Middle Wallop, England
A ls Scarlett sah, wie Jameson Constance auf der kleinen Tanzfläche des Lokals herumwirbelte, zog sich ihr Herz zusammen. Er kümmerte sich so aufmerksam um Constance, weil er wusste, wie wichtig sie Scarlett war. Das führte dazu, dass ihre Gefühle für ihn noch weiter wuchsen. Zu viel, zu früh, zu schnell … all das und noch mehr, aber sie konnte sich nicht dazu durchringen, sich zu bremsen.
«Du hast dich in ihn verliebt, nicht wahr?», fragte einer seiner amerikanischen Freunde – Howard Reed, wenn Scarlett seinen Namen noch richtig im Kopf hatte – von der anderen Seite ihres Tisches. Er hatte einen Arm um Christine gelegt, die als Filter Officer arbeitete und in derselben Hütte wie Scarlett schlief.
Christine, die gerade Zeitung las, blickte über den Rand des Papiers. Die Schlagzeilen brachten Scarlett dazu, den Blick abzuwenden.
«Ich … weiß es nicht», antwortete Scarlett, obwohl ihr die Röte in die Wangen stieg und sie verriet. Sie war in jeder freien Minute mit Jameson zusammen, auch wenn es bei seinen Flugzeiten und ihrem Dienstplan nicht viele Gelegenheiten dafür gab.
Sie kannte ihn erst seit drei Wochen und konnte sich doch nicht mehr daran erinnern, wie sich die Welt davor angefühlt hatte. Es gab nun zwei Abschnitte in ihrem Leben – die Zeit vor Jameson und jetzt.
Die Zeit nach Jameson ordnete sie in dieselbe Kategorie ein wie die Zeit nach dem Krieg . Beides war so obskur, dass sie sich weigerte, ihre Energie darauf zu verschwenden, auch nur über die Möglichkeit nachzugrübeln, vor allem im Moment. Seit vor einigen Wochen die Luftschlacht um England begonnen hatte und die Deutschen in der «Battle of Britain», wie Churchill sie nannte, Flugplätze in Großbritannien bombardierten, hatte ihre gemeinsame Zeit einen scharfen, nicht zu leugnenden Beigeschmack nach Verzweiflung angenommen – das drängende Gefühl, alles festzuhalten, was sie konnten, solange das noch möglich war.
Auch die Arbeit war mehr geworden. Ihr Einsatzplan war zermürbend, und sie ertappte sich dabei, den Atem anzuhalten, wenn sie die Markierungen für Jamesons Patrouillen auf der Karte platzierte und damit seinen aktuellen Standort markierte, während minütlich Nachrichten der Funker eintrafen. Sie bemerkte sofort, wenn eine 609er-Flagge bewegt wurde, selbst wenn dies nicht in ihrem Bereich des Kartentischs geschah.
«Nun … er hat auch viel für dich übrig», bemerkte Howard grinsend.
Das Lied endete, aber es gab keine Band, die man hätte beklatschen können, nur eine Platte, die neu aufgelegt werden musste.
Jameson führte Constance durch das Meer von Uniformen zurück zum Tisch.
«Darf ich um diesen Tanz bitten, Scarlett», sagte er, hielt ihr seine Hand hin und schenkte ihr ein Lächeln, das ihre Abwehr schwinden ließ.
«Natürlich.» Sie tauschte den Platz mit ihrer Schwester und glitt in seine Arme, als eine langsamere Melodie einsetzte.
«Ich bin froh, dass wir uns heute Abend treffen können», sagte er in ihr Haar.
«Ich finde es furchtbar, dass es nur für ein paar Stunden geht.» Sie lehnte ihre Wange an seine Brust und sog seinen Duft ein. Er roch immer nach Seife, Rasierwasser und Metall, ein Geruch, der selbst zwischen den Patrouillen an seiner Haut zu haften schien.
«Wann immer ich die Gelegenheit dazu habe, nehme ich mir ein paar Stunden Zeit für dich», versprach er leise.
Sie wiegten sich hin und her, sein Herzschlag war stark und gleichmäßig. Dies war der einzige Ort, an dem sie sich in letzter Zeit sicher und geborgen fühlte. Es gab nichts auf dieser Welt, was mit dem Gefühl vergleichbar war, in seinen Armen zu liegen.
«Ich wünschte, wir könnten hierbleiben, genau so», sagte sie leise, und ihre Finger malten träge Kreise auf der Schulter seiner Uniform.
