Kapitel 4

Juli 1940

Middle Wallop, England

D as Licht der Sonne fiel flimmernd durch die Blätter der riesigen Eiche und ließ sich in Tupfen auf Scarlett nieder, die auf einer dicken karierten Decke lag und ihren ersten freien Tag seit fast einer Woche in vollen Zügen genoss. Nicht, dass sie etwas gegen viel Beschäftigung hatte. Wenn sie arbeitete, ging das mit einer Art Rausch einher, der sie geradezu süchtig machte.

Aber ein herrlich kühler Tag, eine steife Brise und ein gutes Buch hatten auch ihren Reiz.

«Bin gerade mit Lesen fertig geworden», sagte Constance, die am Picknicktisch saß und mit einem gefalteten Blatt Papier winkte.

«Kein Interesse», erwiderte Scarlett und blätterte die Seite um, um mehr über die Missgeschicke von Emma zu erfahren. Die Wahl ihrer Bücher war ein weiterer Grund für ihre Mutter, sie zu kritisieren, ein weiteres Beispiel dafür, dass sie deren unrealistische Erwartungen nicht erfüllen konnte.

«Interessiert es dich gar nicht, was Mummy zu erzählen hat?»

«Nicht, wenn es mit Lord Sozialer Aufsteiger zu tun hat.»

«Soll ich dir den Brief vorlesen?» Constance beugte sich zu ihrer Schwester, wobei sie sich mit der Hand auf der Bank abstützte, damit sie nicht herunterfiel.

«Nein, danke.»

Constance seufzte schwer, dann wandte sie sich ab. «Wie du meinst.»

Scarlett konnte die Enttäuschung ihrer Schwester förmlich riechen. «Warum erzählst du mir nicht stattdessen von dem anderen Brief, Poppet?» Sie schielte über den Einband ihres Buches und bemerkte, dass Constances Augen aufleuchteten.

«Edward schreibt, dass ihm unsere gemeinsame Zeit gefallen hat und dass er hofft, seinen Urlaub bald wieder mit unserem koordinieren zu können.»

Scarlett stützte sich auf ihre Ellbogen. «Du könntest dich auch jederzeit mit ihm in Ashby treffen. Ich weiß, dass ihr beide diesen Ort liebt.» Auch sie mochte das kleine Anwesen gern, aber ihr Gefühl war nichts im Vergleich zu dem, was Constance für den Ort empfand, an dem sie sich in Edward verliebt hatte.

«Ja, das könnten wir.» Constance seufzte und fuhr mit ihren Fingern über den Umschlag. «Aber die lange Anfahrt lohnt sich nicht. Es ist einfacher, wenn wir uns in London treffen.» Sie blickte in die Ferne, als könnte sie dort Edwards Einheit sehen. Dann weiteten sich ihre Augen, und ihr Blick wanderte zurück zu Scarlett. «Du siehst wunderschön aus», platzte sie heraus. «Versuch, dich zu entspannen.»

«Wie bitte?» Scarlett runzelte die Stirn, und die Furchen wurden noch tiefer, als ihre Schwester die wenigen Sachen auf dem Tisch zusammensuchte.

«Dein Haar, dein Kleid, alles ist perfekt!» Constance drückte ihre Sachen an ihre Brust und schwang ihre Beine über die Bank. «Ich bin dann mal … woanders!»

«Du bist was?»

«Ich glaube, sie will uns ein bisschen Privatsphäre verschaffen.»

Scarletts Blick huschte in Richtung der tiefen Stimme, von der sie seit einer Woche träumte, und bemerkte Jameson Stanton, der sich ihrer Decke näherte.

Ihr Herz schlug im Galopp. Sie hatte täglich die Liste der Gefallenen überprüft, und nachdem Brighton gestern Abend bombardiert worden war, verspürte sie tiefe Erleichterung, ihn hier leibhaftig vor sich zu sehen.

Er trug bereits seine Fliegeruniform, nur die Handschuhe und die gelbe Signalweste fehlten, und diese kühle Brise, die sie so sehr mochte, spielte mit seinem Haar. Sie brachte sich in eine sitzende Position und kämpfte gegen den Impuls an, die Falten ihres Kleides glatt zu streichen.

Es war ein einfaches, blau kariertes Hemdblusenkleid, mit einem Gürtel um die Taille, einem züchtigen Ausschnitt und Ärmeln, die ihr fast bis zu den Ellbogen reichten, aber im Vergleich zu der robusten, dem Dienst angemessenen Uniform, die sie bei ihrer letzten Begegnung getragen hatte, fühlte sie sich darin fast nackt.

