Kapitel 2

Noah

S tanton . Die schöne, wütende Frau aus dem Buchladen war diese verdammte Georgia Stanton.

Zum ersten Mal seit Jahren war ich sprachlos.

Ich hatte diesen Moment, über den ich so oft geschrieben hatte, nie zuvor selbst erlebt, den Augenblick, in dem man einen fremden Menschen ansieht und es einfach weiß.

Bis zu der Sekunde im Laden, als sie sich umgedreht hatte, in der Hand ein Buch meiner Lieblingsautorin, und mich anschaute, als hätte ich eine Antwort auf die Traurigkeit in ihren Augen – da war dieser Moment plötzlich da gewesen … und verschwunden, als mir aufging, was sie gerade sagte.

Niemand schreibt so leidvoll-deprimierende Romane, getarnt als Liebesgeschichten, wie Noah Harrison. Diese Erklärung hatte sich, wie mit einem Brandeisen, unter Qualen und Blasen werfend in mein Gehirn eingebrannt.

«Noah?», sagte Chris auffordernd und wies auf den letzten freien Platz. Ich fühlte mich, als wäre ich mitten in eine Intervention geplatzt.

«Natürlich», murmelte ich, ging aber auf Georgia zu. «Es ist schön, Sie offiziell kennenzulernen, Georgia.»

Ihr Händedruck war warm, ganz im Gegensatz zu ihren kristallklaren blauen Augen. Ich war machtlos gegen dieses Gefühl, gegen diese starke, unmittelbare Anziehungskraft, auch wenn ich jetzt wusste, wer sie wirklich war. Ich konnte nichts dagegen tun. Im Buchladen hatten ihre Aussagen meiner sonst so typischen Schlagfertigkeit einen Dämpfer verpasst, und jetzt fehlten mir schon wieder die Worte.

Sie war umwerfend – wirklich hinreißend. Ihr Haar fiel in Wellen herab, so schwarz, dass es beinahe blau schimmerte, und der Kontrast zu ihrer zarten, elfenbeinfarbenen Haut ließ mich etwa eine Million Schneewittchen-Vergleiche anstellen. Die ist nichts für dich, Morelli. So eine will nichts mit dir zu tun haben.

Aber ich wollte sie . Ich war dazu bestimmt, diese Frau kennenzulernen – das spürte ich mit jeder Faser meines Wesens.

«Sie haben wirklich Ihre eigenen Bücher gekauft?», fragte sie und zog eine Braue hoch, während ich ihre Hand losließ.

Mein Kiefer zuckte. Natürlich war es das, was ihr in Erinnerung geblieben war. «Hätte ich sie zurücklegen und Sie glauben lassen sollen, Ihre Meinung hätte mich überzeugt?»

«Ich kann verstehen, dass Sie es durchgezogen haben.» Ein Winkel ihres unglaublich küssenswerten Mundes hob sich. «Aber es hätte diese Situation vielleicht ein bisschen weniger peinlich gemacht.»

«Ich glaube, der Zug ist in dem Moment abgefahren, als Sie gesagt haben, dass sich meine Bücher alle gleich lesen.» Und der Sex unbefriedigend ist . Alles, was ich bräuchte, wäre eine einzige Nacht, dann würde ich ihr zeigen, wie befriedigend er sein konnte.

«So ist es ja auch.»

Alle Achtung, sie legte sogar noch einmal nach. Ich war offenbar nicht der einzige Sturkopf hier.

Die andere Frau schnappte nach Luft, und sowohl Chris als auch Adam murmelten etwas und erinnerten mich damit daran, dass dies kein Freundschaftsbesuch war.

«Noah Harrison.» Ich schüttelte der älteren Frau die Hand, wobei ich ihre Gesichtszüge und ihren Hautton musterte. Das musste Georgias … Mutter sein?

«Ava Stanton», erwiderte sie mit einem strahlend weißen Lächeln. «Ich bin Georgias Mutter.»

«Obwohl sie leicht als Schwestern durchgehen könnten», fügte Chris mit einem kleinen Glucksen hinzu.

Ich unterdrückte den Drang, mit den Augen zu rollen.

Im Gegensatz zu Georgia, sodass ich mir ein Lächeln verkneifen musste.