«Das können wir.» Seine Hand lag nun auf ihrem unteren Rücken, ohne sich in südlichere Gefilde zu wagen, anders, als es viele andere Soldaten um sie herum bei ihren Partnerinnen machten. Jameson war respektvoll, und das in einem Maße, das sie inzwischen völlig frustrierte. Er hatte sie noch nicht einmal geküsst – zumindest nicht richtig, obwohl er ihr oft nah genug gekommen war und ihr Herz zum Rasen gebracht hatte, nur um dann seine Lippen auf ihre Stirn zu pressen.
«Für noch genau fünfzehn Minuten», murmelte sie. «Dann musst du wieder Patrouille fliegen.»
«Und du wieder arbeiten, wenn ich mich nicht irre.»
Sie seufzte und löste ihren Blick von dem Paar neben ihnen, aus dessen Tanz gerade ein inniger Kuss wurde.
«Warum küsst du mich nicht?», fragte Scarlett ihn leise.
Für den Bruchteil einer Sekunde verharrte er mitten in der Bewegung, dann nahm er ihr Kinn zwischen Daumen und Finger und hob ihr Gesicht sanft zu seinem. «Noch nicht.»
Sie runzelte die Stirn.
«Warum habe ich dich noch nicht geküsst», stellte er klar.
«Lass die Wortklaubereien.»
«Das ist keine Wortklauberei.» Er strich mit dem Daumen über ihre Unterlippe. «Ich stelle nur sicher, dass du weißt, es ist ein noch nicht .»
Sie rollte mit den Augen. «Gut, warum hast du mich dann noch nicht geküsst?» Um sie herum veränderte sich die Welt so schnell, dass sie kaum wusste, was sie in der nächsten Minute erwartete. Bomben fielen und Flugzeuge stürzten ab, doch er tat so, als hätten sie noch Jahre vor sich – dabei war nicht einmal sicher, ob ihnen überhaupt noch Tage blieben.
E r blickte kurz zu dem Paar zu ihrer Linken. Kein Wunder, dass sie sein alles andere als schnelles Tempo infrage stellte. «Weil du nicht einfach nur ein weiteres Mädchen aus dem Pub bist», sagte er, als sie sich wieder sanft im Takt wiegten. Seine Hand umfasste vorsichtig ihr Gesicht. «Weil wir bisher nur ein einziges Mal allein waren und ich dich nicht vor Publikum zum ersten Mal küssen möchte.» Vor allem nicht, wenn er sie so küsste, wie er es sich schon die ganze Zeit über wünschte.
«Oh.» Ihre Brauen wanderten mit einem Ruck nach oben.
«Oh.» Langsam breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Würde sie nur die Hälfte von dem ahnen, was ihm durch den Kopf schoss, wenn er an sie dachte, hätte sie sich längst versetzen lassen. «Ich weiß außerdem, dass es in deiner Welt verdammt viel mehr Regeln gibt als in meiner, also versuche ich so gut es geht, keine davon zu brechen.»
«So viele sind es gar nicht.» Sie kaute auf ihrer Unterlippe, als müsste sie darüber nachdenken.
«Süße, unter deiner Uniform verbirgt sich eine echte Aristokratin.» Nach dem, was er sich aus dem Wenigen, das sie ihm über ihre Familie erzählte, und den Details, die Constance bereitwillig preisgab, zusammenreimen konnte, unterschied sich Scarletts Leben als WAAF -Offizierin sehr von ihrem Leben vor dem Krieg. Es war nicht zu vergleichen.
Sie blinzelte. «Meine Eltern sind Aristokraten.»
Er lachte. «Und was unterscheidet sie darin von dir?»
«Nun, ich habe keine Brüder, also gibt es nach dem Tod meines Vaters keinen direkten Erben für den Titel», antwortete sie achselzuckend. «Constance und ich werden vor dem Gesetz als gleichberechtigt angesehen, darum erbt keiner von uns den Titel, es sei denn, eine von uns verzichtet auf ihren Anspruch. Wir haben beide beschlossen, nicht abzulehnen, was ziemlich genial ist, wenn man genauer darüber nachdenkt.» Sie hob ihren Mundwinkel zu einem verschwörerischen Lächeln, das in ihm den Wunsch weckte, allein und nicht in der Öffentlichkeit zu sein.
«Du hast beschlossen, darum zu kämpfen?» Er wusste rein gar nichts über das englische Adelsrecht, darum tat er gar nicht erst so, als würde er es verstehen.
«Nein.» Ihre Hand wanderte über seine Schulter hinauf und den Kragen seiner Uniform entlang, bis sie seinen Nacken umfasste. Er spürte ihre Berührung in jedem Nerv seines Körpers. «Wir haben beschlossen, nicht darum zu kämpfen, indem wir beide einfach nicht auf unseren Anspruch verzichten. Keine von uns will diesen Titel. Constance ist mit Edward verlobt, der seinen eigenen Titel erben wird, also sind unsere Eltern zufrieden, und ich will nichts damit zu tun haben.» Sie schüttelte den Kopf. «Als wir noch jünger waren, haben wir die Sache sogar mit einem Schwur besiegelt. Siehst du?» Sie hob ihre Hand und zeigte eine schwache Narbe auf ihrer Handfläche. «Es war sehr dramatisch.»