Wenigstens trug sie Schuhe.

«Lieutenant», brachte sie als Begrüßung heraus.

«Lassen Sie mich Ihnen aufhelfen.» Er hielt ihr die Hand hin. «Ich kann mich auch zu Ihnen setzen», bot er mit einem weichen Lächeln an, das sie mit jeder Faser ihres Körpers spürte. Allein der Gedanke daran ließ ihr die Hitze in die Wangen schießen. Es war eine Sache, ihrer Mutter gegenüber zu betonen, dass sie eine moderne Frau war, aber eine ganz andere, sich auch so zu verhalten.

«Das ist nicht nötig.» Ihre Hand zitterte, als sie seine ergriff. Er zog sie mit einer geschmeidigen Bewegung auf die Füße, und sie fing ihren Schwung ab, indem sie sich mit der Hand an seiner muskulösen Brust abstützte. Unter ihren Fingerspitzen war nichts Weiches oder Nachgiebiges.

«Danke», sagte sie, wich schnell zurück und löste damit die Verbindung zwischen ihnen. «Womit habe ich diese Ehre verdient?» Sie fühlte sich entblößt, war überwältigt. Alles an ihm war zu viel. Seine Augen waren zu grün, sein Lächeln zu charmant, sein Blick zu unverblümt. Sie griff nach ihrem Buch und hielt es sich vor die Brust, als könnte es ihr wenigstens einen Hauch von Schutz bieten.

«Ich hatte gehofft, meine Einladung zum Essen einlösen zu können.»

Er machte keinen Schritt vor, aber die Atmosphäre zwischen ihnen war derart aufgeladen, dass sie das Gefühl hatte, sie bewegten sich aufeinander zu und würden, wenn sie nicht aufpasste, zusammenstoßen.

«Heute Abend?», quietschte sie.

***

«H eute Abend», sagte er und bemühte sich, seinen Blick auf ihr Gesicht zu richten und nicht auf die Rundungen ihres Körpers. Scarlett in Uniform war schon atemberaubend, aber sie in diesem Kleid unter dem Baum liegend zu sehen, haute ihn vom Hocker. Ihr Haar war locker hochgesteckt und genauso glänzend und schwarz wie letzte Woche, nur wurde es diesmal nicht von ihrer Dienstmütze verdeckt. Sie blinzelte zu ihm auf. Ihre großen Augen waren sogar noch blauer, als er sie in Erinnerung hatte. «Um genau zu sein, genau jetzt.» Er lächelte, er konnte gar nicht anders. Sie hatte einfach diese Wirkung auf ihn. Er hatte schon die ganze Woche über gelächelt, dieses Abendessen geplant und gehofft, dass Mary – Donaldsons derzeitiges Mädchen – nicht irrte und Scarlett wirklich frei hatte.

Ihre weichen Lippen öffneten sich überrascht. «Sie wollen jetzt sofort essen gehen?»

«Jetzt sofort», versicherte er ihr mit einem Grinsen, wobei sein Blick auf das Buch fiel, das sie umklammert hielt. «Emma kann auch mitkommen, wenn Sie wollen.»

«Ich …» Ihr Blick huschte nach links, in Richtung der Frauenunterkünfte.

«Sie hat Zeit!», rief Constance von der Veranda aus.

Scarlett verengte die Augen, und Jameson biss sich auf die Lippen, um sein Lachen zu unterdrücken.

«Sie wird gleich damit beschäftigt sein, ihre Schwester zu ermorden!», feuerte Scarlett zurück.

«Brauchen Sie Hilfe beim Vergraben der Leiche?», fragte Jameson und grinste, als Scarletts Blick sich schlagartig wieder ihm zuwandte. «Falls Sie vorhaben, Ihre Schwester zu ermorden, meine ich. Ich würde Sie natürlich lieber zum Abendessen ausführen, aber sollten Sie darauf bestehen, bin ich durchaus in der Lage zu graben – wenn es das ist, was dazu führt, Zeit mit Ihnen zu verbringen.»

Langsam breitete sich ein widerwilliges Lächeln auf Scarletts Gesicht aus, und sein Magen machte einen Hüpfer, wie mitten in einem Sinkflug.

«Sie wollen essen gehen?» Sie deutete auf seine Fliegeruniform.

