihrem Gehstock, bevor sie in den Regen hinauswankte. Ich trat unter den Holzbalken, der die Belletristik- und Sachbuchabteilung voneinander trennte, um das Gartenbuch in sein Fach zurückzustellen.
»Entschuldigen Sie bitte die Störung«, sagte da der Mann.
Ich setzte mein eingeübtes Lächeln auf und drehte mich um.
»Ich bin nur hier, um ein Buch abzuholen, das meine Mutter bestellt hat.«
Mein Mund klappte auf wie eine Falltür, aber es kamen keine Worte raus. Es war seine altmodische Kleidung, die mir als Erstes auffiel. Über einem weißen Hemd trug er ein Paar blauer Hosenträger, die mit kleinen Knöpfen an seinem Hosenbund befestigt waren. Dann starrte ich sein Gesicht an und fragte mich, ob seine hellblauen Augen und seine beinahe unsichtbaren blonden Wimpern bedeuteten, dass er Skandinavier war.
»Sie meinte, sie habe eine Nachricht bekommen, dass es eingetroffen wäre«, fuhr er fort. »Wenn es Ihnen also nichts ausmachen würde …«
»Aber nein, natürlich nicht. Entschuldigung«, sagte ich und schüttelte den Kopf, wie um mich aufzuwecken. Er klang nicht skandinavisch. Er klang sehr britisch. »Wie heißt sie denn?«
»Elizabeth Dundee.«
»In Ordnung, geben Sie mir eine Sekunde.«
Ich ging hinter die Kasse, betrat den kleinen Nebenraum und fuhr mit dem Finger die Regale auf und ab, bis ich den Bestellschein fand, auf dem Dundee stand.
»Bitte sehr«, sagte ich und trug das Buch um den Verkaufstresen herum nach vorne. Ich hielt es ihm hin und sah erst dann, wie es hieß: Die Kunst der Erregung: Eine Feier der erotischen Kunst durch die Geschichte. Auf dem Umschlag befand sich ein Gemälde von einer Frau, die Sex mit einem Schwan hatte.
»Oh«, entfuhr es mir.
»Ah. Ja«, sagte der Mann leise und knapp. »Das hätte ich mir denken können. Das ist Zeus. Er verwandelt sich in einen Schwan, um Leda zu verführen. Recht sonderbar, diese Götter.«
»Sieht ganz so aus«, erwiderte ich, und wir betrachteten das Buch ein paar Sekunden in betretenem Schweigen, bevor er wieder sprach.
»Ich suche noch nach etwas anderem.«
»Was denn?«, fragte ich, erpicht darauf, von dem peinlichen Gespräch über Tiersex mit diesem gut aussehenden blonden Mann wegzukommen.
»Ein Buch mit dem Titel Kampfansage. Sie haben es nicht zufällig da?«
»Dürfte da sein, aber es ist ein Roman, daher steht es drüben.«
Ich bedeutete ihm, mir in die Belletristikabteilung zu folgen. Kampfansage war ein Buch so dick wie ein Ziegelstein, einer der großen Bestseller des Sommers, weil der irische Autor eine Reihe von Interviews gegeben hatte, in denen er alle anprangerte, nach denen er gefragt wurde. Der Premierminister? Ein Schwätzer. Die Engländer im Allgemeinen? Ein Haufen Schwätzer. Die Queen? Eine reiche Oberschwätzerin.
Suchend beugte ich mich über den Tisch mit den Hardcoverausgaben, als mir siedend heiß einfiel, dass der gut aussehende Mann hinter mir stand und ich meinen größten Schlüpfer überhaupt trug: den mit dem Gummisaum, der mir bis zum Bauchnabel reichte und mir zudem eindrückliche Sliplinien auf die Pobacken zeichnete. Mia hatte mal darauf beharrt, ich solle doch »Tangas eine Chance geben«, und hatte zwei von den Dingern, die sie von einem Modekunden bekommen hatte, unten an meine Treppe gelegt. Doch als ich sie zur weiteren Inspektion in die Abgeschiedenheit meines Zimmers getragen hatte, war ich mir unschlüssig gewesen, durch welche Ausschnitte ich meine Beine stecken sollte, und als ich sie dann endlich anhatte und einen Blick über die Schulter in den Spiegel warf, sah mein Hintern so entblößt aus, so gewaltig und weiß und schwabbelig, dass ich mich fragte, warum überhaupt irgendwer es auf diesen Effekt anlegte. Ich hatte die Tangas ganz hinten in meine Schublade gestopft, wo sie seither vor sich hin vegetierten.
Ich erblickte den goldenen Rücken des Buchs am Rand des Tisches. »Da ist es«, sagte ich, zog es hervor und reichte es ihm. »Haben Sie schon ein anderes von ihm gelesen?« Ich wollte ihn unbedingt von meinem Riesenschlüpfer ablenken.
»Nein«, erwiderte er. »Sollte ich?«
»Ich habe nur sein erstes gelesen. Dieses hier ist zwar angeblich besser, aber das war auch gut. Eine Coming-of-Age-Geschichte über seine Jugend in Dublin in den Siebzigern. Die Versuche, der familiären Politik zu entfliehen, der tatsächlichen Politik und dann der …« Ich hielt inne. »Na ja, ich will nicht alles verraten, aber doch, es ist gut.« Ich errötete, als er den Blick nicht von meinen Augen löste.
Dann drehte er das Buch um, von dessen Rückseite uns der Autor, Dermot Dooley, finster entgegenblickte.
»Sieht aus, als hätte er kein schönes Leben, oder?«
Ich kicherte. »Stimmt.«
So aus der Nähe roch er frisch, nach einem zitronigen Aftershave. Ohne den Kopf zu bewegen, hob ich die Augen vom Buch zu seinem Gesicht. Es war, als würde ein Teil von mir ihn wiedererkennen. Er kam mir vertraut vor. Aber wenn er schon mal im Laden gewesen wäre, hätte ich mich doch sicher an ihn erinnert, oder? Eugene und ich hätten uns darum gestritten, ihn bedienen zu dürfen, und Eugene war bei den heißen Kunden normalerweise schneller als ich.
Seine Augen begegneten meinen, und ich errötete schon wieder. Erwischt.
»Danke, dass Sie’s gefunden haben. Und das Buch für meine Mutter. Sie sind wirklich brillant, äh …«
»Florence«, sagte ich und erwiderte sein Lächeln. »Und nichts zu danken. Das ist mein Job.«
»Ich danke Ihnen trotzdem.«
»Sie interessieren sich also für Gegenwartsliteratur?«, wagte ich mich vor, während ich hinter die Kasse ging und ihm die Bücher abnahm.
»Auf jeden Fall, wenn ich die Zeit dazu finde. Warum?«
»Entschuldigung, das ist neugierig von mir. Es ist nur …« Ich hielt inne. »Na ja, das sollte ich eigentlich nicht sagen, aber die meisten Männer kommen hier rein und suchen die Autobiografie von Wayne Rooney, dem Fußballspieler.«
»Ach herrje«, sagte er und klatschte sich mit der Hand vor die Stirn. »Das war das andere, was ich mir holen wollte. Sie haben nicht zufällig eine Ausgabe da?«
Ich sah von der Kasse auf und lachte.
»Was ist mit Ihnen?«, fragte er.
»Was meinen Sie?«
»Was lesen Sie denn? Ich habe noch nie so richtig darüber nachgedacht, aber muss jemand, der in einer Buchhandlung arbeitet, jedes Buch hier gelesen haben?« Er deutete auf die Regale.
»Nein! Glücklicherweise nicht. Wir teilen es auf. Ich übernehme die Romane. Eugene, das ist mein Kollege, kümmert sich um die Sachbücher und Dramen. Wir haben ein System, mit dem wir jedem, der reinkommt, dabei helfen, ein Buch zu finden, in das er sich … äh, verliebt.«
Es war mir ein bisschen peinlich, es so zu beschreiben, aber er schien es ohnehin nicht zu hören, da er sich auf die Karten vor der Kasse konzentrierte. »Entschuldigung, kann ich die noch dazutun?« Er reichte mir ein Päckchen. Es waren Postkarten mit Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrring vorne drauf, nur dass das Gesicht der Frau durch das einer Katze ersetzt worden war. Es war Teil einer Postkartenserie, bei der ich Norris breitgeschlagen hatte, sie ins Sortiment aufzunehmen. Und ich hatte recht damit gehabt. Wir hatten Mona Lisa als Katze gehabt, ein Van-Gogh-Selbstporträt als Kater und einen anderen Kater, verkleidet als Holbeins Heinrich VIII., aber die waren alle schon ausverkauft.