Wir nahmen unsere Plätze ein, ich saß Georgia direkt gegenüber. Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und schlug die Beine übereinander, wobei sie es irgendwie schaffte, in ihrer Jeans und dem eng anliegenden schwarzen Shirt entspannt und königlich zugleich auszusehen.

Moment . In meinem Hinterkopf regte sich etwas, als würde ich sie wiedererkennen. Ich hatte sie schon einmal irgendwo gesehen – schon vor der Begegnung im Buchladen. Bilder von ihr in einem eleganten Kleid auf irgendeiner Veranstaltung schossen mir durch den Kopf. Hatten sich unsere Wege schon einmal gekreuzt?

«Also, Noah, warum erzählst du Georgia – und natürlich auch Ava – nicht, warum sie dir Scarlett Stantons unvollendetes Meisterwerk anvertrauen sollten», sagte Chris drängend.

Ich blinzelte. «Wie bitte?» Ich war hier, um das Manuskript entgegenzunehmen. Punkt. Das war meine einzige Bedingung gewesen, bevor ich begeistert zugesagt hatte. Ich wollte der Erste sein, der es liest.

Adam räusperte sich und warf mir einen flehenden Blick zu.

War das sein Ernst?

«Noah?» Sein Blick deutete vielsagend zu den Frauen.

Schätze ja . Ich wusste nicht, ob ich lauthals loslachen oder abfällig schnauben sollte. «Weil ich verspreche, es nicht zu verlieren?» Meine Stimme wurde zum Ende hin immer höher und verwandelte meine Aussage in eine Frage.

«Beruhigend», bemerkte Georgia.

Ich verengte die Augen zu schmalen Schlitzen.

«Noah, komm, wir gehen kurz ins Foyer», schlug Adam vor.

«Ich hole ein paar Drinks für alle!», bot Ava an und stand schnell auf.

Georgia wandte den Blick ab, als ich Adam durch die gläsernen Flügeltüren des Salons in den Eingangsbereich mit der gewölbten Decke folgte.

Angesichts dessen, was ich über Stantons Vermögen wusste, war das Haus bescheiden, allerdings zeugte die handwerkliche Kunstfertigkeit, mit der die Zierleisten aus Holz und das Geländer der geschwungenen Treppe gearbeitet waren, sowohl von der Qualität der Bauweise als auch vom Geschmack der Vorbesitzerin. So, wie ihre makellosen, mitreißenden Geschichten reich an Details gewesen waren, ohne aufgesetzt zu wirken, so war ihr Haus feminin eingerichtet, ohne Gefahr zu laufen, in die Kategorie «Blumenmuster aus der Hölle» abzugleiten. Es war unaufdringlich und elegant … und erinnerte mich an Georgia, nur ohne ihr Temperament.

«Wir haben ein Problem.» Adam fuhr sich mit den Händen über sein dunkelblondes Haar und warf mir einen Blick zu, den ich bisher nur einmal gesehen hatte – als er einen Tippfehler auf einem meiner Cover gefunden hatte, das bereits im Druck war.

«Erzähl.» Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Adam war einer meiner engsten Freunde und der besonnenste Mensch, den es im New Yorker Verlagswesen gab. Wenn er also der Meinung war, wir hätten ein Problem, dann hatten wir auch eins.

«Die Mutter hat uns glauben lassen, dass sie die Tochter ist», platzte er heraus.

«Was soll denn der Trick?» Sicher, beide Frauen waren schön, aber Ava war eindeutig ein oder zwei Jahrzehnte älter.

«Es war ein Wer-hat-die-Rechte-an-diesem-Buch-Trick.»

Mein Magen drohte, das Mittagessen wieder auszustoßen. Mit einem Mal ergab das hier einen Sinn – die Mutter wollte, dass ich das Buch schrieb … nicht Georgia. Heilige Scheiße .

«Willst du damit etwa sagen, dass der Vertrag, über den wir wochenlang verhandelt haben, kurz davor steht, zu platzen?» Mein Kiefer verkrampfte sich. Ich hatte mir nicht nur Zeit für dieses Projekt genommen, ich hatte mein ganzes Leben dafür aufgegeben, war dafür aus Peru nach Hause gekommen. Ich wollte dieses verdammte Buch, und der Gedanke, dass es mir durch die Finger gleiten könnte, war unerträglich.