«Das gehört alles zum Plan.»

Sie legte neugierig den Kopf schief. «Okay, mein Abend gehört Ihnen, Lieutenant.»

Er konnte sich gerade noch bremsen, die Arme in Siegerpose in die Luft zu reißen. Gerade noch so.

***

«S ie müssen den Verstand verloren haben», sagte Scarlett, als Jameson sie auf dem Vordersitz des Doppeldeckers anschnallte. Seine Hände bewegten sich rasch und zogen den Gurt fest. Ihr Kleid bauschte sich dadurch auf seltsame Weise um sie, obwohl er eine Decke über ihre Oberschenkel und Knie gelegt hatte. So geschickt, wie er seine Hände um ihre Taille gleiten ließ, hatte sie das Gefühl, dass er schon mehr als nur ein Mädchen auch ohne diese Barriere zwischen sich so berührt hatte.

«Sie sind diejenige, die eingestiegen ist», widersprach er und schloss den Gurt des Helms unter ihrem Kinn.

«Weil die Idee so absurd ist, dass ich mir sicher war, Sie hätten einen Scherz gemacht!» Das musste ein Scherz sein. Jeden Moment würde er sie aus dem Cockpit ziehen und sich über ihre Reaktion amüsieren.

«Ich mache nie Witze, wenn es ums Fliegen geht. Also, ich habe das Funkgerät auf die Trainingsfrequenz eingestellt, sodass ich Sie hören kann und Sie mich ebenfalls. Alles gut?»

«Sie meinen das wirklich ernst, oder?» Sie hob die Augenbrauen.

Er hielt inne, den Daumen auf ihrem Kinn, und jeglicher Anflug von Belustigung verschwand aus seinem Gesicht. «Das ist Ihre letzte Chance, einen Rückzieher zu machen. Wenn Sie rauswollen, schnalle ich Sie ab.»

«Und wenn ich das nicht möchte?», fragte sie und zog eine Augenbraue hoch.

«Dann nehme ich Sie mit in die Lüfte.» Sein Blick fiel auf ihre Lippen, und ihre Wangen wurden heiß.

Diese Aussicht ließ ihr Herz schneller schlagen. «Ich dachte, Sie führen mich zum Essen aus?»

«Dafür ist ein Flug erforderlich.» Sein Daumen streifte die Haut knapp unter ihrer Lippe, und ein angenehmer Schauer jagte über ihren Rücken.

«Und was passiert, wenn wir erwischt werden?», fragte sie, denn sie wusste, dass die Royal Air Force ihre Flugzeuge nicht an Piloten auslieh, damit die mit ihren Mädchen herumfliegen konnten – auch wenn sie nicht sein Mädchen war.

Mit einem teuflischen Grinsen, das ihr Herz höherschlagen ließ, zuckte er mit den Schultern. «Dann werden sie mich wohl zurück in die USA schicken, schätze ich.»

Sie schnaubte. «Wäre das wirklich so schlimm? Nach Hause geschickt zu werden?»

Sein Blick schweifte für den Hauch einer Sekunde ab, und seine Miene verfinsterte sich. «Schlimm ist es, wenn man nicht sicher sein kann, ob man wieder reingelassen wird.»

«Warum sollte man Sie nicht wieder hereinlassen?» Ihre Abenteuerlust sank, und ihr Magen krampfte sich zusammen.

«Wegen der Sache mit dem Landesverrat.» Er deutete auf das RAF -Abzeichen auf seiner Schulter. «Und ja, nach Hause geschickt zu werden, wäre eine Strafe. Ich bin hier, weil ich hier sein will, nicht, weil ich hier sein muss. Die Frage ist: Sind Sie das auch?» Seine Stimme wurde weicher.

«Ich bin genau da, wo ich sein will.» Sie hatte vergessen, dass die Yankees, die für sie flogen, den Verlust ihrer amerikanischen Staatsbürgerschaft riskierten.

Was für ein Luxus war es doch, sich freiwillig für den Krieg entscheiden zu können, und doch hatte Jameson genau das getan.

«Dann lassen Sie uns fliegen, bevor es jemand mitbekommt.» Er schenkte ihr ein Grinsen, bei dem ihr Herz einen Schlag aussetzte, und verschwand dann auf dem Sitz hinter ihr. Augenblicke später sprang der Motor an, der Propeller begann sich zu drehen, und während sie von ihrem Platz in der Reihe der Flugzeuge auf die Startbahn zusteuerten, vibrierte jeder Knochen in ihrem Körper. Gott sei Dank war der Motor laut genug, um das Geräusch ihres pochenden Herzens zu übertönen.

