12

»Sie kam schnell und führte meine Befehle präzise aus, sodass ich mein Geschenk sicher nach unten bringen konnte, wo man uns voller Spannung erwartete.«

Von dir wollen wir deine Schwester!

Für einen Moment bin ich völlig verwirrt, doch plötzlich fällt mir das Foto an Giltines Pinnwand ein, das Foto von Kati und mir.

»Kati hat doch mit alldem nicht das Geringste zu tun.«

»Aber sie hat den Atem des Teufels!«

Thor klingt ehrfürchtig, ohne jegliche Belustigung in der Stimme.

Den Atem des Teufels? Das ist doch verrückt.

Okay, Valles Gerede davon, wie frei Satanisten im Denken sind und wie mordsrebellisch – das klang ja vielleicht noch logisch. Aber das hier?

Mir wird übel. Das Ganze hier kommt mir plötzlich auf eine gefährliche Art und Weise unkontrollierbar vor.

Wir erreichen die Treppe, und während ich an Thors Arm die Stufen hochstolpere, rasen mir Valles Andeutungen durch den Kopf, die Art, wie er mir den Schlüssel in die Hand gedrückt hat. Das merkwürdige Getränk aus dem Kelch kommt mir wieder hoch, mir ist schwindelig.

Endlich sind wir am Ende der Treppe, Thor schiebt mich durch die Tür nach draußen, ich sauge die Luft ein und reiße mir die Augenbinde ab.

Es dämmert schon.

Es dämmert?

Oh Mann, dann muss ich jetzt sofort nach Hause, meine Mutter kocht bestimmt schon die Eier fürs Frühstück. Und das erscheint mir in diesem Moment so unglaublich tröstlich, so unglaublich normal, dass es mir die Tränen in die Augen treibt.

»Hey, wann du wieder sehen darfst, das entscheide ich!« Thor kommt näher, schnappt mich und bindet mir das Tuch wieder um.

»Ich muss sofort nach Hause. Meine Eltern flippen aus, wenn die merken, dass ich in der Nacht nicht da war.« Ich gebe mir Mühe, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken.

»Heim zu Mutti? Und du willst eine Satanistin sein?«

Nein, will ich brüllen, das will ich nicht, aber ich kann mich gerade noch bremsen, wer weiß, was Thor dann mit mir anstellt, inzwischen traue ich diesen Typen alles zu.

Also gebe ich vor, sein Spiel mitzuspielen, doch ich muss fast würgen, als er mich über die Straße zerrt, so hilflos fühle ich mich, blind, ihm ausgeliefert. Inständig hoffe ich, dass er mir an der Straßenbahnhaltestelle endlich die Augenbinde abnimmt, das fällt doch auf, es muss mindestens schon halb acht sein, da sind jede Menge Menschen unterwegs.

Ich höre eine Straßenbahn heranrattern, die muss ich unbedingt kriegen, muss endlich weg von diesem ganzen Irrsinn.

Ich reiße mich los, zerre die Binde runter, sehe, dass die Bahn in die richtige Richtung fährt.

»Ave Satanas«, rufe ich Thor zu und laufe, so schnell ich kann.

Der spurtet sofort hinter mir her, verheddert sich aber in seiner Kutte. Er holt mich deshalb erst kurz vor der Haltestelle ein. »Ich hab dir gesagt, ich entscheide, wann du wohin gehst!«, keucht er in mein Ohr und packt mich am Arm.

Die Straßenbahn fährt ein und bremst.

»Lass mich sofort los«, zische ich ihm zu, »sonst schreie ich und behaupte, dass du mich belästigst. Bei deinem Outfit glaubt mir das jeder.«

Thor schaut an seiner Kutte hinunter, dann grinst er plötzlich breit und lässt mich los. »Vielleicht wird das doch noch was mit dir. Klar, beim Anblick von so einer Mönchskutte glaubt jeder sofort das Schlimmste. Das haben sich die Christen selbst zuzuschreiben.«

Die Türen öffnen sich, ich steige ein, bleibe am Eingang stehen. Halte die Luft an, weil ich Angst habe, dass Thor mir folgt, aber er bleibt zurück und winkt dann salbungsvoll, als wäre er mein Beichtvater.

Ich lasse mich auf einen Sitz fallen und überlege verzweifelt, was für ein Märchen ich zu Hause erzählen kann. Klar übernachte ich öfter mal bei Freunden, aber ich muss vorher Bescheid sagen – eine bescheuerte Idee von Schwallfi, dem Kontrollfreak, angeblich, damit sie immer wissen, wo wir sind. In Wirklichkeit ist das nur eine weitere Maßnahme, um mir das Leben schwer zu machen.

Ich habe noch nie ausprobiert, was passiert, wenn ich einfach mal eine Nacht wegbleibe. Könnte ich vielleicht behaupten, dass ich Schlafstörungen hatte und deshalb spazieren gegangen bin? Nein, mir kommt noch eine bessere Idee. Ich gehe beim Bäcker vorbei und tue so, als wäre ich nur beim Brötchenholen gewesen.