«Genau das will ich dir damit sagen – es sei denn, du kannst Georgia Stanton davon überzeugen, dass du der perfekte Autor bist, um das Buch zu beenden.»

«Fuck.» Ich lebte für Herausforderungen, verbrachte meine Freizeit damit, meinen Geist und meinen Körper beim Klettern und Schreiben an seine Grenzen zu treiben, und dieses Buch war mein mentaler Everest – etwas, das mich aus meiner Komfortzone holen würde. Die Stimme einer anderen Autorin zu meistern, vor allem einer so beliebten wie Scarlett Stanton, wäre nicht nur eine professionelle Leistung. Für mich stand auch persönlich viel auf dem Spiel.

«Genau», stimmte Adam zu.

«Ich habe sie heute Morgen getroffen. Sie hasst meine Bücher.» Was nichts Gutes verhieß.

«Das habe ich schon mitbekommen. Bitte sag mir, dass du dich nicht, wie sonst immer, wie ein Arschloch aufgeführt hast?» Seine Augen verengten sich leicht.

«Ähm, Arschloch ist ein relativer Begriff.»

«Großartig.» Sein Tonfall triefte vor Sarkasmus.

Ich rieb mir über die Stelle zwischen den Augenbrauen, während ich überlegte, wie ich die Meinung einer Frau ändern konnte, die ihren Eindruck von meinem Schreiben offensichtlich schon lange vor unserem Treffen zementiert hatte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal etwas, das ich so sehr wollte, durch harte Arbeit oder ein wenig Charme nicht bekommen hätte, und es lag nicht in meiner Natur, klein beizugeben oder eine Niederlage einzugestehen.

«Wie wäre es, wenn ich dir ein oder zwei Minuten Zeit gebe, um deine Gedanken zu sammeln, und du mir dann ein Wunder präsentierst?» Adam klopfte mir auf die Schulter und ließ mich in der Eingangshalle stehen, während Ava in der Küche herumhantierte.

Ich zog mein Handy aus der Gesäßtasche und rief die einzige Person an, von der ich wusste, dass sie mir einen völlig unvoreingenommenen Rat geben würde.

«Was willst du, Noah?» Adriennes Stimme übertönte den Lärm ihrer Kinder im Hintergrund.

«Wie kann ich jemanden, der meine Bücher hasst, davon überzeugen, dass ich kein schlechter Autor bin?», fragte ich leise und wandte mich der Tür zum Büro zu.

«Hast du wirklich nur angerufen, damit ich dein Ego streichle?»

«Ich mein es ernst.»

«Es hat dich doch noch nie interessiert, was die Leute von dir denken. Was ist los?» Ihre Stimme wurde weicher.

«Es ist unglaublich kompliziert, und ich habe ungefähr zwei Minuten Zeit, um eine Antwort auf die Frage zu finden.»

«Okay. Also, erstens, du bist kein schlechter Autor, und Millionen von Menschen bewundern dich, was das beweist.» Die Hintergrundgeräusche verstummten, als hätte sie gerade eine Tür geschlossen.

«Du kannst gar nicht anders, als so was zu sagen – du bist meine Schwester.»

«Und ich hasse mindestens elf deiner Bücher», erwiderte sie fröhlich.

Ich lachte schnaubend. «Das ist eine seltsam genaue Zahl.»

«Ziemlich genau sogar. Ich kann dir auch sagen, welche Titel …»

«Das hilft mir gerade nicht weiter, Adrienne.» Ich studierte die kleine Sammlung von Fotos auf dem Tisch, dazwischen befanden sich ein paar Glasvasen. Eine davon, in Form einer Welle, war offenbar mundgeblasen und stand neben dem Bild eines kleinen Jungen, es war ungefähr Ende der Vierzigerjahre aufgenommen. Eine andere Aufnahme zeigte einen Debütantinnenball – vielleicht Avas? –, eine weitere ein Kind in einem Garten, wahrscheinlich Georgia. Schon damals hatte sie ernst und ein wenig traurig ausgesehen, als hätte die Welt sie bereits im Stich gelassen. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass es von Vorteil ist, wenn ich Georgia Stanton erzähle, dass meine eigene Schwester meine Bücher nicht mag.»

