21
»Besonders köstlich waren seine läppischen Versuche, ihr zu erklären, was es bedeutet, Satanist zu sein, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung davon zu haben, was es wirklich heißt. Leider haben wir zu viel gelacht und zu spät überprüft, wer er wirklich war.«
Während der Taxifahrt zur St. Angela Kirche starre ich vom Rücksitz aus dem Fenster in die Nacht. Lausche dem Druck in meinen Ohren, eine Art Meeresrauschen, das vereint mit der Dunkelheit über mir zusammenschwappt. Nur das wilde Pochen in meinem Daumen, irritierend wie ein fremder Herzschlag, zeigt mir, wie lebendig ich trotz allem noch bin. Aber ich bin müde, so müde.
Schon von Weitem ist der Platz vor der St. Angela Kirche zu sehen, beleuchtet von sich drehenden Blaulichtern. Zwei Polizeiwagen und ein großer Rettungswagen stehen dort.
Schwallfi hat ganze Arbeit geleistet.
Mir schießen Tränen in die Augen, weil ich so dermaßen froh bin, diese flirrenden Lichter zu sehen. Ich kann gar nicht aussteigen, weil es mir so vorkommt, als wäre ich überall ganz wund, gleichzeitig strömt etwas Schweres durch meinen Körper, das mich friedlich und vollkommen ruhig macht.
Der Taxifahrer dreht sich genervt zu mir um. »Ja mei, Ihre Uhr läuft schon wieder, wenn’s jetzt alleweil himacha.«
Ich versuche, meine unverletzte Hand zur Jackentasche zu bewegen, sie kommt mir dick und unförmig vor, als würde sie zu jemand anderem gehören. Doch bevor ich mein Geld herausholen kann, rennt Schwallfi schon auf das Taxi zu, drückt dem Fahrer einen Geldschein in die Hand, legt seinen Arm um mich, registriert den herunterbaumelnden Kopfkissenbezug, schiebt ihn aus dem Weg und schleppt mich zum Rettungswagen. Und dabei sagt er kein Wort. Nichts.
»Wo sind sie?«, frage ich, höre meine eigene Stimme nur wie durch dicke Polster. Das Stechen in meiner Schulter übertönt alles, dafür sind meine Beine wie taub.
»Bitte, wo sind sie?«
»In Sicherheit.« Schwallfis Stimme klingt etwas belegt, er räuspert sich. »In Sicherheit. Kati darf mit mir nach Hause. Deinem Freund geht es schlecht, aber die Sanitäter sagen, dass er es überleben wird. Er wird gleich ins Krankenhaus gebracht und du fährst auch mit, so wie du aussiehst.«
Wir sind am Rettungswagen angekommen, wo er mich den Sanitätern übergibt, die mich sofort auf eine Trage legen, den Kopfkissenbezug vom Gürtel abschneiden, und als ich hysterisch protestiere, legen sie ihn mir in den Arm, als wäre es ein Kuscheltier. Dann werde ich mit einer knisternden Folie zugedeckt, jemand redet mit mir, aber ich kann nicht verstehen, was er sagt, und da fallen mir auch schon die Augen zu.
Als ich wieder aufwache, bin ich im Krankenhaus, in einem Zweibettzimmer, aber das andere Bett ist leer. Ich kann mich nicht bewegen, weil ich überall Bandagen habe, und mit meinem rechten Arm hänge ich an einem Tropf. Aber ich fühle mich gut, habe keine Schmerzen, nur einen dicken Schädel.
Nach und nach fällt mir ein, was genau passiert ist, und ich muss sofort wissen, wie es Valle geht. Gerade als ich mich dazu durchgerungen habe, eine Schwester zu rufen, geht die Tür auf und es kommt ein junger Pfleger herein. Er hat überraschenderweise Mandelaugen und einen Kinnbart, mit dem er wie ein mongolischer Prinz aussieht. Er stellt mir das Essen auf den Tisch neben dem Bett und nimmt die graue Plastikhaube ab, als wäre darunter ein Fünf-Sterne-Gericht. »Für Sie gibt’s das volle Programm: Gulasch mit Spätzle. Schmeckt echt gut, hab ein bisschen was von Ihrer Portion probiert.« Er grinst mich breit an, damit ich kapiere, dass das ein Witz war.
»Wissen Sie, wo Valentin Behrmann ist?«
Er schaut mich mit schräg gelegtem Kopf an.
»Wer?«, fragt er. »Den Namen kenne ich nicht.«
»Aber Valle ist mit mir eingeliefert worden! Er muss hier sein!«, sage ich verzweifelt.