Dies hier war, nach der Einschreibung in die WAAF gegen den Willen ihrer Eltern, das Verbotenste, was sie je getan hatte. Möglicherweise ist es das Verbotenste, was du jemals machen wirst . Sie hielt den Gedanken fest an ihre Brust gedrückt, dort, wo ihre Hände den Gurt umklammerten. Sie drehten nach rechts ab.

«Sind Sie bereit?», hörte sie ihn durch das Funkgerät sagen.

Sie nickte, die Lippen nervös zusammengepresst. Sie tat das hier wirklich, sie flog mit einem amerikanischen Piloten, den sie erst letzte Woche kennengelernt hatte, ins Ungewisse. Wenn das nicht die Definition von Leichtsinn war, was dann?

Das Brummen des Motors wurde lauter, als das Flugzeug über die holprige Landebahn raste, es wurde immer schneller, genau wie ihr Herzschlag. Und obwohl sie zu beiden Seiten die Felder an sich vorbeirasen sah, konnte sie nicht sagen, wo der Asphalt endete. Es war ein berauschender, beängstigender Wahnsinn. Der Wind stach ihr in die Augen, sie blinzelte heftig und zog die Fliegerbrille ins Gesicht, als der Boden unter ihr verschwand.

Alles außer ihrem Magen erhob sich in die Lüfte. Der , da war sie sicher, befand sich noch immer auf dem Boden. Doch während sie an Höhe gewannen, beruhigte er sich, und sie zwang sich, gleichmäßig zu atmen, befahl ihren Muskeln, sich zu entspannen, bis sie endlich alles um sich herum aufnehmen konnte.

Die Eindrücke erfüllten jeden ihrer Sinne. Das Dröhnen des Motors wurde von ihrem Helm gedämpft, verstummte aber nicht, der Wind kühlte ihre Haut, die Aussicht aber war es, die ihr den Atem raubte. Die Sonne stand noch am Himmel, würde aber bald hinter dem Horizont verschwinden. Es war, als wäre alles unter ihnen geschrumpft … oder als wären sie zu Riesen gewachsen. So oder so, es war erstaunlich. Sie versuchte, sich jede einzelne Regung einzuprägen, um sie später aufschreiben zu können, damit sie nicht Gefahr lief, sie jemals zu vergessen. Aber gerade als sie die passenden Worte für die Landschaft unter ihnen gefunden hatte, setzten sie zur Landung an.

«Halten Sie sich fest», sagte Jameson über Funk, und ihr Herz raste. Er steuerte das Flugzeug, als wäre es ein Teil von ihm, als wäre das Fliegen durch die Luft für ihn so einfach wie das Heben seiner Hand.

Der Boden unter ihnen kam rasch näher, sie landeten und wurden auf dem holprigen Boden durchgerüttelt. Sie kannte diese Piste nicht, aber wenn man den Spuren im Gras Glauben schenken durfte, waren darauf schon einige Maschinen gelandet.

Das Flugzeug rumpelte kurz, als der Motor ausging. Jameson tauchte zu ihrer Linken auf, er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, auf seinen Wangen lag noch ein Hauch von Wind.

«Kann ich Ihnen da raushelfen?», fragte er und deutete auf ihren Gurt.

«Muss ich im Flugzeug essen, wenn ich ablehne?», neckte sie ihn, und ihre Mundwinkel hoben sich.

«Ja.» Die Antwort kam ohne zu zögern.

Sie schluckte, ihre Kehle war plötzlich trocken angesichts des intensiven Blicks, mit dem er sie ansah. «Dann tun Sie es bitte. Also, helfen Sie mir.» Sie begann, an ihrem Helm zu ziehen.

«Darf ich?» Seine Finger strichen ihre sanft zur Seite, und sie neigte den Kopf, um ihm besseren Zugang zu gewähren. Mit wenigen schnellen Handgriffen löste er ihren Helm, und sie zog ihn ab, während er begann, ihren Gurt zu öffnen.

«Meine Frisur ist ganz durcheinander», meinte sie lachend und hob die Hände zu ihren verwuschelten Locken. Ihre Mutter wäre bei dem Anblick wahrscheinlich vor Schreck gestorben.

«Sie sehen umwerfend aus.»