»Mögen Sie Katzen?« Er sah eigentlich mehr so aus wie ein Hundemensch. Gummistiefel an den Wochenenden, drei Labradore, Tweedmütze.
»Sehr. Meine Mutter hat drei Perserkatzen.«
»Wie süß. Das macht dann zusammen bitte 36,45 Pfund. Möchten Sie eine Tüte?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, keine Umstände.«
»Aber es regnet.« Ich nickte zum Fenster. Draußen wuselten die Leute unter ihren Regenschirmen umher wie riesengroße schwarze Käfer.
Er grinste erneut. »Ein bisschen Regen wird mich schon nicht umbringen.« Er steckte die Bücher und Karten unter den Arm. »Aber ich bin nicht sicher, ob ich mich verlieben werde«, sagte er.
»Hä?«, entfuhr es mir. Mein Blick war an seiner Brust hängen geblieben – ein kleines Dreieck blonden Haars, das oben aus seinem Hemd hervorlugte –, und ich dachte, ich hätte mich verhört.
»In ihn hier«, sagte der Mann und drehte mir die Buchrückseite mit dem Foto von Dooley zu. »Sie haben gemeint, Sie finden Bücher, in die sich die Leute verlieben können.«
»Stimmt«, erwiderte ich und lachte etwas zu laut. Er meinte Dooley. Ganz offenbar redete er nicht über mich. Komm schon, Florence. Die Leute rennen nicht durchs Leben und verlieben sich in irgendwelche Leute, die sie in Buchhandlungen kennenlernen. Das passiert nur in Notting Hill.
»Vielen Dank noch mal für Ihre Hilfe«, sagte er.
»Gern geschehen«, erwiderte ich, als er sich auf den Weg zur Tür begab. »Ich hoffe, Sie haben Spaß damit.«
Er tippte sich zum Gruß mit den Fingern an die Schläfe. Dann war er draußen im Nieselregen verschwunden.
Ich verspürte einen Stich der Enttäuschung, als er fort war, hörte jedoch Norris die Treppe hochkommen und gab mir daher Mühe, so zu wirken, als wäre alles ganz normal.
»Gib mir doch mal das Bestellbuch rüber«, sagte er und blieb auf der anderen Seite des Tresens stehen. Ich reichte es ihm stumm. »Alles in Ordnung mit dir?«, schob er hinterher.
»Ja, alles gut. Warum?«
»Du wirkst ein bisschen durch den Wind. Wo ist Eugene?«
»Oben, füllt die Reiseführer auf.«
Norris öffnete das Buch und griff nach einem Kuli.
»Du hast Mrs. Delaney verpasst«, fuhr ich fort.
»Mein Glückstag. Hat sie was gekauft?«
»Nein. Aber jemand ist vorbeigekommen, um eine Bestellung abzuholen, und ich habe noch eine Ausgabe von Kampfansage verkauft.«
Norris stieß schwer die Luft aus. »Ich bin nicht sicher, ob ein Hardcover am Tag den Laden am Laufen halten wird. Ach, na ja, wir werden sehen«, sagte er, klappte das Buch zu und reichte es mir zurück.
»Ich habe darüber nachgedacht und mir etwas überlegt.« Ich richtete mich auf, entschlossen, ihm meine Ideen zu präsentieren.
Norris’ Augenbrauen zuckten argwöhnisch.
»Wir müssen die Webseite überarbeiten. Und ich dachte an eine Petition. Sowohl online als auch im Laden. Ich werde jeden, der reinkommt, dazu bringen, sie zu unterzeichnen.«
Er erwiderte nichts darauf.
»Und wir sollten uns wirklich eine Instagram-Seite zulegen, Norris. Ich kann mich auch darum kümmern, es ist ganz einfach. Und Twitter.«
»Twitter?«, bellte Norris, als sei das ein schmutziger Ausdruck.
»Es ist Gratiswerbung.«
»Nein, nein, nein«, entgegnete er kopfschüttelnd, während er sich schon der Treppe zuwandte. »Ich kann gerade nicht über den ganzen Kram nachdenken. Ich habe so schon genug um die Ohren.«
Ich streckte seinem Rücken die Zunge raus. »Kann gerade nicht darüber nachdenken« war seine Standardausrede. Es war zum Verrücktwerden. Und außerdem unverantwortlich. Dann erklang das Gepolter von Eugene, der die Treppe runterkam. Er ließ einen Stapel leerer Kartons auf den Boden vor der Kasse fallen.
»Die können da nicht bleiben.«
»Immer mit der Ruhe, Frau Feldwebel«, erwiderte er und stützte sich keuchend auf den Tresen. »Ich bin am Verhungern. Was dagegen, wenn ich die erste Pause mache? Bin nicht sicher, ob ich es bis zur zweiten durchhalte.« Die Mittagspause im Laden war in eine erste (eine Stunde um halb eins) und eine zweite (eine Stunde um halb zwei) Schicht aufgeteilt und wurde jeden Tag aufs Neue zwischen uns ausgehandelt.
»Nein, geh ruhig.«
»Danke dir«, erwiderte Eugene gähnend und streckte die Arme über den Kopf. »Dann bis gleich«, verabschiedete er sich und war schon halb durch die Tür, bevor ich ihn noch mal wegen der Kartons anschnauzen konnte.
»Männer«, murmelte ich in mich hinein. Zu Hause lebte ich mit zwei Schwestern zusammen, die nie auch nur eine Tasse in die Spülmaschine räumten; im Laden arbeitete ich mit Männern zusammen, die ausschließlich daran dachten, wo sie etwas zu essen herbekommen könnten. Ich fragte mich, was mühsamer war. Vor gar nicht langer Zeit hatte Mrs. Delaney mir erzählt, dass Gladiolen asexuelle Pflanzen seien. Klang nach einer viel einfacheren Existenz, so eine Gladiole zu sein.
Als ich mich bückte und gerade die Finger unter die Kartons schob, bimmelte die Türklingel hinter mir, also richtete ich mich rasch auf, wohl wissend, dass ein weiterer Kunde gerade dem Anblick meines Hinterns ausgesetzt war. »Tschuldigung«, sagte ich und drehte mich herum, »ich räume nur schnell die … Oh, hallo.«
Es war der Mann mit den Hosenträgern.
»Hallo noch mal«, sagte er grinsend. Sein Haar war nass und sein Hemd auf der Brust mit dunklen Regentropfen gesprenkelt. »Ich wollte nur … Also, ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus … Es ist so, ich renne sonst nicht durch London und sage das zu Frauen, denen ich in irgendwelchen Läden begegne, aber ich habe mich gefragt, ob Sie wohl Zeit und Interesse hätten, einen Kaffee mit mir zu trinken?«
»Einen Kaffee?«, wiederholte ich, als wüsste ich nicht, was damit gemeint sei.
»Oder ein Glas Wein«, schob er hinterher. »Was auch immer Sie mögen. Ich würde mich nur gerne weiter mit Ihnen über Bücher unterhalten, wenn Sie denn interessiert sind?« Er fuhr sich mit der Hand durch seine nassen blonden Haarsträhnen und sah mich erwartungsvoll an.
»Ähm …« Ich war derart überrumpelt von seinem Wiederauftauchen, dass ich die Sprache verloren hatte, so als wäre ich gerade Zeugin eines verblüffenden Zaubertricks geworden.
»Wenn Sie nicht können oder nicht wollen, oder falls Sie schon vergeben sind und aus irgendeinem Grund nur Ihren Ehering nicht tragen … dann vergessen Sie einfach, dass ich gefragt habe, und ich komme nie wieder her. Obwohl das ein Jammer wäre, da es wirklich eine ganz vortreffliche Buchhandlung ist. Aber falls nichts von alldem zutrifft, dann würde ich Sie gerne auf jedwede Art von Getränk einladen – heiß oder kalt, das liegt ganz bei Ihnen.«
»Äh …«, begann ich erneut, während ich mein Hirn nötigte, endlich anzuspringen. »Ja, gern«, sagte ich über den Rand der Kartons hinweg. Es waren nur zwei kümmerliche Wörtchen, aber besser als gar keine.
»Gut. Ich habe gehofft, dass Sie das sagen. Wie ist Ihre Nummer?« Er griff in die Hosentasche und zog sein Handy hervor.
Deine Nummer, Florence, ermahnte ich mich, das schaffst du. Ich sagte sie ihm ordnungsgemäß auf.
»Wunderbar«, sagte er und verstaute sein Handy wieder in der Tasche. »Ich schreibe Ihnen … dir. Vielleicht dieses Wochenende?«
»Ja, gern«, wiederholte ich ganz benommen.
