Kapitel 30

Das vorletzte Kapitel in Agatha Christies Alibi trägt den Titel »Die ganze Wahrheit«. In ihm enthüllt der Erzähler, der Landarzt, der insgeheim der Mörder ist, den Lesern, was er getan hat.

Ich habe den Kapiteln in dieser Erzählung keine Titel gegeben. Es ist eine altmodische Gepflogenheit, und sie wirkt ein wenig abgeschmackt. Wie hätte ich sonst das vorangegangene Kapitel genannt? Vielleicht »Charlie zeigt sein Gesicht« oder etwas in der Art. Verstehen Sie, was ich meine? Abgeschmackt. Aber wenn ich es getan hätte, wenn ich den Kapiteln Titel vorangestellt hätte, dann würde dieses Kapitel nun mit Sicherheit »Die ganze Wahrheit« heißen.

In der Nacht, in der meine Frau starb, war ich ihr in meinem Wagen nach Southwell hinaus zu Eric Atwell gefolgt. Ich war nicht zum ersten Mal dort. Nachdem ich dahintergekommen war, dass Claire wieder Drogen nahm und sich höchstwahrscheinlich mit jemandem bei Black Barn Enterprises eingelassen hatte, war ich einige Male an der umgebauten Farm vorbeigefahren. Einmal hatte ich sogar Atwell gesehen, zumindest nahm ich an, dass er es war. Er joggte in kastanienbrauner Laufkleidung nicht weit von seinem Haus auf dem Gehweg neben der Straße. Beim Laufen machte er zusätzlich Schattenboxen, als wäre er Rocky Balboa.

Claire und ich hatten in diesem Jahr beschlossen, Silvester zu Hause zu bleiben. Sie sagte, draußen bei Black Barn gebe es eine kleine Party, aber jetzt, da sie aufgehört habe, Drogen zu nehmen (so hatte sie es mir zumindest weisgemacht), gebe es keinen Grund für sie hinzufahren. An diesem Abend brieten wir uns ein Hähnchen. Ich machte Kartoffelbrei, und sie dämpfte Rosenkohl. Wir tranken eine Flasche Vermentino zum Essen und machten eine zweite auf, nachdem wir aufgeräumt hatten. Wir machten es uns auf dem Sofa gemütlich und schauten einen Film, Vergiss mein nicht!, einen von Claires Lieblingsfilmen. Ich mochte ihn ebenfalls. Wenigstens war das damals der Fall. Jetzt wird mir schon beim bloßen Gedanken an den Film schlecht.

Ich musste eingeschlafen sein, denn als ich aufwachte, war der Film zu Ende, der Schirm zeigte die Menü-Optionen des DVD -Players und auf dem Couchtisch lag eine Nachricht von Claire.

Bin bald zurück. Ich verspreche es, und tut mir leid. In Liebe, C.

Ich wusste natürlich, wohin sie gefahren war. Ihr Subaru stand nicht mehr draußen auf der Straße. Also stieg ich in meinen Chevy Impala und fuhr nach Southwell hinaus.

In Atwells Haus fand eine Art kleine Party statt, als ich dort eintraf. In der Zufahrt standen fünf Autos und zwei weitere an der Straße, darunter Claires. Ich parkte rund zweihundert Meter entfernt am Straßenrand. Dieser Teil von Southwell war spärlich besiedelt. Er bestand hauptsächlich aus leicht hügeligem, altem Farmland mit kreuz und quer verlaufenden Steinmauern und hier und da einigen sündhaft teuren Eigenheimen.

Ich stieg aus dem Wagen und trat in die kalte, klare Nacht hinaus. Mein Aufbruch war so abrupt erfolgt, dass ich nicht angemessen bekleidet war, ich trug nur eine alte Jeansjacke über einem Pullover und Jeans. Ich knöpfte die Jacke bis zum Hals zu, schob die Hände in die Taschen und ging auf der Straße zu Atwells Haus. Ein kleines, diskretes Schild mit der Aufschrift BLACK BARN ENTERPRISES war neben dem Briefkasten angebracht. Ich blieb einen Moment stehen und betrachtete das Anwesen. Es gab das weiß gestrichene Farmhaus, neben dem eine riesige Scheune aufragte. Ich hatte sie natürlich schon bei Tageslicht gesehen, und sie war nicht einmal schwarz gestrichen. Es war eher ein dunkles Grau, aber Atwell hatte sie zu einem stylishen Arbeitsplatz umgebaut: Das Scheunentor war durch massives Glas ersetzt worden, und innen war ein Großraumatelier mit Modulschreibtischen und Tischtennisplatten entstanden.