Der Pfleger stellt das Tablett ab. »Na klar, jetzt weiß ich, wen Sie meinen. Ihr Vater hat ja sogar darauf bestanden, dass Sie Zimmer nebeneinander bekommen.«
»Er ist nebenan?«
Er lacht leise, dabei zittern die Spitzen seines Kinnbartes.
»Sehnsucht nach dem Freund?«
Ich nicke, richte mich auf, will sofort zu Valle hinüber, doch die Bewegung war zu schnell, mir wird schwarz vor Augen.
»Immer langsam.« Der Pfleger kommt wieder zu mir und schüttelt den Kopf. »Wir können gern bald zusammen ein Stück gehen, aber mit dem Fuß sollten Sie noch ein bisschen vorsichtig sein. Außerdem sehen es die Schwestern nicht so gern, wenn der Tropf abgerissen wird.« Er zwinkert mich mit seinen Mandelaugen freundlich an und kontrolliert die Kanüle in meinem Arm. »Und die Schulter sollte auch noch ruhig gestellt bleiben, sonst dauert es nur viel länger, bis alles geheilt ist. Ihrem Freund geht es gut, aber er ist noch sehr schwach. Ihr Vater hat sich um alles gekümmert. Offensichtlich gab es Probleme, weil er keinen Ausweis bei sich hatte.«
Schwallfi. Mir wird ganz anders. Schwallfi hat mir geholfen, ohne blöde Fragen zu stellen und ganz ohne jeden Kommentar. Und jetzt hat er sich auch noch um Valle gekümmert und sogar dafür gesorgt, dass er in meiner Nähe ist. Dafür werde ich ihm bis ans Ende meines Lebens die Füße küssen und ich werde ihn nie mehr heimlich Schwallfi nennen.
»Können Sie mich nicht für einen kleinen Moment zu Valle rüberbringen?«, frage ich. »Ganz kurz?« Ich schaue ihn bittend an.
Der Kinnbart legt den Kopf schräg. »Eigentlich darf ich das nicht. Ich bin der Essensausteiler, ich mach hier nur ein Praktikum.«
»Bitte.«
»So schlimm?« Er schaut mich an, als würde er die Leiden der Liebe nur zu genau kennen. Ich wittere Morgenluft und reiße meine Augen flehend auf.
»Ziemlich.«
Der mongolische Prinz zupft noch einmal sein Kinnbärtchen, dann deckt er wieder die Haube übers Essen, holt den Rollstuhl, der hinter dem Schrank neben der Tür gestanden hat, und bringt ihn zu meinem Bett.
»Aber ganz vorsichtig mit dem Tropf, keine hastigen Bewegungen, okay?«
Seufzend hilft er mir mit zwei Profigriffen auf, mir wird sofort wieder komisch, aber ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen, weil der Pfleger mich aufmerksam beobachtet. Endlich sitze ich im Rollstuhl und schon sind wir aus dem Zimmer.
Der Gang ist menschenleer, Licht fällt durch die tiefen, alten Fenster. Von irgendwoher tönt Geschirrklappern, ansonsten herrscht friedliche Stille.
Der Pfleger fährt eine Tür weiter und schiebt mich in den Raum. Auch hier gibt es zwei Betten, auch hier ist nur eins belegt.
Valle!
»In zehn Minuten hole ich Sie wieder ab«, flüstert der Pfleger. »Und dann wird gegessen, okay?«
»Danke.«
Der Pfleger verlässt das Zimmer und ich bin mit Valle allein. Er schläft, und obwohl er ganz leise schnarcht, flutet bei seinem Anblick sofort ein warmes Gefühl durch meinen Körper.
Ich streichle mit dem gesunden Arm über seine raue stopplige Wange und bin so glücklich, dass ich heulen könnte. Ich würde gerne seinen Mund küssen, der sogar jetzt noch wie ein Granatapfelkern schimmert, aber ich kann mich in dem Schulterstreckverband nicht vorbeugen.
Ich weiß, es ist egoistisch, aber ich wünsche mir so, dass er die Augen aufmacht, bevor der Pfleger zurückkommt. Wir müssen dringend reden, ich verstehe so vieles nicht.
Und da fällt mir siedend heiß der Kissenbezug mit den Beweisen ein. Mist. Wahrscheinlich ist der noch drüben bei mir im Zimmer. Ob ich es riskieren soll und Valle einfach wecke?
»Valle!«, flüstere ich in sein Ohr. »Valle!«
Er klimpert mit seinen langen Wimpern und dann öffnet er seine Seehimmelaugen, betrachtet mich damit verständnislos, schließlich reißt er sie weit auf und lächelt ganz schief. »Dein neuer Style gefällt mir.«
Ich kann ihn kaum verstehen, weil er so leise spricht und seine Stimme heiser klingt.