Ein Ziehen breitete sich in ihrer Brust aus, und als die letzte Schnalle des Gurtes sich löste, trafen sich ihre Blicke. Er meinte es ernst.

Das Ziehen verstärkte sich. Oh Gott, was war das? Die Luft war geschwängert vor Sehnsucht und füllte ihre Lungen mit jedem Atemzug.

«Hungrig?», fragte er und durchbrach damit die Stille, nicht aber die Spannung.

«Kurz vorm Verhungern», antwortete sie.

***

D er Blick aus ihren Augen ließ seine Brust eng werden, aber er wandte sich ab und streckte die Hand aus, gab ihr so viel Privatsphäre wie möglich, damit sie ihr vom Gurt zerknittertes Kleid richten konnte. Anschließend half er ihr aus dem Cockpit, sprang dann die letzten paar Meter von der hinteren Seite der Tragfläche und streckte ihr die Hände entgegen.

«Ich fange Sie auf», versprach er.

«Das will ich Ihnen auch geraten haben.» Sie lächelte, als sie den Flügel entlangging, wobei sie sich mit einer Hand am Rumpf festhielt. Dann trat sie einen Schritt vor, direkt in seine Arme, stützte sich mit den Händen auf seinen Schultern ab.

Er hielt ihre Hüften umfasst und ließ sie langsam auf das Gras sinken. Es gelang ihm, ihr dabei weiter in die Augen zu sehen und den Blick nicht auf die Kurven ihres wohlgeformten Körpers zu richten. Aber sein Puls beschleunigte sich, als er spürte, wie perfekt sie sich unter seinen Händen anfühlte, weich und warm, zart, aber nicht zerbrechlich. Allein dieser Moment war den Flug, war die stundenlange Vorbereitung wert gewesen.

«Danke», sagte sie leicht außer Atem, als er sie losließ.

Ihr Haar war vom Wind zerzaust und an einigen Stellen vom Helm niedergedrückt, und diese kleinen Unvollkommenheiten ließen sie anrührend wirken. Nahbar. Nichts war zu sehen von der unfehlbaren Offizierin, die ihm ins Auge gesprungen war, vor ihm stand eine Frau, die ohne Weiteres sein Herz erobern könnte.

Er schob den Gedanken beiseite – er war nicht wirklich der Typ Mann, der sich auf den ersten Blick verliebte, aber er glaubte an Anziehung, an Chemie und sogar an diese kleine Sache namens Schicksal, und das hier fühlte sich an wie alle drei zusammen.

«Wo sind wir?», fragte sie, als er sie den ausgetretenen Pfad entlangführte.

«Nur ein Stück nördlich des Dorfes.» Er führte sie zu dem freien Kreis im hohen Sommergras, den sie gestern mit dem Lastwagen geschaffen hatten.

Sie keuchte auf, schlug sich die Hände vor den Mund, und er lächelte. Dort stand ein kleiner Tisch mit drei Stühlen, gedeckt für ein frühes Abendessen. Er hatte sogar ein richtiges Tischtuch auftreiben können. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht in diesem Moment, die pure Freude in ihren Augen waren jeden einzelnen Gefallen wert, den er jetzt einem halben Dutzend Jungs im 609. schuldete.

«Wie haben Sie das gemacht?» Sie schlenderte auf den Tisch zu.

«Mithilfe von Magie.»

Sie warf ihm über ihre Schulter einen Blick zu, und er lachte.

«Kann sein, dass ich einigen der Jungs ein paar Gefallen schulde. Eine Menge Gefallen.» Sie drehte sich beim ersten Stuhl um, und er neigte den Kopf zur Seite. «Ich werde wohl eine ganze Weile keinen freien Abend mehr haben.»

«Und das haben Sie alles für mich getan?», fragte sie, als er ihren Stuhl zurückzog.

«Na ja, ich hatte noch ein paar andere Mädchen auf der Liste, nur für den Fall, dass Sie ablehnen», scherzte er.

«Wäre ja auch schade, wenn das alles umsonst gewesen wäre», erwiderte sie im selben Ton und schürzte die Lippen. «Mary hätte sich wahrscheinlich über die Einladung gefreut.»

Er hielt inne, die Hand noch immer auf ihrem Stuhl, und versuchte, ihre Worte einzuschätzen. Nun flog er schon seit Monaten mit den Briten, aber er war nie wirklich sicher, ob sie scherzten oder nicht.