Ich schlich an dem Grundstück entlang, bis ich nahe genug an der Scheune war, um zu sehen, dass sie zwar hell erleuchtet, aber leer war. Die Party fand im Haus statt. Ich ging hinten um die Scheune herum, um mich dem Haus von der Rückseite zu nähern, und für einen Moment war ich wie benommen von dem Anblick. Der Mond war fast voll und der Himmel wolkenlos. Atwells Anwesen lag auf einer kleinen Anhöhe, und von meinem Standort aus blickte ich über die sanft abfallenden Wälder und Wiesen bis zu einer dunklen Baumreihe. Die ganze Landschaft war in silbernes Mondlicht getaucht. Ich betrachtete sie eine Weile und fröstelte in meiner dünnen Jacke, bis ich plötzlich Gelächter hörte und Zigarettenrauch roch. An der hintersten Ecke der Scheune konnte ich die rückwärtige Veranda sehen, die eindeutig ein Anbau war. Ein mir unbekanntes Paar rauchte und lachte sehr laut, die Inhalte ihrer Unterhaltung trug der bitterkalte Wind mit sich fort. Nachdem sie zu Ende geraucht hatten, gingen sie ins Haus zurück. Ich näherte mich einem Fenster und spähte hinein.

Es gibt viele Dinge aus dieser Nacht, die ich nicht vergessen kann, und der Anblick, der sich mir durch das Fenster bot, gehört sicherlich dazu. Rund zwanzig Leute wuselten in einem großen, schön möblierten Wohnzimmer umher. In der Mitte stand eine üppig gepolsterte Ledercouch, und auf ihr sah ich Claire in einem kurzen grünen Cordrock und einer cremefarbenen Seidenbluse, die ich noch nie an ihr gesehen hatte, wenigstens konnte ich mich nicht an sie erinnern. Sie saß neben Atwell, ihre Schultern berührten sich, und sie hielt ein Sektglas in der Hand. Der Raum war nur schwach beleuchtet, aber ich konnte ein Häufchen weißes Pulver auf der Glasplatte des Couchtischs erkennen, und einer der Gäste kniete auf dem Teppich und zog sich eine Line. Technomusik wie man sie in Klubs hört, hämmerte aus dem Haus, und hinter der Couch tanzten drei der Gäste. Was ich jedoch nie vergessen werde, war, wie Claire aussah – nicht ihre Kleidung, nicht einmal wie sie an Atwell geschmiegt dasaß, während seine Hand ihr nacktes Knie berührte, sondern das Leuchten in ihrem Gesicht. Es kam von den Drogen, aber es lag auch noch etwas anderes darin, ein Ausdruck reiner, animalischer Freude. Sie lachte pausenlos und riss den Mund mit den feuchten Lippen dabei auf eine Weise auf, die unnatürlich wirkte.

Ich ging zurück zu meinem Auto, ließ den Motor an und stellte die Heizung auf die höchste Stufe. Ich zitterte vor Kälte, aber ich weinte auch. Und dann wurde ich wütend und schlug mit der Faust wiederholt gegen das Wagendach. Natürlich war ich auf Claire wütend und auf Atwell, aber ich glaube, am meisten war ich auf mich selbst wütend. Zumindest damals. Denn was ich zu tun gedachte, war zurück nach Somerville zu fahren und auf meine Frau zu warten, zu hoffen, dass sie gesund und wohlbehalten zurückkommen und eines Tages ganz bei mir bleiben würde.

Im Wagen wurde es warm, und ich beruhigte mich. Von dort aus, wo ich parkte, konnte ich Claires Subaru an der Straße stehen sehen und beschloss zu warten. Ich wusste aus früherer Erfahrung, dass sie nicht über Nacht bleiben und vor dem Morgen zurück sein würde, auch wenn es spät werden konnte. Außerdem wusste ich, dass ich ihr vergeben würde, dass ich tun würde, was meine Mutter immer bei meinem Vater getan hatte. Ich würde warten, bis sie zu mir zurückkam. Doch je länger ich in meinem Wagen saß, während der Motor schnurrte und die Wärme aus den Lüftungsschlitzen strömte, desto fuchsteufelswilder wurde ich auf Claire. Ich wusste, sie war drogensüchtig und konnte bis zu einem gewissen Grad nicht anders, aber sie hatte in Atwells Wohnzimmer auch so glücklich ausgesehen, so lebendig.

Es war halb drei Uhr morgens, als ich zwei Gestalten neben Claires Wagen auftauchen sah. Im Mondlicht sah ich, wie sie sich küssten, dann öffnete Claire die Tür – ich erkannte ihren Wintermantel mit der Kapuze über den nackten Beinen – und stieg ein, während Atwell zu seinem Haus zurückjoggte. Die Hecklichter leuchteten auf, dann wendete sie. Zwar streiften ihre Scheinwerfer meinen Wagen, der unter ein paar Kiefern stand, aber offenbar hatte sie nicht aufgepasst. Sie entfernte sich rasch in Richtung der Route 2.

