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»Als er endlich tot vor mir lag, tat es mir beinahe leid um dieses prächtige Tier, aber diese sinnlose Aufwallung christlicher Gefühle wich sofort dem Wissen um meine Macht.«

30. Oktober

Wir hatten uns darauf geeinigt, dass ich die Klauaktion an Halloween durchziehen sollte. Je näher der Tag kam, umso mulmiger wurde mir. Am Abend davor hielt ich es zu Hause einfach nicht aus und fuhr zu Valle.

Er öffnete mir in schwarzen Boxershorts die Tür, überrascht, die Haare noch ganz feucht und kringelig vom Duschen. Er sagte nichts, sondern ging einfach vor mir her in die Küche. Etwas verlegen folgte ich ihm.

»Schön, dass du gekommen bist, aber warum bist du hier?« Er drehte sich zu mir, und weil ich mich bereits hingesetzt hatte, hatte ich vollen Blick auf seinen Bauchnabel, der so merkwürdig zart mitten in seinen Bauchmuskeln lag, dass ich ihn gern küssen wollte. Keine Haare, registrierte ich, alles ganz glatt.

Er kam näher und mit jedem Schritt, den er näher kam, verlor alles andere an Bedeutung. Valle ging vor mir in die Hocke, sodass ich seinem Blick voll ausgeliefert war. Er schloss mich in seine Arme, zog mich zu sich hoch und hauchte in mein Ohr: »Ich glaube fast, du bist nervös. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn ich dich nicht in null Komma nichts auf andere Gedanken bringen könnte, wetten?«

Ich hatte das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen, versuchte aber, lässig zu bleiben und den Aufruhr in meinem Magen zu ignorieren. Er nahm meine Hand, zog mich zum Schlafzimmer und öffnete die Tür.

Mein Blick glitt über die dunkellila Wände, über dem Bett hing ein plakatgroßer schwarzer Wandbehang, auf dem ich ein gewaltiges Pentagramm erkennen konnte – das Baphomet, Symbol der Church of Satan, dieses Ding war auch vorne auf der satanischen Bibel. Aus der Mitte des Pentagramms starrte mir ein hässlicher Ziegenbockkopf entgegen.

Wie angewurzelt blieb ich stehen.

Valle schaute mich von der Seite an. »Gefällt’s dir?«

Ich war sprachlos und konnte nur nicken.

»Erinnerst du dich daran, was das zu bedeuten hat?«

»Ich bin gerade so durcheinander, dass ich nicht mal mehr sicher bin, wie man Antoinette schreibt«, versuchte ich einen Scherz.

»Also«, begann er, als wollte ich das wirklich wissen, und griff zu allem Überfluss auch noch nach einem Pulli, der auf dem Bett lag und den er sich nun überzog. »Dieses Fünfeck besteht aus drei Teilen, jedes stammt aus einer anderen Zeit, die fünf Ecken sind das Pentagramm des Pythagoras. Normalerweise zeigt die Spitze nach oben, aber bei uns zeigt die Spitze nach unten. Es ist das Zeichen für die Wissenschaft, die im Gegensatz zum Glauben steht.«

Gerade eben noch hatte ich vor lauter Herzklopfen fast zu atmen vergessen und jetzt das.

Doch als ich Valle so vor mir stehen sah, wie er mir mit feuriger Stimme und glänzenden Augen von diesem Pentagramm erzählte, als wäre es wirklich wichtig, war die Enttäuschung plötzlich wie weggeblasen. Genau deshalb hatte ich mich in ihn verliebt. Weil er bei allem so leidenschaftlich war.

»Der Ziegenbockkopf ist ein sehr altes Symbol, das an den ägyptischen Gott Amun, den Widderkopf, erinnern soll. Und hier in den Spitzen erkennst du die hebräischen Schriftzeichen L, V, J, T, N gegen den Uhrzeigersinn. Leviathan, der das Monster der Meere ist.« Valle wendete sich von dem Wandbehang ab und schaute zu mir.

Ich dachte, ich sollte etwas mehr Begeisterung zeigen, ging näher heran und sah mir das Baphomet genauer an. Mir kam es so vor, als würden mich die Augen des Ziegenbocks anstarren. Ich spürte den Impuls, diesem Bock die Zunge herauszustrecken, was ich natürlich nicht tat, weil es ziemlich lächerlich gewesen wäre. Ich fragte mich, wie Valle darauf reagieren würde.

Jetzt entdeckte ich auch so etwas wie einen Altar. Ein Tischchen, verhüllt mit einem glänzenden schwarzen Tuch, auf dem eine dicke schwarze Kerze mit angebranntem Docht stand. Daneben eine alte große Eisenglocke und ein dunkelroter Glaskelch, lang wie mein Unterarm, aus dickem ornamentiertem Glas. Dahinter befand sich eine kupferne Schale mit Ascheresten.

Unsicher drehte ich mich zu Valle um, aber der schien es in Ordnung zu finden, dass ich mich umschaute, seine Augen leuchteten regelrecht.

Ich ging zur gegenüberliegenden Seite des Zimmers. Direkt an der Wand lehnte ein merkwürdiges Krummschwert, das in einer mit Steinen reich verzierten Scheide steckte. Zwischen Wand und Schwert war ein Foto geklemmt. Unwillkürlich griff ich danach und zog es hervor. Es zeigte das Porträt eines Jungen, der etwa sechzehn Jahre alt sein mochte. Er hatte schulterlanges Haar, die Farbe war wie bei Valle. Leuchtend nasse Kiefernbaumstämme.

»Bist du das?«

Valle wurde blass. »Das geht dich nichts an. Am besten vergisst du sofort, dass du es gesehen hast.« Mit einem Schritt stand er vor mir, nahm mir das Foto aus der Hand und ging mit dem Bild aus dem Zimmer.

Irritiert blieb ich stehen; als Valle wenige Sekunden später wieder hereinkam, lächelte er versöhnlich und kam direkt auf mich zu. Ich atmete seinen Geruch ein, vergaß seine komische Reaktion, den Ziegenkopf und nicht mal der Gedanke an den morgigen Tag konnte die wohligen Schauer stoppen, die sich in meinem Körper ausbreiteten. Ja, es war fast so, als würde ich genau deshalb alles noch viel intensiver spüren.

Valle drückte mich fester an sich und küsste ganz zart meine Augenlider, knabberte an meinen Ohren und flüsterte immer wieder »Meine kleine Rebellin«. Dabei glitten seine Hände über meinen Rücken, schoben sich unter mein T-Shirt und lagen auf meiner nackten Haut.

Ich schloss die Augen, ich wollte nur noch diesen Mund auf meiner Haut spüren, presste mich stärker an ihn, wollte mich ganz ausziehen, seine Haut an meiner spüren.

Doch da hörte er plötzlich auf und räusperte sich.

Ich hielt ihn fest umschlungen, aber Valle schob mich sanft von sich und schaute mich fragend an. »Wir sollten das lieber auf morgen verschieben. Morgen, wenn alles vorbei ist!« Er zögerte einen Moment, als wollte er noch etwas hinzufügen, doch dann schüttelte er nur sein Haar, küsste mich noch einmal so fest auf den Mund, als wollte er ihn versiegeln, und schob mich zur Tür.