«Was ich damit sagen will, ist, dass ich deine Plots gehasst habe, nicht deinen Schreib …» Adrienne hielt inne. «Warte, hast du gerade Georgia Stanton gesagt?»

«Ja.»

«Heilige Scheiße», murmelte sie.

«Ich habe wahrscheinlich nur noch dreißig Sekunden.» Jeder Schlag meines Herzens war wie das Herunterzählen eines Countdowns. Wie hatte das alles plötzlich so schiefgehen können?

«Was zum Teufel hast du mit Scarlett Stantons Urenkelin zu schaffen?»

«Erinnerst du dich noch, dass ich ganz zu Beginn sagte, das hier sei unglaublich kompliziert ? Und woher weißt du überhaupt, wer Georgia Stanton ist?»

«Wie sollte ich das nicht wissen?»

Ava kam mit einem kleinen Tablett in den Händen durch die Eingangshalle geschlendert. Die Gläser darauf beinhalteten offenbar Limonade. Sie schenkte mir ein Lächeln, dann schlüpfte sie durch die leicht geöffnete Flügeltür.

Mir lief die Zeit davon. «Also, Scarlett Stanton hat ein unvollendetes Manuskript hinterlassen, und Georgia – die meine Bücher hasst – muss entscheiden, ob ich es zu Ende schreiben darf.»

Meine Schwester schnappte nach Luft.

«Sag was.»

«Okay, okay.» Sie verstummte, und ich konnte regelrecht hören, wie sich die Rädchen in ihrem schnellen Verstand drehten. «Du sagst Georgia, dass Damian Ellsworth unter keinen Umständen als Regisseur, Produzent oder sonst wie mit der Geschichte zu tun haben wird.»

Ich runzelte die Stirn. «Es geht hier nicht um die Filmrechte.» Der Typ war als Regisseur sowieso beschissen. Ich hatte ihn schon bei mehr als einer meiner Verfilmungen abblitzen lassen.

«Ich bitte dich. Wenn das hier ein Scarlett Stanton wird, den du zu Ende geschrieben hast, dann ist das eine richtig große Sache.»

An dem Punkt widersprach ich ihr nicht. Scarlett hatte es in den vierzig Jahren ihres Schaffens mit jedem ihrer Bücher auf die Bestsellerliste der New York Times geschafft. «Was hat Damian Ellsworth mit den Stantons zu tun?»

«Oha. Ich weiß tatsächlich mal etwas, was du nicht weißt. Wie ungewöhnlich …», sinnierte sie.

«Adrienne», knurrte ich.

«Lass es mich noch einen Moment auskosten», flötete sie.

«Ich werde diesen Auftrag verlieren.»

«Na schön.» Ich konnte förmlich sehen, wie sie mit den Augen rollte. «Ellsworth ist – seit dieser Woche – Georgias Ex-Mann. Er hat bei Die Winterbraut Regie geführt …»

«Nach dem Buch von Stanton? Das über den Mann, der in einer lieblosen Ehe gefangen ist?»

«Ja, genau das. Wie auch immer, man hat ihn erwischt, wie er seine Frau mit Paige Parker betrogen hat – bitter, nicht wahr? Das Resultat dieser Affäre ist jetzt jeden Tag fällig. Gehst du nie einkaufen? Georgia war in den letzten sechs Monaten auf der Titelseite jedes Klatschblatts. Man nennt sie die Eiskönigin, weil sie so wenig Gefühl gezeigt hat, und, na ja, du weißt schon, wegen Damians Film.»

«Ist das dein Ernst?» Es war eine clevere, aber grausame Anspielung auf die hochmütige erste Ehefrau in diesem Buch, die, wenn ich mich recht erinnerte, starb, bevor der Held und die Heldin ihr Happy End fanden.

«Es ist wirklich traurig.» Ihre Stimme klang abwesend. «Sie ist der Presse immer aus dem Weg gegangen, aber jetzt … Na ja, die Schlagzeilen sind überall.»