«Oh, Ihr Gesichtsausdruck ist unbezahlbar.» Sie lachte, und dieser Klang war genauso schön wie sie selbst. «Verraten Sie mir auch, ob wir noch jemanden erwarten?» Sie deutete auf den dritten Stuhl.

«Ich habe Glenn Miller eingeladen», antwortete er, zog auch diesen Stuhl zurück und enthüllte damit seinen wertvollsten Besitz.

«Sie haben ein Grammofon?» Ihr fiel die Kinnlade herunter.

«Ja.» Er klappte den Deckel auf und warf das kleine tragbare Gerät an. Sogleich erfüllte das Glenn Miller Orchester die Stille.

Sie musterte ihn mit einem Gesichtsausdruck, den er unter Vorbehalt als verzaubert bezeichnen würde, der ihm auf jeden Fall aber gefiel. So viel zum Thema, es ruhig angehen zu lassen; als er sich ihr gegenüber setzte, galoppierte sein Puls wie tausend Pferde.

Noch nie in seinem Leben war er bei einem Date so nervös gewesen.

Er hatte auch noch nie so hartnäckig darum bitten müssen.

«Freuen Sie sich nicht zu sehr; es ist nur ein Picknick.» Er griff nach dem Korb, der in der Mitte des Tisches stand.

«Wirklich? Hätten Sie sich für den Abend nicht ein bisschen mehr ins Zeug legen können?» Sie schürzte die Lippen, aber er hatte sie durchschaut, also grinste er nur und holte das Essen aus dem Korb.

Es bestand lediglich aus Aufschnitt, Käse und einer sehr teuren Flasche Wein, die er definitiv nicht mit einer Rationskarte bezahlt hatte.

«Das ist wirklich schön», flüsterte sie.

«Sie machen es schön. Der Rest war nur ein bisschen Vorbereitung», konterte er, und sie begannen zu essen.

***

S ie war auf Partys gewesen und hatte vor dem Krieg ein paar Verabredungen mit Männern gehabt, aber nichts davon reichte an das hier heran. Es war unglaublich, wie viel Mühe er sich gemacht hatte. Ihr war kurz das Herz stehen geblieben bei seiner Behauptung, noch eine ganze Liste von möglichen Damen zu haben, aber sie weigerte sich, darüber nachzudenken und sich damit den Abend zu verderben.

Es machte keinen Sinn, noch nach einem Fallschirm zu suchen, sie war bereits gesprungen.

«Was mussten Sie versprechen, um den Plattenspieler zu bekommen?», fragte sie. Tragbare Plattenspieler waren kaum verfügbar, von den horrenden Preisen dafür ganz zu schweigen, und sie wusste, was RAF -Offiziere verdienten.

«Lebend zurückzukommen.» Er sagte das so sachlich, dass sie es fast überhört hätte.

«Wie bitte?»

«Meine Mutter hat ihn mir geschenkt, als ich letztes Jahr gegangen bin.» Seine Stimme klang ein wenig belegt. «Sie sagte, sie hätte etwas beiseitegelegt für den Fall, dass ich heiraten würde, aber dann habe ich ja ziemlich plötzlich  – das betonte sie besonders – verkündet, mich auf einen dummen Ausflug zu begeben, wie mein Vater es nannte.»

Der Schatten, der in seinen Augen aufflackerte, machte ihr das Herz schwer. «Er ist nicht damit einverstanden?»

«Er war schon nicht damit einverstanden, dass Onkel Vernon mir das Fliegen beibrachte. Er verabscheute meine Entscheidung, diese Fähigkeiten hier einzusetzen. Er denkt, ich bin auf den Kampf aus.» Er zuckte mit den Schultern.

«Sind Sie das?» Der Wind rauschte über die Grashalme, löste eine weitere ihrer Haarsträhnen. Sie schob sie sich schnell hinter das Ohr.

«Zum Teil», gab Jameson zu und ließ ein versöhnliches Lächeln aufblitzen. «Aber ich denke, wenn wir diesen Krieg nicht aufhalten, wird er sich weiter ausbreiten, und ich will verflucht noch mal nicht einfach in Colorado herumsitzen und nichts tun, während er sich bis an unsere Veranda heranschleicht.»

Seine Hand schloss sich fest um die Gabel, und sie beugte sich über den kleinen Tisch, legte ihre Hand auf seine. Die Berührung verursachte ein leichtes Kribbeln in ihrem gesamten Körper.