»Wunderbar«, sagte er. »Dann bis bald.«
»Bis bald«, sprach ich nach, obwohl er bereits fort war. Ich ließ die Kartons auf den Tisch mit den Neuerscheinungen fallen und atmete ganz langsam aus, dann betrachtete ich blinzelnd mein Spiegelbild in der Schaufensterscheibe. Sah ich heute irgendwie anders aus? War mein Haar weniger spanielmäßig?
»Florence, du weißt doch, dass die hier nichts verloren haben!« Norris war wieder oben auf dem Treppenabsatz aufgetaucht und deutete vorwurfsvoll auf die Kartons. »Bitte bring die nach unten.«
Ich wies ihn nicht einmal darauf hin, dass es eigentlich Eugenes Schuld war, dass er die Kartons liegen gelassen hatte und ich sie lediglich für ihn wegräumte. Ich tat es einfach.
Erst als ich die Kartons im Lagerraum mithilfe meiner Füße plättete, wurden mir zwei Dinge klar: Erstens kannte ich noch nicht einmal den Namen dieses Mannes. Und zweitens – Gwendolyns Liste! Ich erstarrte und legte mir die Hände an die Wangen, als mir einfiel, was ich aufgeschrieben hatte. Der Typ war groß, unfassbar attraktiv und, allem Anschein nach, ein Mann mit Humor, der Bücher las, Katzen mochte und offenbar nicht glaubte, dass ein Regentropfen ihm etwas anhaben könnte. Aber das war doch ganz bestimmt ein Zufall, oder?
Klar war es das. Ich lachte und schüttelte den Kopf, während ich wieder damit anfing, auf den Kartons herumzutrampeln. Als ob das Universum irgendwas damit zu tun hätte. Das war ganz offensichtlich ein Zufall. Es war völlig ausgeschlossen, dass diese Irre in ihrer Gänseblümchen-Latzhose diesen Mann hier vorbeigeschickt hatte.
Am Nachmittag fand eines meiner NOMAD-Treffen statt, also überließ ich es Eugene, den Laden abzuschließen, und spazierte ein paar Straßen weiter zu der Grundschule, in deren Räumlichkeiten sie abgehalten wurden. Als ich durch die Scheibe in der Tür spähte, sah ich Jaz bereits auf einem der Plastikstühle in Kindergröße sitzen. Ein Mann, den ich nicht kannte, hatte sich auf einen der vorderen Plätze gequetscht und betrachtete finster die Fingerfarbengemälde. Wir waren eine kleine Gruppe, normalerweise acht oder neun Leute, und hockten an den aufgereihten Pulten, umgeben von bunten Kunstwerken aus Fingerfarben und trockenen Nudeln. Vorne, unter einem großen Whiteboard, bemühte sich unser Leiter, Stephen, eine konstruktive Gruppendiskussion anzuregen, während wir mit Vanillecreme gefüllte Kekse aßen. Stephen brachte sie selbst mit, samt einem Wasserkocher, mehreren Bechern und Teezubehör.
Ich schob die Tür auf. »Hi, Stephen«, grüßte ich und winkte ihm zu.
Er wirbelte von seinem Keksteller herum und strahlte mich an. »Guten Abend, Florence. Alles gut?«
»Alles ganz fantastisch«, erwiderte ich und ließ meinen Rucksack auf den kleinen roten Stuhl neben Jaz plumpsen. Ihr vierjähriger Sohn, Duncan, saß in Pulli und Schuluniformhose im Schneidersitz auf dem Boden; er hatte Kopfhörer auf und schaute sich ein Video auf ihrem Handy an. »Warum ist denn Dunc heute dabei?«
Jaz seufzte. »Weil sein Dad ein echter Mistkerl ist und ihn nicht abgeholt hat.«
Sie sagte es so laut, dass Stephen vorne zusammenzuckte. Dunc war glücklicherweise zu sehr in das Handy vertieft, um es mitzukriegen. Ich wuschelte ihm durchs Haar, woraufhin er aufsah und fröhlich grinste, bevor er den Blick wieder aufs Display senkte.
Jaz’ Ex, Duncs Vater, war ein Klempner namens Leon. Er und Jaz waren nur ein paar Monate zusammen gewesen, in denen sie prompt schwanger wurde. Als sie ihm die frohe Nachricht verkündete, hatte Leon ihr gestanden, dass Jaz nicht die einzige Frau war, bei der er hin und wieder ein Rohr verlegte. Sie trennten sich, und Leon hatte sich seitdem als eher sporadische Vaterfigur hervorgetan. Gelegentlich nahm er seinen Sohn zwar mit in den Battersea Zoo, um sich die Kaninchen und die Frösche anzuschauen (Dunc wollte Tierarzt werden, wenn er groß war), aber er und Jaz standen generell auf Kriegsfuß miteinander.
Ihr Sohn war der Grund, warum sie überhaupt anfing, zu den Treffen zu gehen. Jaz arbeitete als Friseurin in einem Salon in Chelsea, und als Dunc noch ein Baby war, entwickelte sie eine Obsession bezüglich seines Essens – eigentlich seines und ihres Essens. Sie bekam furchtbare Panik, dass er irgendetwas zu sich nehmen oder gar verschlucken könnte – seien es Chips oder Trauben –, was sie mit ihren eigenen Händen durch die Chemikalien aus dem Salon kontaminiert hatte. Also aß sie von da an nur noch mit Messer und Gabel, außerdem durfte während des Kochvorgangs nichts mit ihren Fingern in Berührung kommen, was ihren Speiseplan drastisch einschränkte.
Zu der Zeit, als sie auf Anraten ihres Hausarztes zu den Treffen kam, konnte sie nur noch Fertigmahlzeiten zu sich nehmen, da sie für die Zubereitung bloß die Folie von der Packung abziehen musste. Fertiggerichte zum Frühstück, Fertiggerichte zum Mittagessen, Fertiggerichte als Abendbrot. Für Dunc galt dasselbe – ein Zweijähriger, der beinahe ausschließlich mit Käpt’n Iglo & Co aufgewachsen war. Als ich ein paar Monate später zu der Gruppe dazustieß, waren Jaz (und Dunc) von ausschließlich Fertiggerichten zu Fertiggerichten plus Pasta und Gemüse aufgestiegen, solang diese in Gefrierbeuteln daherkamen und Jaz sie vor dem Kochen nicht berühren musste. Mittlerweile ließ sie ihn und sich fast alles essen – außer Obst mit der Hand –, aber sie kam immer noch alle zwei Wochen her, damit wir in der hintersten Reihe tuscheln konnten. Wir hätten kaum unterschiedlicher sein können – ich, der zweiunddreißigjährige Bücherwurm in hässlichen Schuhen, und Jaz, die schicke Friseurin Anfang vierzig, die ständig Animal-Prints trug –, aber mittlerweile verstanden wir uns richtig gut. Obwohl wir nach außen hin sehr verschieden wirkten, wussten wir beide, wie es sich anfühlte, die Kontrolle zu verlieren, als würde man von einem inneren Puppenspieler dirigiert, der einem permanent sinnlose, anstrengende Aufgaben auftrug.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte ich mich und sah von Dunc auf dem Boden zu Jaz hoch. Heute trug sie ein weißes T-Shirt über einer Schlangenhaut-Leggins.
Sie seufzte erneut. »Ja, einfach nur hühnermüde.« Jaz verwechselte gerne Worte. Vor zwei Wochen hatte sie sich bei Stephen beschwert, sie würde sich fühlen wie »gekauft und wieder ausgespuckt«.
»Hundemüde«, korrigierte ich sie.
»Eine Komplettfärbung und drei Dauerwellen heute. Drei! Ehrlich, diese Frauen. Was denken die sich bloß? Und dann musste ich zur Schule hetzen, um den hier abzuholen.« Sie nickte zu Dunc, und ich erhaschte einen Blick auf das Display, auf dem er sich eine Tier-Doku anschaute, wo eine Löwin sich gerade im Hinterlauf eines unglücklichen Zebras verbiss. »Aber was ist mit dir los?«, hakte sie nach. »Warum so gut gelaunt?«
Ich antwortete nicht sofort. Ich lächelte sie bloß an.
Jaz beugte sich auf ihrem kleinen Stuhl nach vorne. »Warum guckst du so komisch?«
»Ich wurde heute nach einem Date gefragt.« Ich war den Nachmittag über schier geplatzt, weil ich es unbedingt Eugene erzählen wollte, doch jedes Mal, wenn ich den Mund aufmachte, hatte die Klingel an der Tür gebimmelt und jemand Neues war hereingekommen, um Schutz vor dem Regen zu suchen.