«Oh, Scheiße.» Ich knirschte mit den Zähnen. Das hatte keine Frau verdient. Mein Vater hatte mir beigebracht, dass ein Mann nur so viel wert war wie sein Wort, und das ultimative Wort, das waren Schwüre. Es gab einen Grund, warum ich nie geheiratet hatte. Ich machte keine Versprechen, die ich nicht halten konnte, und ich war noch nie mit einer Frau zusammen gewesen, für die ich bereit gewesen wäre, alle anderen aufzugeben. «Okay. Danke, Adrienne.» Ich ging hinüber zu den Türen des Salons.

«Viel Glück. Warte – Noah?»

«Ja?» Ich legte meine Finger auf die Messingklinke.

«Gib ihr recht.»

«Wie bitte?»

«Es geht nicht um dich, sondern um ihre Urgroßmutter. Lass dein riesiges Ego außen vor.»

«Ich habe kein …»

«Doch, hast du.»

Ich schnaubte. Die Überzeugung, der Beste in dem zu sein, was man tat, war keine Schande, aber Liebesromane waren nicht das Genre, welches ich normalerweise schrieb.

«Sonst noch was?», fragte ich sarkastisch. Wenn es darum ging, jede meiner noch so kleinen Schwächen zu beleuchten, war auf meine Schwester Verlass.

«Hmmm. Du solltest ihr von Mom erzählen.»

«Nein.» Auf keinen Fall.

«Noah, ich sage dir, Mädchen stehen auf Typen, die ihre Mom so sehr lieben, dass sie ihr sogar vorlesen. Damit gewinnst du sie für dich. Vertrau mir. Aber versuch nicht, dich durchzuflirten.»

«Ich flirte nicht …»

Sie lachte. «Ich kenne dich viel zu gut, und ich habe dich lieb, aber ich habe Fotos von Georgia Stanton gesehen, und sie ist eine Nummer zu groß für dich.»

In dem Punkt konnte ich ihr nicht widersprechen. «Wie nett. Danke, ich hab dich auch lieb. Wir sehen uns nächstes Wochenende.»

«Bitte nichts Extravagantes!»

«Was ich meiner Nichte zum Geburtstag schenke, geht nur sie und mich etwas an. Wir sehen uns dann.» Ich legte auf und betrat das Wohnzimmer. Alle Gesichter außer dem von Georgia wandten sich in meine Richtung, eines hoffnungsvoller als das andere.

Ich ließ mir Zeit, zu meinem Platz zurückzukehren, und hielt inne, um das Foto zu betrachten, das Georgias Aufmerksamkeit fesselte.

Es zeigte Scarlett Stanton, wie sie mit Brille auf der Nase an einem massiven Schreibtisch saß und auf der alten Schreibmaschine tippte, mit der sie alle ihre Bücher geschrieben hatte. Und auf dem Boden, mit dem Rücken an den Schreibtisch gelehnt, saß Georgia, ungefähr im Alter von zehn Jahren, und las.

Sie besaß die Rechte an dem Buch ihrer Urgroßmutter … nicht ihre Mutter, die Scarletts Enkelin war, was bedeutete, dass es hier eine Familiendynamik gab, von der ich keine Ahnung hatte.

Statt mich zu setzen, stellte ich mich, mit dem Rücken zum Kamin, hinter den mir zugewiesenen Sessel, hielt mich leicht an den Seiten fest und musterte Georgia, wie eine Felswand, die ich unbedingt erklimmen wollte, in der Hoffnung, den richtigen Weg, den besten Pfad zu finden. «Nun, die Sache ist so», sagte ich direkt an Georgia gewandt und ignorierte dabei alle anderen im Raum, «Sie mögen meine Bücher nicht.»

Sie hob eine Augenbraue, legte ihren Kopf leicht schief.

«Das ist okay, denn ich liebe die Bücher von Scarlett Stanton. Alle. Jedes einzelne. Ich hasse Liebesromane nicht, auch wenn Sie das von mir denken. Ich habe ihre alle zweimal gelesen, manche sogar noch öfter. Sie hatte eine einzigartige Stimme, einen unglaublichen, intuitiven Schreibstil und eine Art, Emotionen hervorzurufen, die mich einfach umhaut.» Ich zuckte mit den Schultern.

