Kapitel 9

Nach meinem misslungenen Abendessen ging ich mit meiner Penguin-Ausgabe von Roger Ackroyd und sein Mörder früh zu Bett, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Ich las ein ums andere Mal die erste Seite, und meine Gedanken sprangen zwischen meiner Frau und der Frage hin und her, wer den Kommentar zu meinem Blogpost geschrieben hatte. Ich füllte meine Lunge mit der abgestandenen Luft meines Appartements und atmete langsam aus. Warum nannte er sich Dr. Sheppard? Weil er der Mörder war, oder? Daraus folgte jedoch nicht, dass ich versuchen musste, das Buch zu lesen. Ich legte es auf den Nachttisch, wo ich einen Stapel Gedichtsammlungen aufbewahrte. Gedichte sind das, was ich jetzt abends vor dem Einschlafen lese. Auch wenn ich gerade bei einer literarischen Biografie bin (selbst wenn ich kaum mehr Krimis lese, lese ich noch Biografien von Krimiautoren) oder mich mit europäischer Geschichte beschäftige, sind die letzten Worte, die ich vor dem Einschlafen lese, die Worte von Dichtern. Alle Kunstwerke erscheinen mir im Grunde wie Hilferufe, doch insbesondere trifft dies auf Poesie zu. Wenn sie gut ist – und es gibt nach meiner Überzeugung nur sehr wenige gute Gedichte –, dann ist es, als würde einem ein vor langer Zeit verstorbener Fremder ins Ohr flüstern und so versuchen, sich Gehör zu verschaffen.

Ich stand auf und ging an mein Bücherregal, um einen Sammelband hervorzuholen, der eines meiner Lieblingsgedichte enthielt: »Winterdämmerung« von Sir John Squire. Ich könnte es wahrscheinlich auswendig aufsagen, aber ich wollte die Worte sehen. Wenn ich ein Gedicht entdeckte, das ich liebte, las ich es wieder und wieder. Ein ganzes Jahr lang muss ich Sylvia Plaths »Schwarze Krähe im Regen« jeden Abend vor dem Einschlafen gelesen haben. Zuletzt las ich Peter Porters »Ein Begräbnis«, auch wenn ich nicht einmal die Hälfte davon verstand. Ich bin kein wirklicher Kenner von Gedichten, aber ich reagiere auf sie.

Zurück im Bett las ich das Gedicht von Squire, dann schloss ich die Augen und ließ die letzten Worte wie ein Mantra immer wieder über mich hinweggaloppieren: »… und das Schlurfen meiner Füße auf der wüsten Erde dieses ausgezehrten Landes.« In meiner Vorstellung stand das Land für mein Leben, ausgezehrt durch eine belastete Ehe. Ich dachte noch ein wenig an meine Frau und an die Entscheidungen, die ich getroffen hatte. Als Patrick Yates in ihr Leben trat – und ich erinnere mich sogar an das Datum, denn es war der 31. März, mein Geburtstag –, wusste ich sofort, dass etwas Einschneidendes passiert war. Claire hatte an diesem Tag die Nachmittagsschicht in der Bar übernommen, damit sie früh Schluss machen und mich zum Geburtstagsessen in den East Coast Grill ausführen konnte.

»Wir haben endlich einen neuen Barkeeper eingestellt«, erzählte sie.

»Aha.«

»Patrick. Ich habe heute angefangen, ihn einzuarbeiten. Er scheint in Ordnung zu sein.«

An der Art, wie sie seinen Namen aussprach, mit einer Kombination aus Zögerlichkeit und Kühnheit, merkte ich sofort, dass er Eindruck auf sie gemacht hatte. Ich fühlte mich, als wäre ein kaum wahrnehmbarer elektrischer Strom durch meinen Körper geflossen.

»Hat er Erfahrung?«, fragte ich und ließ mir eine Auster in die Kehle gleiten.