»Was meinst du? Von einem Kerl?«
»Ja! Vielen Dank auch für den überraschten Gesichtsausdruck.«
Jaz jauchzte, sprang auf dem Sitz auf und klatschte verzückt in die Hände. »Ernsthaft? Gehst du hin?«
»Alles in Ordnung, Jasmine?« Stephen schaute von seinen Vanillecreme-Keksen auf. Er war ein Mann, der beinahe so breit wie hoch war und den man leicht für einen Informatiklehrer hätte halten können – kurzes graues Haar, schwarz gerahmte Brille, trug immer kurzärmlige Hemden mit Krawatte. Nerdig, aber nett. Er betrachtete sich selbst als guter Hirte von Chelsea, der versuchte, seinen Schäfchen alle zwei Wochen mit einer neunzigminütigen Gesprächsrunde und ein paar Keksen etwas Gutes zu tun.
»Alles super, Stephen, keine Sorge«, antwortete Jaz. »Hab gerade nur erfahren, dass die Dame hier ein Rendezvous hat.«
»Psssst«, zischte ich und setzte mich rasch, »das muss nicht jeder wissen.«
»Meinen Glückwunsch, Florence«, sagte Stephen. »Und Jasmine, da du heute offenbar Hummeln im Hintern hast, darfst du die Tee-Beauftragte sein.«
Jaz zwinkerte mir zu und ging zu Stephens Wasserkocher rüber, der in der Ecke hinter dem Sandkasten des Klassenzimmers eingesteckt war. Ich angelte mein Handy aus der Tasche. Noch keine Nachricht, aber es war wahrscheinlich zu früh.
Ich legte mein Handy mit dem Display nach unten in den Schoß und schaute mich um, während die anderen allmählich eintrudelten. Die denkwürdigsten Mitglieder unserer Gruppe waren: Mary, eine Buchhalterin mittleren Alters, die eine Knopf-Phobie hatte; Elijah, der einen Waschsalon leitete und besessen war von Verschwörungstheorien; Lenka, eine Krankenschwester, die unter Hypochondrie litt; sowie Seamus, ein Dubliner, bei dem eine zwanghafte Sammelwut diagnostiziert worden war und der in Pimlico in einer Wohnung lebte, vollgestopft mit Zeitungen, die bis in die Sechzigerjahre zurückreichten. Die Wohnungsverwaltung wollte ihn rausschmeißen, aber Seamus fand immer rechtliche Mittel und Wege, sie aufzuhalten.
Das Treffen begann, sobald Jaz die richtige Menge Tee in die richtige Anzahl von Bechern eingeschenkt und sie verteilt hatte. Vor dem Hintergrundgeräusch des Schlürfens stellte Stephen den Neuankömmling, einen Mann namens Peter, vor, bevor er sich erkundigte, wie es allen ging.
Lenka meldete sich sofort. Sie litt oft an irgendeiner neuen Sache, von der sie im Internet gelesen hatte.
»Heute nicht so gut, Stephen«, sagte sie. »Ich schlafe zurzeit nicht besonders.«
Stephen gab einen mitfühlenden Laut von sich. »O Lenka, das tut mir leid. Möchtest du vielleicht einen von diesen hier, während du uns davon erzählst?« Er hielt ihr den Teller mit den Vanillecreme-Keksen hin.
»Ich weiß bloß nicht, warum ich plötzlich all diese Probleme habe«, fuhr sie fort und nahm einen Keks. »Ich glaube, es liegt vielleicht an meinem verspannten Nacken, und dann habe ich mich gefragt, ob es womöglich der viele Kaffee bei der Arbeit ist, also habe ich aufgehört, Kaffee zu trinken. Aber dann habe ich auf meinem Handy gelesen, dass Einschlafprobleme ein Zeichen dafür sein können, dass man diese Krankheit hat – wie heißt sie noch gleich? Die auch dieser Mann hat, der diese Filme gedreht hat?« Sie biss in ihren Keks und schaute sich in der Runde um.
»Alzheimer?«, schlug Mary vor.
Lenka schüttelte den Kopf. »Nein, nein, die andere. Seht ihr? Ich vergesse diese Dinge schon.« Sie biss noch einmal von ihrem Keks ab.
»Parkinson?«, fragte Stephen.
Lenka riss die Augen auf, und ihr Kopf nickte auf und ab wie bei einem Wackeldackel.
»Also gut, Lenka«, sagte Stephen, der immer sehr darauf bedacht war, keine Aussage abzutun, die in diesem Klassenraum gemacht wurde. »Ich denke, wir sollten vielleicht andere Faktoren in Betracht ziehen, die dich vom Schlafen abhalten. Hast du womöglich …?«
»Du darfst nicht so oft auf dein Handy schauen, Lenka«, warf Elijah ein. »Die Regierung kann alles sehen, was du auch siehst. Sie wissen, wonach du suchst, sie wissen, was du liest, und …«
»Ja, vielen Dank, Elijah«, unterbrach Stephen rasch, um die Kontrolle zurückzuerlangen. Was er recht oft tun musste. Bei einer Sitzung letzten Monat hatte Elijah darauf insistiert, dass Prinz Philip die Ermordung von Lady Di befohlen hatte, was dazu führte, dass Seamus, ein strammer Monarchist, drohte den Raum zu verlassen. Die Situation löste sich erst auf, als Stephen das Thema wechselte, indem er mich fragte, wie ich mit meiner Geschichte über Zelda, die zählende Raupe, vorankam – ein Projekt, das ursprünglich seine Idee gewesen war. Da er wusste, dass ich Bücher liebte, hatte er vorgeschlagen, dass ich es mit dem Schreiben einer Geschichte versuchen sollte. Und als mich auch die anderen NOMAD-Mitglieder dazu ermutigten, hatte ich mir eine Idee überlegt und langsam – sehr langsam – damit begonnen, sie aufzuschreiben. Ich fand den Prozess beruhigend. An schlechten Tagen spielte mein Hirn »Konsequenzen« mit allem, was mir vor die Nase kam (wenn das nächste Auto rot ist, wird der heutige Tag richtig schlimm. Wenn da eine ungerade Zahl von Keksen in der Dose ist, wird der heutige Tag richtig schlimm. Drei Tauben auf dem Platz, nicht vier? Schlimm!) Mir eine Stunde Zeit zu nehmen, nur um zu schreiben, half meinem Hirn runterzukommen, und ich schätze, genau das hatte Stephen damit beabsichtigt.
»Wie kam es denn jetzt zu diesem Rendezvous?«, fragte Jaz mich leise.
»Er ist einfach im Laden aufgetaucht«, flüsterte ich. »Aber eigentlich hat er auch nur vorgeschlagen, einen Kaffee trinken zu gehen. Gilt Kaffee trinken als Date?«
»Ein Kaffee mit einem Mann, den du nicht kennst, ist definitiv ein Date.«
»Was, wenn es ein Bewerbungsgespräch ist?«
»Herr, gib mir Kraft … Dann wäre es ein Bewerbungsgespräch. Will er dich denn für einen Job anheuern?«
»Ich denke nicht.« Ich schilderte ihr die ganze Episode detaillierter: das Buch für seine Mutter, seinen interessanten Kleidungsstil, seine Rückkehr nach zwanzig Minuten, um mich auf einen Kaffee einzuladen.
»Na bitte«, sagte Jaz, die Arme verschränkend, »es ist ein Date. Ein Kaffee kann ein Date sein. In Amerika machen sie das ständig. Wie heißt er denn?«
»Ich weiß es nicht.«
»Du weißt es nicht?«, erwiderte sie so laut, dass es Stephens Aufmerksamkeit auf sich zog.
»Jasmine und Florence, geht es euch heute gut?«
»Ja, alles prima«, sagte Jaz. »Und überhaupt, tolle Geschichte, Mary. Wirklich fesselnd. Mach ruhig weiter.« Jaz reckte beide Daumen in die Luft.
Mary, die sich zu uns umgedreht hatte, schaute zu Stephen zurück. »Äh …«, stammelte sie.
»Fahr doch bitte fort, Mary«, sagte Stephen und bedachte Jaz mit einem tadelnden Blick. »Du hast uns gerade erzählt, wie du dich an Humphreys Todestag fühlst.«
»O nein«, wisperte Jaz und sackte über ihrem Pult zusammen. Humphrey war Marys Papagei. Verstorbener Papagei. Er hatte letztes Jahr das Zeitliche gesegnet und war monatelang das Hauptthema diverser Gespräche bei diesen Sitzungen gewesen.