«Darin sind wir uns einig», sagte Georgia, klang aber nicht bissig.

«Es gibt in diesem Genre niemanden, den man mit Ihrer Urgroßmutter vergleichen könnte, und ich würde ihr Buch keinem anderen anvertrauen, dabei kenne ich mehr als nur ein paar Autoren. Ich bin derjenige, den Sie brauchen. Ich bin derjenige, der diesem Buch gerecht werden wird. Jeder andere, der das Niveau hat, das dieses Buch verlangt, wird es auf seine Weise verdrehen oder ihm seinen eigenen Stempel aufdrücken wollen. Ich nicht», versprach ich.

«Nicht?» Sie verlagerte ihr Gewicht auf die andere Seite.

«Wenn Sie mich dieses Buch fertigstellen lassen, wird es ihr Buch sein. Ich werde unermüdlich daran arbeiten, dass es sich so liest, als hätte sie die letzte Hälfte selbst geschrieben. Sie werden nicht erkennen können, wo sie aufgehört hat zu schreiben und wo ich angefangen habe.»

«Das letzte Drittel», korrigierte Ava mich.

«Was auch immer nötig sein wird.» Meine Augen ließen Georgias unerschütterlichen Blick nicht los. Was zum Teufel hatte Ellsworth sich nur dabei gedacht? Sie war unglaublich, atemberaubend schön, mit wunderbaren Kurven und einem Verstand, der so scharf war wie ihre Zunge. Kein Mann, der bei Sinnen war, würde eine Frau wie sie betrügen. «Ich weiß, dass Sie Zweifel haben, aber ich werde es so lange versuchen, bis ich Sie für mich gewonnen habe.»

Konzentrier dich auf das Geschäftliche .

«Weil Sie so gut sind», sagte sie mit deutlichem Sarkasmus in ihrer Stimme.

Ich verkniff mir ein Lächeln. «Weil ich wirklich verdammt gut bin.»

Sie musterte mich aufmerksam, die Standuhr neben uns zählte tickend die Sekunden, dann schüttelte sie den Kopf. «Nein.»

«Nein?» Ich riss die Augen auf, mein Kiefer verkrampfte.

«Nein. Dieses Buch ist für meine Familie etwas zutiefst Persönliches …»

«Es ist auch für mich etwas Persönliches.» Scheiße . Möglicherweise verlor ich das hier.

Ich ließ den Sessel los und rieb mir über den Nacken. «Meine Mutter hatte einen schweren Autounfall, als ich sechzehn war, und … ich habe den Sommer an ihrem Bett verbracht und ihr die Bücher Ihrer Urgroßmutter vorgelesen.» Ich ließ weg, dass dies ein Teil der Wiedergutmachung war, die mein Vater verlangt hatte. «Sogar die befriedigenden Teile.» Meine Mundwinkel wanderten gleichzeitig mit ihren Augenbrauen in die Höhe. «Es ist etwas Persönliches.»

Ihr Blick veränderte sich, wurde für einen Moment weicher, doch dann reckte sie das Kinn. «Wären Sie bereit, auf Ihren Namen auf dem Cover zu verzichten?»

Mein Magen revoltierte. Verdammt, setzte sie direkt zum Todesstoß an, oder wie?

Lass dein Ego außen vor . Adrienne war immer die Vernünftigere von uns beiden gewesen, aber ihren Rat in diesem Moment zu beherzigen, war ungefähr so schmerzhaft, wie meine Seele über eine Käsereibe zu schieben.

Hatte ich schon mein ganzes Leben davon geträumt, meinen Namen neben dem von Scarlett Stanton zu sehen? Selbstverständlich. Aber es ging um viel mehr als das. Ich hatte nicht gelogen – die Frau war eines meiner Idole gewesen, und bis heute las meine Mutter ihre Bücher am liebsten … noch vor meinen.

«Wenn ich Sie dadurch überzeugen kann, dass ich wegen des Buches und nicht wegen der Anerkennung hier bin, dann bin ich damit einverstanden, dass mein Name in Verbindung mit diesem Manuskript nicht auftaucht.» Meine Antwort kam langsam, ich wollte, dass sie wusste, ich meinte es ernst.