»Er hat ein Jahr lang in einem Pub in Australien gearbeitet, das ist schon mal etwas. Ich musste an dich denken, weil er eine Tätowierung von Edgar Allan Poe auf der rechten Schulter hat.«

Ich war kein eifersüchtiger Ehemann, aber mir war auch bewusst, dass Claire, anders als ich, nicht damit zufrieden sein würde, mit mir allein durchs Leben zu gehen. Sie war im College mit vielen Männern zusammen gewesen, und sie hatte mehr als einmal eingeräumt, dass es Phasen gab, in denen sie sich bei jedem Mann, den sie kennenlernte oder der ihr auf der Straße begegnete, fragte, ob er sie haben wollte, und sich dann den Kopf zerbrach, welche Fantasien dieser Mann in Bezug auf sie hatte. Ich hatte mir diese Geständnisse angehört und mir gesagt, es sei besser, wenn sie es mir erzählte – besser als die Alternative. Besser als Geheimnisse.

Sie hatte eine Therapeutin, auf die sie als Dr. Martha Bezug nahm und die sie alle zwei Wochen aufsuchte, aber nach ihren Sitzungen war sie immer gedrückter Stimmung, manchmal tagelang, und ich fragte mich, ob es das wert war.

Ein Teil von mir hatte immer gewusst, dass mich Claire eines Tages betrügen würde – vielleicht nicht betrügen, aber dass sie sich in jemand anderen verlieben würde. Und ich hatte es akzeptiert. Als ich von Patrick hörte, wusste ich, dass dieser Tag gekommen war. Es machte mir Angst, aber ich hatte bereits entschieden, was ich zu tun hatte. Claire war meine Frau. Sie würde immer meine Frau bleiben, und ich würde zu ihr halten, egal, was kam. Es war ein tröstliches Gefühl zu wissen, dass ich langfristig gebunden war, egal, was kam.

Sie hatte tatsächlich eine Affäre mit Patrick, zumindest was ihre Gefühle anging, wenngleich ich vermute, dass es bei einigen Gelegenheiten ins Körperliche kippte. Ich wartete geduldig wie die Frau eines Kapitäns und hoffte, sie würde den Sturm überleben. Manchmal denke ich, ich hätte vielleicht mehr um sie kämpfen, ihr drohen sollen, sie zu verlassen, mit ihr schimpfen sollen, wenn sie zwei Stunden nach Kneipenschluss mit einer Ginfahne heimkam und nach seinen American Spirits roch. Aber ich tat es nicht. Ich hatte es anders entschieden. Ich wartete darauf, dass sie zu mir zurückkam, und eines heißen Abends im August tat sie es dann auch. Ich war gerade vom Buchladen nach Hause gekommen, und sie saß auf unserem Sofa, den Kopf gesenkt und mit Tränen in den Augen.

»Ich war so ein Arschloch«, erklärte sie.

»Ein bisschen.«

»Wirst du mir jemals verzeihen?«

»Ich werde dir immer verzeihen.«

Später am Abend fragte sie mich, ob ich Einzelheiten hören wolle, und ich sagte, nur wenn es ihr guttue, es laut auszusprechen.

»Großer Gott, nein«, rief sie. »Für mich ist es erledigt.«

Später erfuhr ich – nicht von Claire –, dass Patrick Yates verschwunden war, nachdem er an einem Samstagabend die Kasse geplündert hatte, und dass mindestens drei andere weibliche Barkeeper im Klub wegen seines Abgangs am Boden zerstört waren.

Nach diesem Vorfall wurde es besser zwischen Claire und mir, allerdings verschlechterte sich bei ihr sonst alles. Sie verließ den Klub und brach das College ab. Eine Weile arbeitete sie gelegentlich eine Schicht im Old Devils, aber dann bekam sie einen neuen Job als Barfrau in einem gehobenen Restaurant in der Back Bay. Sie verdiente gut, aber der Mangel an Kreativität in ihrem Leben frustrierte sie. »Ich will nicht für den Rest meines Lebens hinter einer Theke stehen. Ich will Filme machen, aber dazu muss ich erst studieren.«

»Du musst nicht studieren«, widersprach ich. »Du könntest einfach einen Film machen.«