Wir saßen ein paar Minuten in respektvollem Schweigen da, während Mary fortfuhr. Jaz platzte fast vor Neugier.
»Und wann triffst du dich mit ihm?«
»Weiß nicht«, zischte ich.
»Das heißt, du kennst seinen Namen nicht, du weißt nichts über ihn, und er zieht sich an wie ein viktorianischer Leichenbestatter.« Sie hielt inne. »Also, ich weiß nicht so recht.«
»Wie meinst du das?« Ich hatte das Gefühl, als hätte sie gerade die rosarote Blase in meinem Bauch mit einer Nadel durchstochen.
»Sei einfach vorsichtig. Könnte ein Irrer sein.«
»Okay, aber da gibt es noch etwas, das ich dir erzählen muss.«
»Was?«, raunte sie.
So leise, kurz und bündig, wie ich konnte, erklärte ich ihr das mit Gwendolyn und der Liste. »Ist das nicht schräg?«, flüsterte ich, als ich geendet hatte. »Ich glaube nicht an so Zeug, aber irgendwie ist es doch ein krasser Zufall, oder nicht?«
»Hast du die Liste da?«, fragte sie. Ich nickte und streckte mich unter den Tisch, um das Blatt Papier aus meinem Rucksack zu ziehen.
Jaz strich es mit der Handkante auf ihrem Oberschenkel glatt und las.
Ich zählte die Punkte an meinen Fingern ab. »Eins, er zieht sich gut an. Zwei, er steht auf Bücher. Drei, seine Mutter sammelt Katzen. Und er hat mich zum Lachen gebracht, also ist er auch witzig.«
»Wie war sein Hintern?«
»Hab ich nicht gesehen. Er schien generell ziemlich gut in Form. Aber was, wenn es wie in diesem Tom-Hanks-Film ist?«
Jaz riss den Kopf hoch und runzelte die Stirn. »Welcher?«
»Der, wo er sich was wünscht und es in Erfüllung geht, und als er morgens aufwacht, ist er ein Erwachsener. Was, wenn das hier so was ist?«
»Du denkst, nur weil du eine Liste geschrieben hast, wie der perfekte Mann für dich aussehen soll, ist er plötzlich aufgetaucht?« Jaz sah mich von der Seite an. Es war diese Art Blick, mit dem man erwachsene Menschen bedachte, die einem gerade verkündet hatten, dass sie an Feen glaubten. »Mädchen, du musst echt mal flachgelegt werden.«
»Ja, schon gut, das erzählen mir alle ständig«, erwiderte ich, schnappte mir das Papier und musste an Eugenes Witz über seine Mutter im Altersheim denken. Ich verspürte einen Anflug von schlechter Laune. Ja, okay, ich hatte nicht besonders viel Erfahrung in Sachen Dating, aber es war ja auch nicht so, als wäre Jaz ein Beziehungsprofi. Nach Leon hatte es eine ganze Reihe von Lovern gegeben, und der letzte, von dem sie behauptet hatte, er sei »der Richtige«, entpuppte sich als Ehemann und Vater zweier Kinder in Solihull.
»Sei einfach nur vorsichtig, Süße«, fuhr sie fort, und sofort meldete sich mein schlechtes Gewissen, weil ich so gemein von ihr gedacht hatte. »Hör zu, warum sagst du mir nicht einfach, wo ihr diesen Kaffee trinken geht, und ich komme auch vorbei? Ich könnte doch an einem anderen Tisch sitzen wie ein Bodyguard? Du wirst mich nicht einmal bemerken. Ich werde total inkompatibel sein.«
»Inkognito.«
»Mein ich ja.«
Glücklicherweise rief Stephen in diesem Moment Jaz’ Namen auf und fragte, ob es etwas gäbe, das sie als »geschätztes, langjähriges Mitglied der Gruppe« gerne mit allen teilen wolle, um Peter zu zeigen, wie es bei uns so ablief. Jaz plusterte sich vor Stolz auf, erhob sich und begann zu erzählen, wie sie eines Morgens zum Frühstück tiefgefrorenes Hähnchencurry gegessen und mit einem Mal kapiert hatte, dass sie Hilfe bräuchte. Ich blieb auf meinem kleinen Stuhl sitzen und dachte nach. Sollte ich mir Sorgen machen? Er wirkte auf mich nicht wie ein Psychopath. Aber vielleicht legten Psychopathen es ja auch darauf an, dass man genau das dachte? Ich faltete die Liste wieder ordentlich zusammen, bevor ich mich auf dem Zwergenstuhl zurücklehnte. Jaz machte sich einfach zu große Sorgen. Ich würde mich mit ihm an einem öffentlichen Ort treffen, und alles würde gut werden. Ich musste nur unbedingt daran denken, nicht meine Arbeitsschuhe anzuziehen.
Als ich am nächsten Tag zur Arbeit kam, war der Laden bereits geöffnet. Ich ließ die Schlüssel wieder in meinen Rucksack fallen und schob die Tür auf.
»Hallo?«
Ich erwartete, Norris’ Stimme von unten zu hören, doch keine Antwort. Dann bemerkte ich den Tresen. Normalerweise war er aufgeräumt. Bestellbuch an seinem Ort, die Post-it-Zettel vom Vortag entsorgt, Stifte im Becher, der Papierkram, auf den Norris einen Blick werfen musste, in der dafür vorgesehenen Ablage. Aber das Kassenfach stand offen, lose Blätter lagen auf dem Tresen verstreut und wurden nur durch einen Motorradhelm festgehalten.
Ich sah mich im Rest des Ladens um. Einige Bücher standen nicht mehr an ihrem Platz. Der Tisch mit den Biografien war das reinste Chaos, und ein Stapel gebundener Bücher lag verstreut auf dem Boden. Ich ging zögernd darauf zu und bemerkte einen Kaffeebecher, der umgefallen war und dessen Inhalt dunkle Flecken auf den Dielen hinterlassen hatte. »O mein Gott!«, keuchte ich. Ein Einbruch! Das hier war ein Tatort.
Ich erstarrte, als ich Schritte hinter mir hörte.
»Hallo«, sagte eine Männerstimme.
Ich wirbelte herum und sah einen Fremden über mir emporragen, einen Wischmopp in der einen Hand, einen Eimer in der anderen.
»Sind Sie ein Einbrecher oder eine neue Reinigungskraft?«, fragte ich verwirrt. Der Kerl war ein Riese, und, zu meiner Verteidigung, gekleidet wie jemand, der vor allem nachts aktiv war: schwarzes T-Shirt, das sich über seine breiten Schultern spannte, schwarze Jeans und schwarze Doc-Martens-Stiefel. Er hatte zudem wild gelocktes schwarzes Haar sowie schwarze Tattoos, die sich an beiden Armen hinabschlängelten.
»Tatsächlich keins von beidem«, erwiderte er und rauschte mit seiner Putzausrüstung an mir vorbei in die Belletristikabteilung. »Aber mir ist mein Kaffeebecher runtergefallen, als ich mir den Laden angeschaut habe, also dachte ich, ich wisch es lieber weg, bevor Norris kommt.«
Woher kannte dieser Riese Norris?
»Ich bin übrigens Zach, freut mich, dich kennenzulernen.«
Er stellte den Eimer ab und streckte mir seine Pranke hin, womit er mich zwang, einen Schritt auf ihn zuzumachen und sie zu schütteln. Ich ärgerte mich über seine ungezwungene Art. Was hatte dieser Kerl hier verloren?
»Woher kennst du Norris?«
Er begann damit, den Boden zu putzen, aber er stellte sich so ungeschickt an, dass er mehr Wasser aus dem Eimer auf den Boden beförderte als umgekehrt, während er unkoordiniert herumwischte, nur um dann den Mopp wieder in den Eimer zu tunken, um das Ganze zu wiederholen. Ich konnte es nicht mitansehen.
»Gib mir das«, sagte ich unwirsch und streckte den Arm aus.
»Okay«, meinte er und reichte mir den Mopp. Noch mehr Rumgetropfe auf den Dielen. »Ich mache mir solange einen neuen Kaffee. Auch einen?«
»Nein, danke. Und ich hoffe, du hältst mich jetzt nicht für unhöflich, aber wer bist du überhaupt?«
»Ich bin Zach.«
»Ja, das sagtest du schon. Aber was machst du hier? Es gibt keinen Zach, der hier arbeitet.«
»Norris’ Neffe«, antwortete er. »Hat er nichts gesagt? Ich bin vorbeigekommen, um mit der Webseite zu helfen. Und der ganzen Social-Media-Sache. Ich bin Fotograf, momentan aber auftragslos, und er brauchte Hilfe. Also bin ich hier.« Er breitete schwungvoll die Arme aus, wie um seine körperliche Präsenz noch zu unterstreichen.