Als ich zu Hause mit der großen Tüte Brötchen ankomme, wartet Mama schon auf mich und überschüttet mich mit Fragen.

Wo ich gewesen bin, was mir einfällt, und selbst, als ich die Brötchentüte hochhalte und vor ihrem Gesicht damit herumwedle, hört sie nicht auf.

»Schau dich doch mal an!« Mama hat rote Flecken im Gesicht. »Du sagst mir jetzt auf der Stelle, wo du gewesen bist. Ich hab mir solche Sorgen gemacht!«

Ich gebe ihr die Brötchentüte und schaue dabei unauffällig an mir herunter und erkenne Dreckspritzer auf meinen Stiefeln, abgewetzte Knie von dem Sturz im Gang, meine Hände sehen noch schlimmer aus, überall Schürfwunden, in denen Rostpartikel stecken.

Schwallfi kommt in die Küche.

»Die Wahrheit!«, sagt er salbungsvoll. »Wir wollen die Wahrheit.«

Jetzt reicht es mir. Können sie haben, die Wahrheit!

Ich hole tief Luft und erzähle dann, dass ich mit meinem neuen Freund auf einer satanischen Messe war.

Während ich davon berichte, kommt Kati dazu und wird ganz blass, als sie mich sieht.

»Genug jetzt«, unterbricht mich Schwallfi, »für diese Frechheit bekommst du Hausarrest. Ab sofort. Da kannst du in aller Ruhe darüber nachdenken, was du deiner Mutter mit deinem unmöglichen Verhalten und deinen dreisten Lügengeschichten antust.«

»Aber...« Kati versucht wie immer, eine Lanze für mich zu brechen. Und ich bin mir sicher, ihr ist klar, dass ich die Wahrheit gesagt habe, so blass, wie sie geworden ist.

»Kein Aber, Kati! Halt dich da raus. Deine Schwester benimmt sich reichlich seltsam in letzter Zeit.«

Kati schaut mich merkwürdig an, zuckt mit den Schultern, sie weiß, wann man sich bei Schwallfi geschlagen geben muss.

Dann setzen sich alle drei an den wie immer üppig gedeckten Frühstückstisch.

Ich bleibe davor stehen, habe keine Ahnung, was ich jetzt tun soll, alles dreht sich, die Wurst, Putenmortadella bleich wie die Arme von Giltine, der Kaffee, sattschwarz wie Thors Kutte, die blutrot schimmernde Marmelade im Glas, mir kommt das Zeug aus dem Kelch hoch, Schwallfi haut seinem Ei den Kopf ab, sofort quillt reichlich Eigelb hervor und ich schaffe es gerade noch bis zum Klo. Ich würge, aber es kommt nichts.

Die Krämpfe in meinem Magen treiben mir Tränen in die Augen. Da, eine Hand auf meiner Schulter. Ich drehe mich panisch um, ringe nach Luft. Mama macht einen erschreckten Satz rückwärts. »Toni, was ist denn nur los mit dir? Gestern Morgen war dir auch schon übel... bist du etwa...?« Sie schaut mich ermutigend an.

Ich starre sie an, habe in diesem Moment keine Ahnung, wovon sie überhaupt redet, obwohl sie mir signalisiert, ich müsste es wissen.

Kati taucht hinter Mama auf und legt ihr den Arm um die Schulter. »Nein, Mama, Antoinette ist nicht schwanger.«

Schwanger? Wovon reden die beiden da? Auf welchem Stern leben die denn?

Ich kann nicht mehr stehen und lasse mich auf den Boden sinken.

Kati setzt sich neben mich. Sie duftet unglaublich lecker nach exotischen Früchten.

Von dir wollen wir deine Schwester.

Denn sie hat den Atem des Teufels.

Ich muss mich beherrschen, um nicht hysterisch loszukichern.

»Mama«, sagt Kati beschwichtigend, »schau doch mal, Toni geht’s wirklich schlecht. So kann sie nicht in die Schule gehen. Vielleicht hat sie sich ein Virus eingefangen.« Tröstend legt sie den Arm um mich und schafft es, Mama mit ihrem Blick weichzukochen.

Schließlich zuckt Mama mit den Schultern. »Na gut. Vielleicht war Toni wirklich nur draußen, um Luft zu schnappen und Brötchen zu holen.« Mamas Stimme wird schärfer. »Aber wie auch immer: Heute bleibst du hier und gehst nirgends hin, hast du mich verstanden? Nirgends!«

»Was ist hier eigentlich los? Soll ich alleine frühstücken?« Schwallfi steht im Türrahmen und schüttelt den Kopf. Mama dreht sich zu ihm um. »Nein, natürlich nicht, ich komme.«

»Das ist die Pubertät . . .«, raunt Schwallfi Mama zu, was mich dermaßen nervt, dass ich am liebsten demonstrativ auf meine Wange gezeigt hätte.