«Ich für meinen Teil bin dankbar, dass Sie sich entschieden haben herzukommen», sagte sie. Diese eine Entscheidung verriet ihr mehr über seinen Charakter, als tausend schöne Worte es je geschafft hätten.

«Ich bin einfach froh, dass Sie sich entschlossen haben, heute Abend mitzukommen», sagte er leise.

«Ich auch.» Ihre Blicke trafen sich, und seine Hand löste sich mit einer liebkosenden Geste von ihrer.

«Erzählen Sie mir etwas über sich. Irgendetwas.»

Nachdenklich runzelte sie die Stirn, während sie versuchte, etwas zu finden, was sein Interesse an ihr aufrechterhalten würde, jetzt, wo sie entschieden hatte, dass sie dieses Interesse auch wollte. «Ich glaube, ich möchte später Schriftstellerin werden.»

«Dann sollten Sie das auch», sagte er, als ob es wirklich so einfach wäre. Für einen Amerikaner war es das vielleicht auch. Sie beneidete ihn darum.

«Man kann zumindest hoffen.» Ihre Stimme wurde weicher. «Meine Familie hält nichts von meinen Wünschen. Es gibt eine fortwährende Diskussion darüber, wer über meine Zukunft entscheiden darf.»

«Was soll das heißen?»

«Einfach gesagt, hat mein Vater einen Titel und will ihn nicht loslassen. Er weigert sich anzuerkennen, dass die Welt sich verändert.»

«Ein Titel?» Zwischen seinen Augenbrauen bildeten sich zwei Falten. «Im Sinne einer Berufsbezeichnung? Oder einen Titel, den man erbt?»

«Einen, den man erbt. Ich will damit nichts zu tun haben, aber er hat andere Pläne. Ich hoffe, ich kann ihn noch umstimmen, bevor der Krieg endet.» Die Erklärung schien nicht viel zu nutzen, er wirkte immer noch besorgt. «Es ist ja nicht so, als hätten wir noch etwas zu verlieren. Es ist sowieso nichts mehr übrig, meine Eltern haben so ziemlich alles ausgegeben. Er ist auch nicht besonders bedeutungsvoll – also, der Titel –, und er spielt wirklich keine Rolle, versprochen. Können wir das Thema wechseln?»

«Natürlich.» Er ließ sein Besteck auf dem Teller ruhen, legte dann eine Platte von Billie Holiday auf, und als The Very Thought of You erklang, reichte er ihr seine Hand. «Tanz mit mir, Scarlett.»

«Na gut.» Sie konnte nicht widerstehen. Er war anziehend, sah sündhaft gut aus und war unglaublich charmant.

Sie wiegten sich im letzten Licht des Tages im Takt, und als er sie näher an sich zog, schmolz sie dahin. Ihr Kopf passte perfekt in die Mulde an seiner Schulter, und der raue Stoff seines Overalls erinnerte sie daran, dass dies hier sehr real war.

Es wäre so einfach, sich in diesem Mann zu verlieren, etwas – jemanden – für sich zu beanspruchen und alles zu vergessen, was um sie herum wütete und sie irgendwann einholen würde.

«Wartet zu Hause jemand auf dich?», fragte sie und hasste es, wie hoch ihre Stimme zum Ende des Satzes hin wurde.

«Zu Hause niemand. Hier niemand. Nur mein kleiner Plattenspieler.» Das Lachen in seiner Stimme vibrierte an ihrem Ohr. «Und ich liebe Musik, aber das kann man kaum eine monogame Beziehung nennen.»

«Du fliegst also nicht mit jedem Mädchen zum Sonnenuntergangsdinner?» Sie neigte ihren Kopf leicht nach hinten.

Er hob seine Hand und umfasste ihr Kinn mit Daumen und Zeigefinger. «Das habe ich noch nie gemacht. Ich wusste, dass ich wirklich von verdammt viel Glück reden kann, wenn ich bei dir auch nur eine einzige Chance bekomme, also wollte ich die so gut wie möglich nutzen.»

Ihr Blick wanderte zu seinen Lippen. «Das hast du. Du nutzt sie immer noch.»

«Gut.» Er nickte bedächtig. «Dann habe ich jetzt ja schon alles vorbereitet für die nächste Offizierin, die ich am Straßenrand sehe.»

Sie schnaubte und stieß sich lachend von seiner Brust ab, aber er hielt ihr Handgelenk fest und zog sie wieder an sich, wobei sein Mund gefährlich nahe an ihren kam.