»Du siehst auch toll aus!«, gebe ich zurück. Ich schaue mich nach etwas zu trinken für ihn um. Auf dem Nachttisch steht ein Becher mit Wasser, den ich ihm hinhalte.
Er trinkt einen Schluck, verzieht dann sein Gesicht. »Scheiß-Halsweh.« Unter seinen Augen sind tiefe schwarze Ringe.
Er stellt den Becher wieder ab und nimmt dann meine Hand in seine. Seine Haut ist glühend heiß und jetzt wird mir auch klar, dass der Glanz in seinen Augen nicht etwa von meinem Anblick kommt, sondern weil er hohes Fieber haben muss. Und ich habe ihn geweckt.
Er packt meine Hand fester. »Toni! Leon hatte Tollwut. Der Schlüssel . . .«, seine Stimme wird zu einem unverständlichen Murmeln, obwohl ich mir alle Mühe gebe, ihn zu verstehen. Er schließt die Augen wieder und ich habe keine Ahnung, ob er Fieberfantasien hat oder ob er mir wirklich etwas sagen wollte. Tollwut? Wie kommt er denn jetzt plötzlich darauf?
Es klopft und dann steht der Pfleger wieder im Raum.
»Mein Freund hat hohes Fieber...«
»Ja, deswegen bekommt er starke Antibiotika.«
»Könnte es sein, dass er Tollwut hat?«
»Bitte was?« Der Pfleger reißt seine Mandelaugen weit auf.
»Tollwut!«
»Die ist längst ausgerottet. So etwas gibt’s schon lange nicht mehr in Deutschland.« Er greift zu meinem Rollstuhl. »Okay, zurück ins Bett mit Ihnen!
Er schiebt mich wieder in mein Zimmer, hebt mich auf mein Bett, stellt den Teller mit Gulasch auf das ausziehbare Nachttischchen und schaut mich dabei aufmerksam und freundlich an. Was er da sieht, veranlasst ihn dann doch dazu weiterzureden.
»War Ihr Freund etwa in Indien? Ich habe gehört, hier gab’s mal einen Fall, der in Indien von einem tollwütigen Hund gebissen worden ist. Aber wenn sich die Symptome erst mal zeigen, kann man nichts mehr machen. Teuflische Sache...«
Ich bin froh, dass ich wieder liege, denn plötzlich zittere ich am ganzen Körper, aber nicht wegen der Anstrengung.
»Es war doch zu viel für Sie. Hoffen wir, dass die Schwestern das nicht mitkriegen.«
»Ich werde natürlich schweigen wie ein Grab.« Toller Vergleich, Toni, spitze! »Aber ich hätte noch eine Bitte. Als ich eingeliefert wurde, hatte ich einen Kopfkissenbezug dabei, in dem sehr wichtige Sachen waren. Wissen Sie, wo der ist?« Und um ihm einen Gefallen zu tun, spieße ich ein paar Spätzle mit der Gabel auf und schiebe sie mir in den Mund.
Der Pfleger beobachtet das wohlwollend. Aber zu meiner Frage zuckt er mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht hat ihn jemand in den Schrank gepackt. Soll ich mal nachsehen?«
»Bitte!«
Er geht zu dem Schrank hinter der Tür und findet den Sack auf Anhieb. »Das klappert ja ganz schön.« Er späht neugierig hinein und schüttelt anschließend den Kopf.
»Oh, das geht allerdings nicht. In unserer Klinik ist absolutes Handyverbot.«
»Aber ich will gar nicht telefonieren.«
»Trotzdem: Das schließen wir lieber im Schrank der Oberschwester ein.«
Er holt das Handy aus dem Sack und pfeift dann laut. »Mann, das Teil muss ja mindestens hundert Jahre alt sein. So eins hatte ich auch mal, als das gerade aufkam mit den Videos. War echt cool, ich glaube 2004 war das...«
Großartig, denke ich, super.
»Damit kann man nicht mehr telefonieren«, beeile ich mich zu versichern, »da sind nur ein paar Sachen drauf, die ich liebe. Bilder von Valle. Wir sind schon so lange zusammen...« Ich versuche es mit meinem nettesten Hundeblick. »Bitte.«
Er reicht mir den Sack. »Wenn die Oberschwester das sieht, ist es ganz schnell weg. Apropos, ich muss dringend weg, ich bin schon wieder im Verzug, bis heute Abend dann.«
Damit stürmt er aus dem Raum.
Und ich mache mich über den Kissenbezug her.