Nachdem die beiden das Badezimmer verlassen haben, wird mir klar, dass ich jetzt endlich mit Kati reden muss. Sie wird mich verstehen, sie ist die Einzige, bei der ich mir wirklich sicher bin, dass sie mich so liebt, wie ich bin. Mama fällt es, glaube ich, manchmal schwer, mich zu lieben, von unserem Erzeuger mal ganz zu schweigen. Der hockt in der Provence in einem verrotteten Steinhaus zwischen Lavendel und Sonnenblumen mit seiner mittlerweile vierten Frau, wo er eine Hundepension betreibt und froh ist, wenn wir in den Ferien nicht anreisen. Kati nimmt meine Hände und dreht sie um. »Was ist das denn?«

»Keine Ahnung.«

»Wir müssen das sauber machen und verbinden.«

»Danke.« Ich überlege, wie ich anfangen soll, wo... Kati beugt sich vor und streckt mir ihre Hand entgegen.

Ich packe sie, durch den Druck merke ich, wie weh diese Schürfwunden tun. Weil ich wirklich sehr schlapp bin, kostet Kati das Hochziehen so viel Kraft, dass sie sich noch weiter vorbeugen muss, und da sehe ich es.

Aus ihrem Ausschnitt rutscht ein silberner Pegasus. Der sieht genauso aus wie der, den ich Robert geschenkt habe.

Ich lasse ihre Hand los, als hätte ich mich verbrannt, falle hart auf meinen Hintern zurück. Kann ich jetzt nicht mal mehr Kati vertrauen?

»Was ist denn?«

»Nichts.«

Der Atem des Teufels...

So ein Unsinn.

Kati zuckt mit den Schultern und verlässt das Badezimmer, an der Tür bleibt sie kurz stehen, dreht sich um, versucht, etwas zu sagen, lässt es dann aber doch.

Mühsam rapple ich mich auf, sehe mich im Spiegel an und verstehe jetzt wirklich gut, warum Mama mir kein Wort geglaubt hat. Über mein Gesicht ziehen sich schwarze Balken, offensichtlich war die Augenbinde voller Ruß oder Asche. In meinen Haaren sind ebenfalls graue Teilchen hängen geblieben und unter meinen grünen Augen prangen Ringe, die wie dunkle Blutergüsse aussehen.

Kann es sein, dass Robert meiner Schwester den Anhänger gegeben hat, um mich zu ärgern? Aber Kati muss sich doch daran erinnern, wie wir diesen Anhänger in der Stadt gekauft haben, sie sich einen Phönix und ich den Pegasus für Robert.

Langsam und zittrig ziehe ich mich aus, so muss man sich fühlen, wenn man alt ist, denke ich. Als ich meine Jeans auf den Boden werfe, klirrt es leise.

Valles Schlüssel!

Obwohl ich gerade schon in die Dusche steigen wollte, bücke ich mich und hebe ihn auf. Er funkelt silbern, kein einziger Kratzer, keine Delle, er sieht völlig unbenutzt aus, brandneu.

Während das heiße Wasser auf meinen Kopf prasselt und an den Schürfwunden meiner Hände brennt, überlege ich, wozu dieser Allerweltsschlüssel passen könnte. Zu einem teuren Fahrradschloss fällt mir ein, genauso wie zu einer mäßig sicheren Haustür, einem Kellerverschlag, einer Gartenlaube.

Wenn ich nur mehr darüber wüsste!

Nach dem Duschen fühle ich mich zwar besser, aber in meinem Bauch rumort es noch immer.

Die Wohnung ist inzwischen leer, unruhig tigere ich in der Küche auf und ab.

Auf das Rumoren im Bauch folgt ein Echo in meinem Kopf. Was für ein Geheimnis? Was für ein Schlüssel? Was ist während der Messe geschehen? Was hat Valle so beunruhigt? Meine Gedanken drehen sich im Kreis.

Ich muss mit ihm reden. Aber ich erreiche ihn weder auf seinem Handy noch bei sich zu Hause. Für einen Moment lege ich mich in meinem Zimmer aufs Bett, doch an Schlaf ist nicht zu denken, obwohl ich todmüde bin, bis in die Knochen erschöpft.

Deshalb rapple ich mich wieder auf und beschließe, den Schlüssel gut zu verstecken. Nachdem ich kurz überlegt habe, weiß ich auch den perfekten Ort dafür. Ich verstecke ihn in den Gürtel, den Schwallfi mir mal auf dem Tollwood-Festival geschenkt hat. Er fand es unheimlich cool, als Anwalt etwas so Verbotenes zu kaufen. Die silberne Schnalle besteht nämlich aus einem riesigen, mit Steinen besetzten Hanfblatt. In den breiten schwarzen Ledergürtel ist innen ein kleines Täschchen eingearbeitet, für einen Schlüssel oder ein paar Münzen. Und weil ich diesen Gürtel immer trage, kann ich den Schlüssel nicht verlieren.

Dann schaue ich auf die Uhr. Es ist kurz nach zehn. Wieder versuche ich es auf Valles Handy, wieder erreiche ich nur die Mailbox.

Ich zögere noch einen winzigen Moment, doch dann greife ich nach meiner Jacke und gehe aus dem Haus.