Ich folgte ihr. Sie fuhr schnell über die Landstraße, aber nachdem sie auf dem Highway zurück nach Boston war, hielt sie sich genau an die Geschwindigkeitsbeschränkung. Es war die Silvesternacht, und die Polizei würde wahrscheinlich in großer Zahl nach betrunkenen Autofahrern Ausschau halten. Etwas an diesem Verhalten ging mir gegen den Strich: Dass sie trotz allem, was sie in dieser Nacht konsumiert und trotz allem, was sie getan hatte, noch vorsichtig genug war, um nicht von der Polizei angehalten zu werden. Genauso wusste ich, sie würde sich leise in unsere gemeinsame Wohnung schleichen, um mich nicht zu wecken. Und wenn wir am nächsten Morgen darüber sprachen, würde sie weinen, sich selbst bezichtigen, ein schrecklicher Mensch zu sein, und um Verzeihung bitten. Sie wollte ihr Doppelleben führen, scheute aber die Konfrontation. So war sie eben. Ich weiß noch, dass ich dachte, ich hätte mehr Respekt für sie, wenn sie mich einfach verlassen würde, wenn sie sich mit der Tatsache abfand, dass sie lieber mit Eric Atwell zusammen war, dass sie lieber süchtig sein wollte. Dann läge zumindest alles offen zutage.

Auf dem zweispurigen Highway waren noch einige andere Autos unterwegs, aber nicht viele. Ich blieb dicht hinter ihr, ohne mir ernsthaft Sorgen zu machen, dass sie auf mich aufmerksam werden könnte. Sie hatte mich vor Atwells Haus nicht am Straßenrand bemerkt und würde mich wahrscheinlich auch jetzt nicht bemerken. Ich war diese Strecke schon oft gefahren, und wir näherten uns einer Überführung. Sie war nur von einem niedrigen Geländer begrenzt. Plötzlich stellte ich mir vor, wie Claire die Kontrolle über ihren Wagen verlor und von der Überführung stürzte. Ohne allzu viel darüber nachzudenken, beschleunigte ich und wechselte auf die Überholspur. Einen Moment fuhren Claire und ich nebeneinander, und ich blickte zu ihr hinüber, aber alles, was ich sehen konnte, war ihr Profil im Dunkeln. Möglicherweise hat sie zu mir herübergeschaut, aber es war schwer festzustellen. Was hätte sie gesehen? Mein Gesicht, das ebenfalls im Dunkeln lag. Hätte sie mich erkannt?

Ich überholte sie, blieb aber auf meiner Spur. Wir näherten uns der Überführung, und ich stellte mir verschiedene Szenarien vor. Was, wenn ich meinen Wagen langsam auf ihre Spur zog. Würde sie die Kollision zulassen, sodass wir beide ins Schleudern gerieten und von der Straße abkämen? Ich wusste in meinem tiefsten Innern, dass sie es nicht tun würde. Meine Frau vermied Kollisionen. Das hielt sie nicht davon ab, ihr eigenes Leben an die Wand zu fahren, aber wenn ich auf ihre Spur zog, würde sie das Steuer herumreißen, um mir auszuweichen.

Also tat ich es. Ich schnitt sie, als wir über die Überführung brausten, und sie tat genau das, was ich erwartet hatte. Sie brach durch das Geländer.

Zu Hause wartete ich dann auf das Eintreffen der Polizei. Sie tauchten um acht Uhr morgens auf, um mir mitzuteilen, meine Frau sei tot. Es war natürlich eine Erleichterung. Ich hatte mir Sorgen gemacht, sie könnte sich irgendeine schreckliche Verletzung zugezogen haben. Auch war ich besorgt gewesen, sie könnte bei ihrem Sturz auf die Straße unter ihr jemand anderen getötet haben. Doch das war nicht der Fall, und dafür war ich dankbar.

Es ist ein merkwürdiges Gefühl, um jemanden zu trauern, den man ermordet hat. Am Anfang war meine Trauer mit einem enormen Schuldgefühl gepaart. Ich fragte mich ständig, wie es weitergegangen wäre, hätte ich Claire in dieser Nacht einfach nach Hause fahren lassen. Vielleicht hätte sie mich gebeten, sie in eine Entzugsklinik einzuweisen, vielleicht hätte sie gesagt, sie sei jetzt ganz unten angekommen und wolle wieder gesund werden. Vielleicht wäre sie aber auch weiter wegen der Drogen zu Atwell gefahren, und ich hätte sie fahren lassen, hätte gewartet und gehofft, sie würde sich vielleicht ändern.

Ihr Tagebuch zu lesen half mir. Es gab einen eindeutigen Schurken in der Geschichte, und dieser Schurke war Eric Atwell. Nach einer Möglichkeit zu suchen, wie ich ihn töten konnte, half mir über meine schlimmste Trauer hinweg, und dann entfaltete die Zeit ihre Wirkung. Ich kam zwar nicht über Claires Tod hinweg, aber er wurde erträglicher. Ich kaufte den Laden und stürzte mich in die Arbeit. Auch wenn ich selbst aufhörte, Kriminalromane zu lesen – in denen zu viel gewaltsamer Tod drohte –, wusste ich genug, um meine Kunden zu beraten. Ich war Buchhändler, und ich war gut in meinem Job. Das reichte mir.