Ja . Sie wollte ihn küssen, wollte wissen, wie er schmeckte, wollte spüren, wie sich seine Lippen mit ihren bewegten.

«Bist du bereit?» Seine Hand legte sich auf ihren Rücken.

«Bereit?», fragte sie und stellte sich auf die Zehenspitzen.

«Na ja, du scheinst ein wenig unerfahren zu sein», flüsterte er und kam näher.

«Das bin ich.» Die Worte klangen so atemlos, wie sie sich fühlte. Sie war bisher nur einmal geküsst worden, also konnte sie kaum von Erfahrung sprechen.

«Das ist in Ordnung, wir gehen es langsam an», versprach er, hob die Hand und berührte ihre Wange. «Ich möchte nicht, dass du Angst hast, wenn ich das Ruder abgebe.»

Sie ignorierte diesen amerikanischen Ausdruck, was auch immer er bedeuten sollte, und bog ihren Hals, aber der Mann wich zurück. Er. Wich. Zurück? Sie stand mit offenem Mund da, wie ein Fisch, und er grinste.

«Gehen wir, Rekrut, bringen wir diesen kleinen Flug zu Ende.» Er streckte ihr die Hand entgegen.

Sie blinzelte mehrmals hintereinander. «Rekrut?» War das irgendeine Umgangssprache, die sie nicht kannte?

Er zog sie an sich, streichelte ihren Hals, fuhr mit den Händen durch ihr Haar und senkte seine Lippen herab, bis sie nur noch wenige Zentimeter über ihren schwebten.

«Du hast keine Ahnung, wie sehr ich dich jetzt küssen möchte, Scarlett.»

Ihre Beine verweigerten endgültig den Dienst.

Gut, dann wollten sie auf jeden Fall dasselbe.

«Aber wenn wir nicht sofort losfliegen, ist der Horizont verschwunden, und dann wird es dreimal so schwierig, das Flugzeug gerade zu halten, während du es fliegst.»

Sie keuchte, und er streifte ihre Lippen mit seinem Mund, quälte sie mit der Andeutung eines Kusses, bevor er sie losließ, während sie sich noch nach mehr sehnte.

«Warte. Ich fliege es?», rief sie laut.

«Nun, ja, was glaubst du denn, wofür Trainingsflüge da sind?» Er nahm ihre Hand und zog sie sanft in Richtung Flugzeug. «Komm schon, du wirst es lieben. Es macht süchtig.»

«Und ist tödlich.»

Er drehte sich um, nahm sie in die Arme und hob sie hoch, damit er sie auf den Flügel setzen konnte. Die Stellen, an denen sich ihre Körper berührten, summten.

«Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas passiert», versprach er. «Du musst mir einfach nur vertrauen.»

Sie nickte langsam. «Okay. Das bekomme ich hin.»

Liebe Constance,

 

dich heute verlassen zu müssen, war das Schlimmste, was ich je tun musste. Wenn es nur um mich ginge, wäre ich niemals gegangen. Ich wäre an deiner Seite geblieben und hätte bis zum Schluss in diesem Krieg gekämpft, so, wie wir es versprochen haben. Aber wir beide wissen, dass es dabei nie um mich ging. Mein Herz schreit wegen all dem, was wir in den letzten Tagen verloren haben – und weil es so ungerecht ist. Ich habe dir einmal versprochen, dass ich niemals zulassen werde, dass unser Vater William in die Finger bekommt, und dieses Versprechen werde ich halten.

Ich wünschte, ich könnte auch dich in Sicherheit bringen. Unser Leben hat sich so ganz anders entwickelt, als wir es geplant hatten. Ich wünschte, du wärst bei mir, wünschte, wir hätten diese Reise gemeinsam antreten können. Du warst all die Jahre mein Kompass, und ich weiß nicht, ob ich meinen Weg ohne dich finden kann, aber ich werde mein Bestes geben, so, wie ich es dir heute Morgen beim Abschied versprochen habe. Ich trage dich immer in meinem Herzen. Ich sehe dich in Williams blauen Augen – unseren Augen – und in seinem süßen Lächeln. Dir war immer bestimmt, glücklich zu sein, Constance, und es tut mir leid, dass meine Entscheidungen dir so viele Chancen genommen haben, dieses Glück zu finden. Du hast immer einen Platz an meiner Seite.

 

Ich liebe dich von ganzem Herzen

Scarlett