Und genau das tat sie. Abends arbeitete sie ihre Schichten im Restaurant, und tagsüber drehte sie kurze Dokumentarfilme. Einen über Tattoo-Künstler, einen über die Polyamorie-Community am Davis Square, sogar einen über den Old Devils Bookstore. Sie postete sie auf YouTube, und dort fand Eric Atwell sie. Atwell betrieb in einem renovierten Bauernhof in Southwell außerhalb von Boston einen »Innovations-Inkubator«, wie er es nannte. Er bot jungen Kreativen kostenlose Arbeitsräume (und gelegentlich Unterkunft) für einen Anteil an den Profiten, die sie mit ihren Produkten irgendwann erwirtschaften würden. Er nahm Kontakt mit Claire auf, sagte, ihre Tattoo-Dokumentation habe ihm gefallen, und fragte, ob sie ein Werbevideo für seinen Inkubator machen wolle. Anders als bei Patrick Yates hatte ich kein schlechtes Gefühl, als Claire mir von ihm erzählte. Sie behauptete, er sei ein Klischee, ein Fünfzigjähriger, der sich wie dreißig benahm, eindeutig jemand, der sich gern mit jungen Leuten umgab, vorzugsweise mit Schmeichlern.

»Klingt nach einem Arschloch«, erwiderte ich.

»Ich weiß nicht. Mehr wie ein Hochstapler. Ich glaube, er hofft einfach wirklich, über das nächste große Ding zu stolpern und das schnelle Geld zu machen.«

Sie verbrachte ein Wochenende auf dem Bauernhof – Atwells Firma hieß Black Barn Enterprises –, und als sie zurückkam, spürte ich, dass sich etwas verändert hatte. Sie war fahrig, ein wenig gereizt, aber auch irgendwie liebevoller zu mir. Einige Tage nach dem Wochenende weckte mich Claire mitten in der Nacht und fragte: »Warum liebst du mich?«

»Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Ich tue es einfach.«

»Du musst doch Gründe haben.«

»Wenn ich Gründe hätte, dich zu lieben, würde es auch Gründe geben, dich nicht zu lieben.«

»Was soll das heißen?«

»Ich weiß nicht. Ich bin müde.«

»Nein, sag es mir. Ich bin neugierig.«

»Also gut. Wenn ich dich lieben würde, weil du schön bist, dann würde das bedeuten, dass ich dich nicht mehr lieben würde, wenn dein Gesicht zum Beispiel durch einen Unfall entstellt würde …«

»Oder wenn ich einfach alt werde.«

»Richtig, oder wenn du alt wirst. Und wenn ich dich lieben würde, weil du ein guter Mensch bist, hieße es, ich würde aufhören, dich zu lieben, wenn du etwas Schlechtes tätest. Doch das wird nicht passieren.«

»Du bist viel zu gut für mich«, sagte sie, lachte aber.

»Was liebst du denn an mir?«, fragte ich sie zurück.

»Dein jugendliches, gutes Aussehen«, erklärte sie und lachte wieder. »Tatsächlich liebe ich dich, weil du eine alte Seele in einem jungen Mann bist.«

»Und eines Tages werde ich eine alte Seele in einem alten Mann sein.«

»Ich kann es gar nicht erwarten.«

Da ich hauptsächlich tagsüber arbeitete und sie eher Nachtschichten im Restaurant übernahm, brauchte ich eine Weile, bis ich dahinterkam, dass sie ständig nach Southwell hinausfuhr. Ich fing an, den Tachostand ihres Subaru zu überwachen. Mir war nicht wohl dabei, ihr so nachzuspionieren, aber mein Verdacht erwies sich als berechtigt. Es war klar, dass sie zwei-, dreimal die Woche nach Southwell fuhr. Ich nahm an, dass sie eine Affäre mit Atwell hatte oder vielleicht mit einem seiner Mieter. Es kam mir zumindest in diesen ersten Wochen nicht in den Sinn, sie könnte einen anderen Grund für ihre Besuche bei Black Barn Enterprises haben. Das änderte sich erst, als mir auffiel, wie ihre üblicherweise hautengen Jeans an ihr zu schlottern begannen. Ich fand ihr Kokain, dazu eine kleine Tablettenschachtel mit einer Auswahl an Pillen in einem Fach der Schmuckschatulle, die sie von ihrer Großmutter geerbt hatte.