»Na gut«, sagte ich, während ich mich vorbeugte und versuchte, das Wasser von den Dielen zurück in den Eimer zu befördern. »Hattest du Probleme mit der Kasse?« Ich nickte zum Tresen.
»Ja, entschuldige«, sagte er. »Ich habe nur Norris’ Passwort gesucht.«
»Passwort?«
»Für seinen Computer unten.«
»Oh, das ist Zettel123.«
»Zettel?«
Ich sah vom Mopp auf »Ja, so heißt der Esel aus Ein Sommernachtstraum – mein Kollege fand das witzig.«
»Ihr klingt echt wie ein wilder Haufen. Ich bin in seinem Büro, wenn du mich brauchst.«
Bevor ich etwas erwidern konnte, war er auch schon die Treppe runtergepoltert und ließ mich da stehen, den Mopp schwingend mit der empörten Wut einer Frau, die gerade ein fremdes Höschen im gemeinsamen Ehebett entdeckt hat. Was fiel ihm ein, sich hier so aufzuspielen! Und wie typisch von Norris, dass er ihn mit keinem Wort erwähnt hatte. Unsere Webseite zu überarbeiten und ein Social-Media-Profil zu erstellen war meine Idee gewesen. Wenn dieser tätowierte Neffe nicht mal einen Wischmopp bedienen konnte, wie sollte er dann bitte unsere finanzielle Situation verbessern?
Eugene kam nur Minuten später durch die Tür spaziert. »Guten Morgen, holde Kollegin«, grüßte er und vollführte eine schwungvolle Bewegung mit seinem Arm. Dann hielt er abrupt inne und kräuselte die Stirn. »Was tust du da?«
Ich wrang den Mopp ein letztes Mal aus. »Unserem neuen Kollegen hinterherwischen.«
»Was für ein neuer Kollege?«
»Norris’ Neffe. Zach.«
»Ich wusste gar nicht, dass er einen Neffen hat«, sagte Eugene und kreiste dabei mit dem Arm um seinen Hals, um sich aus seinem Seidenschal zu schälen. Dann schnipste er mit den Fingern. »Vielleicht ist er ja mit Shirley verwandt?«, flüsterte er.
»Keine Ahnung. Hab ihn nicht gefragt.«
»Wo ist er?«
»Unten.«
»Dann geh ich wohl mal und sag Hallo.«
Ich folgte ihm die Treppe runter, um Mopp und Eimer wieder im Schrank zu verstauen. Zach saß über Norris’ Computer gebeugt in dem beengten Büro und brummte irgendwas in die Tastatur.
»Zach, das ist Eugene, Eugene, das ist Zach«, sagte ich und blieb kurz in der Bürotür stehen, bevor ich weiter zu dem fensterlosen Kellerraum ging, der uns als Lager, aber auch als Pausenraum für das Personal diente. Auf der einen Seite stapelten sich in Kartons und Regalen druckfrische Bücher, die darauf warteten, an die Kunden verteilt zu werden oder verkaufte Exemplare im Verkaufsraum oben zu ersetzen. Auf der anderen Seite stand ein klappriger Holztisch, der von zahllosen Kaffeeflecken übersät war. Das Klo und der Putzschrank befanden sich durch eine Tür hindurch hinter dem Tisch.
»Wirst du Vollzeit bei uns arbeiten?«, hörte ich Eugene Zach fragen, als ich das Schmutzwasser ins Klo kippte.
»Um ehrlich zu sein, keine Ahnung, Kumpel«, erwiderte Zach. »Du kennst nicht zufällig das Passwort für dieses Ding? Das Mädel oben meinte, es hätte irgendwas mit einem Esel zu tun?«
Ich knallte die Schranktür hinter dem Mopp und dem Eimer zu, während Eugene ihm weiterhalf. »Ja, es lautet Zettel123, aber mit einem großen Zett.«
»Ah, danke, Kumpel, du bist genial.«
Eugene, der Verräter, lachte verzückt. »Kein Ding. Brauchst du sonst noch was?«
»Nein, keine Umstände. Ich warte, bis mein Onkel da ist.«
Auf dem Weg zurück zum Tresen blieb ich wieder an der Bürotür stehen. »Ich stelle mich mal an die Kasse. Eugene, kannst du dich um die Lieferungen kümmern?« Dann schaute ich zu Zach. »Ist der Motorradhelm auf der Kasse deiner?«
»Ah, da habe ich ihn also liegen lassen. Ja. Ich komme gleich und hole ihn.«
»Du fährst Motorrad? Das ist ja interessant«, bemerkte Eugene tief beeindruckt.
O Gott, dachte ich, als ich die Treppe hochstieg, noch mehr Testosteron. Genau das, was dem Laden gefehlt hat.
Norris traf eine Stunde später ein, als Eugene mir gerade von seinem letzten Vorsprechen für eine Cross-Dressing-Rolle als die Amme in Romeo und Julia erzählte.
Eugene öffnete ihm die Tür. »Wir haben Zach kennengelernt.«
Norris sah uns verständnislos an, als hätte er nie von einem Zach gehört.
»Dein Neffe«, führte ich aus.
»Oh, der«, erwiderte Norris, während er seinen Dufflecoat aufknöpfte. »Ja, Zachary. Habe ich ihn nicht erwähnt?«
»Nein«, erwiderte ich kühl.
»Er kann sehr gut mit Computern und diesem ganzen Kram, also habe ich ihn gefragt, ob er hier aushelfen würde. Wir können natürlich alle zusammen daran arbeiten, aber Zach ist Fotograf und hat anscheinend schon ein paar Ideen, also dachte ich, warum nicht?«
Ich weigerte mich stur, sein Lächeln zu erwidern, und reichte ihm bloß ein paar Briefumschläge. »Er ist unten damit beschäftigt, deinen Computer zu hacken. Bitte schön, die Post.«
»Danke, alles in Ordnung hier oben?«
»Absolut«, sagte Eugene rasch.
»Großartig. Ruft, wenn ihr mich braucht.«
Norris zog nach unten ab, und ich stieß einen Laut der Entrüstung aus.
»Ich kapiere nicht, was so schlimm an ihm ist«, meinte Eugene, der nach seiner Ausgabe von Romeo und Julia griff. »Er scheint doch nett zu sein.«
»Das ist er bestimmt. Es ist nur so, dass ich Norris seit Monaten mit dieser Idee in den Ohren liege. Es ist schon ärgerlich, wenn jemand anderes hereingeschneit kommt und das alles an sich reißt.«
»Okay, aber weißt du, was meiner Meinung nach helfen wird?«
»Eine Persönlichkeitstransplantation?«
»Vielleicht auch das. Aber mein Vorschlag ist unmittelbarer.«
»Was?«
»Weiterproben. Wir kommen gleich zu der Stelle, wo Shakespeare einen unzüchtigen Pimmelwitz macht. Na los. Das wird dich aufmuntern.«
»Dann fang mal an.«
Wir sagten den ganzen Vormittag über Text auf und unterbrachen das Proben nur, um hin und wieder einen Kunden zu bedienen, bevor wir erneut in unsere Rollen schlüpften. Dann übernahm ich die erste Mittagspause und ging mit meiner Tupperdose nach unten.
»Florence?«, rief Norris, als ich gerade unbemerkt an seinem Büro vorbei zum Lagerraum huschen wollte.
Ich blieb stehen, schloss kurz die Augen und machte zwei Schritte rückwärts.
Ich versuchte, Norris’ Büro so gut es ging zu meiden. Es war nahezu klaustrophobisch eng und wirklich nie aufgeräumt: Staubige Bücher und vergilbte Manuskripte stapelten sich auf den Regalen; Ketchuptüten und kleine Salzpäckchen lagen auf dem Schreibtisch verstreut wie Konfetti; Kulis und benutzte Gabeln lugten aus einer alten Tasse. Eigentlich gehörte da zwecks Arbeitsschutz ein Flatterband über die Tür getackert: Betreten auf eigene Gefahr.
Zach, so bemerkte ich, hatte sich an einem Ende des Schreibtischs einen kleinen Fleck für sich und seinen Laptop freigeschaufelt.
»Ja?«
Norris räusperte sich. »Ich habe Zachary gesagt, dass er später Fotos vom Verkaufsraum machen kann.«
»Content für die Webseite und Instagram«, fügte Zach hinzu und löste den Blick von seinem Laptopbildschirm.