Er neigte den Kopf leicht zur Seite, während er ihre Worte sacken ließ. «Und was willst du, Scarlett?»
Eine andere Platte wurde aufgelegt, mit schnellerem Tempo, sie aber bewegten sich weiter in demselben, weichen Takt am Rand der Tanzfläche, schufen sich ihre eigene kleine Ballade.
«Jetzt gerade will ich mit dir tanzen», antwortete sie und strich mit ihren Fingern über seinen Hals.
«Das kann ich möglich machen.» Mann, es waren diese Augen, die ihn jedes Mal aufs Neue umhauten. Sie hätte den Mond von ihm verlangen können, und er wäre mit seiner Spitfire in die Stratosphäre geflogen, nur, damit sie ihn noch einmal so ansah wie jetzt gerade.
Als das Lied zu Ende war, verließen sie widerstrebend die Tanzfläche und gingen Händchen haltend zum Tisch zurück.
«Sieben Uhr fünfzehn», sagte Constance und verzog ein wenig das Gesicht. «Wir müssen los, oder?» Sie stand auf und reichte Scarlett ihren Hut.
«Ja», stimmte Scarlett zu. «Vor allem, weil wir noch zum Flugplatz müssen, um Jameson und Howard dort abzusetzen.» Sie drehte sich zu Christine um, die immer noch in die Zeitung vertieft war. «Christine?»
Die schreckte auf. «Oh, Entschuldigung. Ich habe gerade den Artikel über die Bombardierung von Sussex gelesen.»
Na, da wurde die Stimmung doch schlagartig ernster. Jamesons Finger schlossen sich leicht um Scarletts. «Dann fahre ich und du liest», bot er ihr mit einem angespannten Lächeln an.
Christine nickte, und sie machten sich auf den Weg zum Auto. Heute Abend war es weder ihm noch Howard gelungen, sich den Wagen ihrer Kompanie zu sichern, Scarlett hingegen schon.
«Es macht dir doch nichts aus, uns am Flugplatz abzusetzen?», fragte er, als er ihr die Beifahrertür aufhielt.
«Überhaupt nicht», versicherte sie ihm und ließ ihre Hand an seiner Taille entlanggleiten, während sie auf den Sitz rutschte. «So habe ich noch zehn Minuten mehr mit dir, und wer weiß, wann ich die das nächste Mal bekomme.»
Er nickte und schloss die Tür, nachdem sie eingestiegen war. Er wünschte, sie hätte nicht ihn, sondern Constance, Christine oder sogar Howard fahren lassen, dann hätte er sie auf dem Rücksitz dicht an sich ziehen können. Stattdessen setzte er sich ans Steuer und fuhr los, in Richtung Flugplatz. Das war immer der Moment, in dem die Stimmung zwischen ihnen umschlug, wenn sie sich beide mental auf das vorbereiteten, was die Nächte in der Zeit ihrer Trennung für sie bereithielten.
Die Sonne ging nun, mitten im August, schon früher unter, aber in einer Stunde würde es immer noch hell genug für seinen Start sein.
«Wie wäre es mit etwas Musik?», durchbrach Constance die Stille.
«Das Radio ist kaputt», sagte Scarlett. «Scheint so, als müsste einer von uns singen.»
Jameson lächelte und schüttelte den Kopf. Das Mädchen hatte einen trockenen Humor, und er konnte nicht genug davon bekommen.
«Ich lese euch was vor. Einverstanden?», fragte Howard, und Jameson hörte, wie die Zeitung von einer Hand zur nächsten wechselte. «Ich habe hier fünf Dollar, die setze ich darauf, dass ich euch alle zum Einschlafen bringe, noch bevor wir den Flugplatz erreichen.» Im Rückspiegel sah er, wie Howard die Augenbrauen in die Höhe zog. «Außer dir, Stanton. Du bleibst besser wach.»
«Das habe ich vor», antwortete Jameson und lenkte den Wagen auf den Stützpunkt.
Sobald sie durch das Tor gefahren waren, nahm er Scarletts Hand und schüttelte den Kopf über den gleichmütigen Ton, in dem Howard einen Artikel über Versorgungsengpässe vorlas.
«Es ist gut möglich, dass er mich damit wirklich zum Einschlafen bringt», flüsterte Scarlett.
Jameson drückte ihre Hand.