Als ich sie daraufhin zur Rede stellte, erzählte sie mir, an diesem ersten Wochenende bei Black Barn habe Atwell eine Dinner Party mit einer Unmenge fantastischen Weins gegeben. Als sie gesagt hatte, es sei Zeit für sie zum Schlafengehen, hatte er sie zu einer kleinen Menge Kokain überredet, nur damit die Party weiterging. Nachdem sie am nächsten Tag die Aufnahmen für ihren Film abgeschlossen hatte, hatte er sich mit einer Flasche des Sancerre bedankt, den sie am Abend zuvor getrunken hatten und mit einem halben Gramm Kokain. Er hatte Claire außerdem erklärt, er habe ein System für seinen Drogenkonsum ersonnen, bei dem er nicht abhängig wurde, weil er ihn zeitlich in der richtigen Weise streckte. Er redete ihr ein, alles sei in Ordnung, solange man seinem wissenschaftlichen Zeitplan folgte.

Hätte ich von Anfang an gewusst, dass es bei Claires Ausflügen nach Southwell um Drogen und nicht um Sex ging, hätte ich vielleicht früher einzugreifen versucht. So aber war Claire bereits wieder in hohem Maß süchtig, als ich davon erfuhr. Ich beschloss zu tun, was ich immer tat: Ich würde es aussitzen und hoffen, dass sie früher oder später bereit war, aufzuhören oder in eine Entzugsklinik zu gehen. Ich weiß, wie das klingt. Ich weiß, die ganze Sache wäre vielleicht anders ausgegangen, wenn ich etwas unternommen hätte – ihr ein Ultimatum gestellt, mit ihren Eltern Kontakt aufgenommen, ihre Freunde einbezogen hätte, irgendwas. Noch heute denke ich ständig daran.

Ich erinnere mich, dass ich als Teenager meine Mom fragte, warum sie sich mit der Trinkerei meines Vaters abfand.

Sie hatte die Stirn gerunzelt, nicht weil sie böse auf mich war, sondern weil sie verwirrt war. »Welche Wahl habe ich denn?«

»Du könntest ihn verlassen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich warte lieber auf ihn.«

»Selbst wenn du ewig warten musst?«

Zur Antwort nickte sie.

Genauso waren meine Empfindungen für Claire in den Zeiten, in denen sie nicht ganz mir gehörte. Ich wartete auf sie.

Als die beiden uniformierten Beamten am frühen Morgen des 1. Januar 2010 an die Tür meiner Wohnung klopften, wusste ich, dass sie tot war, bevor einer von ihnen etwas sagte.

Ich erinnere mich, dass ich mit »Okay« antwortete, nachdem sie mir mitgeteilt hatten, sie habe um drei Uhr morgens einen Autounfall gehabt und sei auf der Stelle tot gewesen.

»Wurde sonst jemand verletzt?«, fragte ich.

»Nein. Sie war allein, und an dem Unfall waren keine weiteren Fahrzeuge beteiligt.«

»Okay«, sagte ich noch einmal und machte Anstalten, die Tür zu schließen, weil ich annahm, die Polizei sei mit mir fertig. Aber sie hielten mich zurück und erklärten, ich müsse sie für die Identifizierung zur Station begleiten.

Drei Monate später fand ich ein Tagebuch, das sie geführt hatte. Es war hinter einer Reihe großformatiger Hardcover in dem Teil unseres Bücherregals versteckt, den sie für sich beansprucht hatte. Beinahe hätte ich es verbrannt, ohne es zu lesen, aber meine Neugier behielt die Oberhand. Also kaufte ich eines feuchten Frühlingsabends ein Sixpack Newcastle Brown, setzte mich hin und las es von vorn bis hinten durch.