»Oh, ich sehe schon, plötzlich haben wir doch Instagram, ja?« Ich hob betont meine Augenbrauen in Norris’ Richtung.
Er wedelte mit der Hand, als würde ich mich hysterisch aufführen. »Ja, ja, schon gut, Zach hat es mir erklärt, und es scheint eine vernünftige Idee zu sein. Könnten du und Eugene oben also etwas aufräumen?«
»Nach dem Mittagessen reicht völlig«, sagte Zach, dessen Blick auf meine Tupperdose fiel.
»Wie überaus gütig«, murmelte ich.
»Was?«
»Nichts, nichts. Sonst noch was? Kann ich noch ein Tässchen Tee servieren? Kaffee? Eine Fußmassage?«
»Ein Kaffee wäre toll, falls du gerade einen machst«, erwiderte Zach.
»Mach ich nicht, aber der Wasserkocher steht in der Küche.« Ich bedachte ihn mit meinem besten aufgesetzten Lächeln, bevor ich mich umdrehte und Richtung Lagerraum davonging.
Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht. Mir war gar nicht klar, dass ich jeden Bissen meines Sandwiches gezählt hatte, bis ich damit fertig war. Diese Arroganz! Was wusste ein Fotograf schon darüber, wie man eine Buchhandlung führte? Ich war jetzt seit fast zehn Jahren hier, und plötzlich kommandierte mich dieser aufgeblasene Neffe herum. Ich versuchte, mein Buch zu lesen, konnte mich aber nicht konzentrieren, also ging ich wieder nach oben, sagte Eugene, dass er in die Mittagspause könne, und ordnete die Bücherreihen auf den Tischen in stummer Wut.
Zach tauchte eine Stunde später oben auf, als ich gerade hinter der Kasse stand und mit Eugene die gestrige Folge von MasterChef diskutierte.
»Stört es euch, wenn ich die hier abstelle?« Er lud seinen Laptop und die Kamera auf dem Tresen ab, schlenderte durch den Laden, ging dabei alle paar Minuten in die Hocke und kniff die Augen über den Bodendielen zusammen, als wäre er auf einer Safari und würde versuchen, in der Ferne einen Löwen zu erspähen.
»Das scheint ja alles äußerst professionell«, sagte Eugene bewundernd, woraufhin ich ihm einen Tritt gegen den Knöchel verpasste.
»Aua! Wofür war das denn?«, grummelte er und bückte sich, um sein Bein zu reiben. Was für eine Heulsuse! So fest war es gar nicht gewesen.
»Ich versuche, die besten Winkel auszuloten«, erklärte Zach, kam wieder zu uns rüber und beugte sich über den Tresen, um zu Eugene runterzuschauen. »Alles okay bei dir?«
»Ihm geht’s gut«, sagte ich. »Und würdest du bitte den Kaffee nicht da stehen lassen, das macht Flecken auf dem Holz.«
Zach nahm seinen Becher an sich und grinste mich an. »Verzeihung, Madam. Wird nicht wieder vorkommen.«
»Gib ihn mir rüber«, sagte Eugene. »Ich gehe nach unten und mache Tee. Sonst noch jemand einen?«
»Ich kümmere mich um den Tee«, sagte ich und fing den Becher ab, bevor Eugene danach greifen konnte. Plötzlich wollte ich unbedingt in einem anderen Raum sein.
»Danke, und ich hätte gerne noch einen Kaffee«, sagte Zach. »Wenn es keine Mühe macht?«
»Macht es nicht. Milch? Zucker?«
»Nur Milch, bitte.«
»So schon süß genug«, scherzte Eugene, während ich die Treppe ansteuerte, woraufhin ich ihm am liebsten noch einen Tritt verpasst hätte.
Unten schaltete ich den Wasserkocher ein und beschloss, mir bei der Teezubereitung mehr Zeit zu lassen als gewöhnlich. Ich könnte das Prozedere auf zwanzig Minuten ausdehnen, wenn ich mir richtig Mühe gab, aber meine Überlegungen zur Teezubereitung verpufften, als ich mein Handy in der Tasche vibrieren spürte, es hervorzog und eine Textnachricht von einer fremden Nummer sah.
Hallo! Hier ist Rory, habe gestern bei dir die Bücher gekauft. Hättest du Sonntagnachmittag Zeit für einen kleinen Spaziergang durch die Royal Academy und einen Kaffee?
Ich starrte das Display an. Rory erschien mir der passende Name für ihn. Zweifelsohne vornehm, aber das war in Ordnung, solange er nicht einer dieser Männer war, die ständig darüber redeten, auf welcher Privatschule sie gewesen waren und dass sie einen Rugbyball heiraten wollten. Ich ließ das Handy sinken und hielt die Luft an, während ich den Kühlschrank öffnete (es roch darin immer, als wäre eine sehr alte Maus verendet) und mir überlegte, was ich antworten könnte. Sollte ich noch ein bisschen warten? Ich konnte nicht. Ich war zu aufgeregt.
Das wäre schön!, tippte ich. War ein Ausrufezeichen zu unreif? Aber ohne Ausrufezeichen sahen die Worte zu streng aus, so als würde ich meinem Großvater schreiben. Das wäre schön! Gib mir Bescheid, um wie viel Uhr es bei dir passt, beendete ich und fügte ein F sowie ein kleines x hinzu, bevor ich auf Senden drückte.
Ich hatte oft Pärchen in Restaurants oder beim Spazierengehen im Park gesehen und mitbekommen, wie sie miteinander lachten. Wie waren sie bloß bis an diesen Punkt gelangt? Was war ihr Geheimnis? Vielleicht war nun ich an der Reihe? Vielleicht würde Rory am Sonntag meine Hand halten, und andere Leute würden uns ansehen und denken: »Was für ein hübsches Paar.« Dann ermahnte ich mich streng, mich wieder zu beruhigen. Genau das war doch in der Vergangenheit passiert: Ich hatte mich zu übereifrig für jemanden begeistert, mich nach dem ersten Drink gefragt, wie viele Kinder wir wohl zusammen haben würden, und dann war derjenige auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Aber nicht dieses Mal. Nein, nein, nein. Dieses Mal würde ich es richtig anstellen.
Bevor ich mit Rory in der Royal Academy Händchen halten konnte, gab es noch eine Hürde zu meistern: Brautkleidshopping mit Mia, Ruby und Patricia am Samstagnachmittag. Mia hatte vorab eine Tabelle erstellt und sie uns allen gemailt, damit wir »vorbereitet« wären. Es gab Diktatoren, die weniger Mühe in einen Militärputsch investiert hatten als Mia in diese Tabelle. Sie war farblich codiert, mit mehreren Spalten für jedes Kleid und extra Platz für eine abschließende Bewertung von eins bis zehn. Von welchem Designer war es? Hatte es Träger? A-Linie? Hatte es eine Schleppe? Was für eine Art von Seide war es? Von wo kam die Spitze? Meine Lieblingskategorie in dieser Tabelle war: Hat ein Promi so ein Kleid getragen? Ich war mir nicht sicher, ob Mia das gut oder schlecht fand, tippte aber stark, dass es auf den Promi ankam. Meghan Markle rangierte auf der Punkteskala vermutlich deutlich höher als Kerry Katona.
Mia, Ruby und ich nahmen gemeinsam die U-Bahn von Kennington aus. Mia und Ruby diskutierten über Kleider, während ich mir den Kopf zerbrach, was ich für mein morgiges Date anziehen sollte. Ich hatte meinen Schwestern nichts davon erzählt. Die eine Hälfte von mir wollte es in die Welt hinausposaunen. Die andere und deutlich dominantere Hälfte jedoch wusste, dass es endlose Diskussionen nach sich ziehen würde, wenn ich sie einweihte.
Wir spazierten die Bond Street entlang zu der Brautmodenboutique. Als Mia die Tür öffnete, hörte ich bereits Patricia, die wild auf die Dame am Empfang einredete.
»Ich will auf keinen Fall, dass zu viel Vorbau zu sehen ist«, erklärte sie ihr. »Ich kann diese modernen Bräute nicht ertragen, deren Brüste noch vor ihnen vor den Altar treten.«
»Morgen, Pat«, grüßte Ruby laut. Ihre Mutter so zu nennen war ein kleiner Dauerwitz zwischen ihr und Mia.