Ihre Augen blitzten überrascht auf, und ihr Mund öffnete sich. «Sind Sie sich da sicher?»

«Ja.» Mein Kiefer zuckte. Zuckte noch einmal. Das war in etwa so, als wenn ich eine Klettertour machen und sie nicht dokumentieren würde, oder? Ich würde wissen, dass ich es geschafft hatte, auch wenn es sonst niemand tat. Wenigstens würde ich der Erste sein, der das Manuskript in die Hände bekam, noch vor Adam oder Chris. «Aber ich hätte gern die Erlaubnis, es meiner Familie zu sagen. Zumal ich das bereits getan habe.»

Ein Lachen blitzte wie ein Funke in ihrem Gesicht auf, aber sie hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. «Falls, und nur falls , ich zustimme, dass Sie es fertigstellen, will ich das Recht haben zu entscheiden, ob es freigegeben wird.»

Mein Griff um den Sessel wurde fester, meine Finger gruben sich in den Stoff.

Adam spuckte fast seine Limonade aus.

Chris murmelte ein Schimpfwort.

Avas Aufmerksamkeit schwenkte von dem Gesicht ihrer Tochter zu meinem, wie bei einem Tennismatch.

Trotz all dem fühlte es sich irgendwie so an, als wären Georgia und ich die einzigen Menschen in diesem Raum. Da war eine Spannung zwischen uns – eine Verbindung. Ich hatte sie im Buchladen schon gespürt, und jetzt war sie noch stärker. Ich war mir nicht sicher, ob es die Herausforderung, die Anziehungskraft, die Möglichkeit, dieses Manuskript zu lesen, oder etwas anderes war, aber es war da, so spürbar wie elektrischer Strom.

«Wir können auf jeden Fall über redaktionelle Eingriffe Ihrerseits sprechen, aber Noah hat bei seinen letzten zwanzig Büchern immer vertraglich zugesichert bekommen, dass er über die finale Freigabe seiner Manuskripte entscheidet», konterte Adam sanft. Er wusste, in dem Punkt verhandelte ich nicht. Wenn ich einmal wusste, wohin eine Geschichte gehen sollte, ließ ich mich von den Figuren dorthin führen, komme was wolle, Lektorat oder sonst etwas.

Aber das war nicht meine Geschichte, oder? Es war das Vermächtnis ihrer Urgroßmutter.

«Okay. Ich bin damit einverstanden, das Kommando über das Schiff abzugeben.» Es widerstrebte mir mit jeder Faser meines Körpers, aber ich würde es tun.

Sowohl Chris als auch Adam starrten mich an.

«Dieses eine Mal», fügte ich mit einem Blick in Richtung meines Verlagsteams hinzu. Mein Agent würde sich in die Hose machen, wenn ich hier einen Präzedenzfall schuf.

Langsam, ganz langsam, lehnte sich Georgia in ihrem Sessel zurück. «Ich muss es erst lesen und dann mit Helen – Grans Agentin – sprechen.»

Ich fluchte innerlich, nickte aber. So viel zu dem Thema, der Erste zu sein. «Ich wohne im Roaring Creek Bed and Breakfast, die Adresse …»

«Ich weiß, wo das ist.»

«Gut. Ich bleibe bis Ende der Woche. Wenn wir vorher einen Vertrag aushandeln können, nehme ich das Manuskript und die Briefe mit nach New York und fange an.» Zum Glück ging ich gerne Klettern, und hier gab es mehr als genug Möglichkeiten dazu, die ich wahrnehmen würde, während sie eine Entscheidung traf. So ungern ich es auch zugeben wollte, aber dieser Abschluss lag jetzt nicht mehr in meiner Hand.

«Einverstanden.» Sie nickte. «Und Sie können Ihren Namen auf das Cover setzen.»

Mein Herz machte einen Sprung. Ich hatte ihren Test offenbar bestanden.

Chris, Adam und Ava stießen einen kollektiven Seufzer aus. Plötzlich riss Georgia die Augen auf und wandte sich mit einem Ruck an ihre Mutter. «Augenblick.»

Jeder Muskel in meinem Körper verkrampfte sich.

«Was für Briefe?»