Patricia drehte sich um. »Ruby, bitte. Du weißt, dass ich das hasse. Und Mia, ich habe gerade nur gesagt, dass wir etwas Züchtiges wollen. Nicht zu viel …« Sie wedelte mit ihrer Hand vor der eigenen Brust herum. »… Dekolleté.«
»Mum, es ist meine Hochzeit. Ich könnte auch Seidenshorts tragen, wenn ich wollte«, erwiderte sie, während Patricia uns nacheinander Küsschen gab. Ihre Lippen hinterließen einen feuchten Fleck auf meiner Wange.
»Du könntest schon, aber dein Vater und ich würden womöglich nicht dafür zahlen.«
Mia zog ihren Laptop aus der Tasche und wedelte damit vor ihrer Mutter herum. »Ich habe ein Moodboard erstellt.«
Ich konnte bereits den Anflug eines Kopfschmerzes spüren von den ganzen Duftkerzen, die in der Boutique brannten. Ich hob eine hoch und spähte auf das Etikett. Meringue-Aroma. Kerzen wurden auch immer alberner.
»Das ist Hilda«, verkündete die Empfangsdame, als eine Frau mittleren Alters mit blondem, zu einem strengen Ballerina-Dutt hochgestecktem Haar vor uns auftauchte. »Sie zeigt Ihnen den Weg zur Umkleide.«
Hilda führte uns in einen großen, gut ausgeleuchteten Raum mit einer Kabine darin. Cremefarbene Wände, cremefarbener Teppich, cremefarbenes Sofa. Noch mehr Meringue-Kerzen. Eine Auswahl von Brautmagazinen war fächerförmig auf einem Beistelltisch angeordnet.
Ich ließ mich auf das eine Ende des Sofas plumpsen und griff nach einer der Zeitschriften, während Mia ihren Laptop aufklappte.
»Okay, also ich denke in diese Richtung hier«, erklärte sie. »Grace Kelly, aber mit einem zeitgemäßen Touch. Weiter Rock, aber strukturiertes Mieder.« Sie drehte den Bildschirm zu Patricia und Hilda herum.
»O ja«, sagte Hilda und lächelte Mia beifällig zu, »ein Klassiker.«
Ich widmete mich wieder der Zeitschrift. Auf der Vorderseite erstrahlte eine Braut in trägerlosem Kleid, die einen ganzen Haufen weißer Rosen in den Armen hielt. Heiß in Weiß!, lautete die Überschrift neben ihr. Darunter eine weitere Überschrift: Torten-Manie! Die angesagtesten Geschmäcker dieses Sommers. Wie bitte konnte ein Tortengeschmack angesagt sein?
Was seine Mutter WIRKLICH über Sie denkt, brüllte mir die nächste Überschrift entgegen.
Unser Küchentisch bog sich seit zwei Wochen förmlich unter Zeitschriftenbergen dieser Art, aus denen Mias zahllose neonfarbene Post-it-Kleber herausragten. Vierzehn Tage. Mehr hatte es nicht gebraucht, um sie von einer halbwegs normalen Frau in eine Brautzilla zu verwandeln, die nicht in der Lage war, ein vernünftiges Gespräch zu führen, außer es handelte sich um die Papierdicke von Einladungskarten.
Sie betrat die Kabine, machte sich aber nicht die Mühe, den cremefarbenen Vorhang zuzuziehen, als sie sich auszog. Für jemanden, der generell eher spießig veranlagt war, hatte sie eine überraschend entspannte Haltung zu ihrer eigenen Nacktheit. Ich hätte lieber Spinnen verspeist, als mich in BH und Tanga vor meiner Familie hinzustellen. Dabei kam mir der Gedanke, ob ich für meine Verabredung morgen vielleicht doch einen von Mias Spitzentangas aus den Untiefen meiner Schublade kramen sollte. Andererseits spielte Unterwäsche bei einem Spaziergang durch ein Kunstmuseum wohl eher eine untergeordnete Rolle.
Während Hilda meiner Schwester in einen Wust von Stoff hineinhalf, der mehr nach Markise als nach Kleid aussah, schweifte Patricias Aufmerksamkeit zu mir ab.
»Florence, mein Schatz, wie war denn deine Sitzung bei Gwendolyn? Hat es dir geholfen?«
Ich hielt den Atem an, während ich mit mir rang, wie viel ich preisgeben sollte. »Es war nett«, erwiderte ich vorsichtig.
»Verdammt, die Liebes-Coachin!«, quietschte Ruby und ließ das Handy in ihren Schoß fallen. »Entschuldige, Flo, ich habe ganz vergessen, danach zu fragen.«
»Was hat sie denn gesagt?«, ließ meine Stiefmutter nicht locker.
»Schon mal was von ärztlicher Schweigepflicht gehört?«
»Ach, komm schon, Schatz, das sind doch nur wir. Und Hilda. Und wir werden es niemandem weitererzählen, stimmt’s?«
Hilda, die nicht sicher schien, bei was sie da zustimmte, schüttelte vage den Kopf in Patricias Richtung.
»Sie hat mich eine Liste schreiben lassen«, sagte ich resigniert.
»Was für eine Liste?«, fragte Mia aus der Kabine.
Ich ließ den Kopf gegen die Lehne sinken, die Augen geschlossen. »Eine Liste all der Dinge, die ich bei einem Mann suche. Dass er groß ist und über seine natürliche Haarpracht verfügt und so Zeug.«
»Und was stand auf deiner Liste?«, fragte Patricia.
»Ich habe im Internet was darüber gelesen«, meldete sich nun auch Hilda. »Das ist so eine Art … Wunschliste, ja?«
»Herrjemine«, murmelte ich und öffnete die Augen. »Ja, es ist wie eine Wunschliste. Du schreibst dir eine Reihe von Merkmalen auf. In meiner stand zum Beispiel, dass er gerne Bücher lesen und abenteuerlustig sein sollte, einen interessanten Job hat und, na ja, Katzen mag. Und dann schickst du sie ans Universum, und angeblich ist es so, dass das Universum dir den Typen liefert.«
»Klingt abgefahren«, kam es von Mia.
»So was von«, sagte Ruby. »Wo hast du diese Frau noch mal aufgetrieben, Mum?«
»Im Posh!-Magazin. Sie ist sehr angesehen«, sagte Patricia. »Wann ist deine nächste Sitzung, Florence? Ich glaube, du musst das Ganze ernster nehmen. Was bitte haben denn Katzen damit zu tun?«
Ich legte bedächtig die Hände auf die Knie, um mir selbst Kraft zu spenden. »Leider schon in zwei Wochen. Du hast gesagt, ich müsste nur zu einer Sitzung, und dann erfahre ich, dass du gleich ein ganzes Paket gebucht hast. Ich trete lieber in ein Kloster ein, als da noch mal hinzugehen.«
»Wenn das so weitergeht, wirst du das auch tun müssen«, gab Patricia trocken zurück.
»Tja, nur dass ich morgen eine Verabredung habe.« Ich hatte nicht vorgehabt, damit rauszurücken, aber ich wollte sie zum Schweigen bringen.
Wie nicht anders zu erwarten, jauchzte sie als Erste los. »Schätzchen! Wie aufregend!«
»Mit wem?«, wollte Mia wissen.
»Also hat es funktioniert?«, schob Ruby hinterher.
Ich schüttelte den Kopf. »Das hat nichts mit der Liste zu tun. Der Typ kam in den Laden, und wir haben uns ein bisschen unterhalten, und dann hat er mich gefragt, ob wir einen Kaffee trinken gehen wollen. Also treffe ich mich morgen mit ihm.«
»Um wie viel Uhr? Darf ich dich schminken?«, fragte Mia.
»Nachmittags. Und ja, darfst du, aber bitte so, dass ich nicht völlig gestört aussehe. Nichts Krasses. Du weißt, dass ich nie viel Make-up trage.«
»Oh, Flo, jetzt hör aber auf. Ein bisschen Lidschatten hat noch niemanden umgebracht.«
»Aber wer ist er denn, Schätzchen?«, bohrte Patricia weiter. »Weißt du etwas über ihn? Ist er auch nicht gefährlich?«
»Ich kann euch nicht mehr sagen«, erwiderte ich mit einem Achselzucken. »Nur, dass er Rory heißt und Bücher mag.«
»Rory, was für ein hervorragender Name!«, schwärmte Patricia.
»Denk ja dran, dass wir morgen dafür deinen Kleiderschrank zusammen durchgehen«, sagte Mia streng, bevor sie sich selbst im Spiegel betrachtete. Das Kleid hatte keine Ärmel, dafür einen imposanten Rock, der sich bis zum Boden bauschte und über und über mit kleinen Kristallen bestückt war. »O Gott, nein, nicht das hier. Ich sehe ja aus, als würde ich auf meinen Abschlussball gehen.«