«Kein Geringerer als der Vorstand von Wadsworth Shipping, George Wadsworth, kommt unseren Truppen zu Hilfe» , las Howard.
Scarlett an seiner Seite zuckte zusammen.
«Er hat mehr als eine Verbindung zu feiern, denn eine vertrauenswürdige Quelle bestätigt, dass sein ältester Sohn Henry sich mit der ältesten Tochter von Baron und Lady Wright verloben wird …»
Scarlett keuchte auf und schlug sich die Hand, die nicht in seiner lag, vor den Mund.
«Oh Gott», murmelte Constance.
Jameson spürte, wie die Erde sich unter ihm auftat und sein Magen revoltierte. Das kann nicht sein .
Er traf im Rückspiegel auf Howards ernsten Blick und wusste, dass es doch möglich war.
«Es gibt doch sicher mehr als einen Wright in diesem Land», murmelte Christine und riss Howard die Zeitung aus der Hand. «Henry wird sich mit Baron und Lady Wrights ältester Tochter Scarlett verloben … » Christine verstummte, und ihr Blick wanderte zu Scarlett.
«Bitte, lies auch den Rest noch vor», fauchte Jameson. Was zum Teufel? Hatte sie ihn zum Narren gehalten? Oder war er die ganze Zeit ein Narr gewesen?
«Ähm … Scarlett verloben », las sie weiter, «die derzeit in der Women’s Auxiliary Air Force Seiner Majestät dient. Beide Töchter von Wright haben sich letztes Jahr den Truppen angeschlossen und wurden zu Offizieren ernannt. » Das Papier knisterte. «Der Rest handelt nur noch von Munitionslagern», beendete sie den Artikel leise und gerade rechtzeitig, denn er parkte den Wagen am Rand des Parkplatzes gegenüber den drei Hangars.
«Sieht aus, als wärst du deine fünf Dollar los, Howard, denn wir sind alle hellwach.» Jameson stellte den Motor ab und stieß die Tür auf. Sie war bereits in einer Beziehung und stand kurz vor ihrer Verlobung . Während er sich in sie verliebt hatte, hatte sie ihn benutzt. Und für was? Ein bisschen Unterhaltung? Er warf einen Blick auf die Landebahn zu seiner Linken, bereit zum Start, bereit, die Erde für ein paar Stunden hinter sich zu lassen.
J ameson schlug die Tür zu, und das Geräusch riss Scarlett aus ihrem Schock. Sie sprang aus dem Auto, aber er hatte den Weg zum Hangar schon halb hinter sich gebracht, als sie ihn endlich einholte.
«Jameson! Warte!»
Wie konnten sie das tun? Wie konnten sie dem Daily sagen, sie und Henry würden sich verloben, wenn sie ihrer Mutter doch deutlich gemacht hatte, dass sie das nicht vorhatte? Sie steckten auch dahinter, nicht nur Wadsworth. Das stank nach der Einmischung ihrer Eltern, und sie wollte verdammt sein, wenn sie Jameson dadurch verlor.
«Worauf soll ich warten, Scarlett?», fauchte er im Weitergehen. Seine warmen, dunklen Augen wurden kalt und gefroren ihr Herz. «Darauf, dass du irgendeinen reichen High-Society-Typen heiratest? Wolltest du deshalb wissen, warum ich dich nicht küsse? Hattest du Angst, dir läuft die Zeit davon, bevor du mich rumkriegen kannst?» Während er sprach, lief er weiter, seine langen Beine trugen ihn mit jedem Schritt weiter weg von ihr.
«Das stimmt nicht! Ich bin nicht verlobt!», widersprach sie und rannte los, um ihn zu überholen. «Hör mir zu!» Sie drückte ihre Hände gegen seine Brust und blieb stehen, zwang ihn damit, entweder innezuhalten oder sie über den Haufen zu rennen.
Er blieb stehen, aber der Blick, mit dem er sie bedachte, bereitete ihr Schmerzen.
«Wirst du dich verloben?»
«Nein»! Sie schüttelte energisch den Kopf. «Meine Eltern wollen, dass ich Henry heirate, aber das werde ich nicht. Sie versuchen, mich zu dieser Verlobung zu zwingen.» Das würde sie ihnen nie verzeihen. Niemals.
«Sie wollen dich zwingen?» Sein Kiefer zuckte, und sie suchte fieberhaft nach einem Weg, wie sie es ihm erklären konnte.
«Ja!» Sie machte sich nicht die Mühe nachzuschauen, ob sie belauscht wurden oder wo die anderen aus dem Auto waren. Es war ihr egal, wer sonst ihre Worte hörte, solange er es tat. «Die Verlobung ist eine Lüge.»
«Sie steht in der Zeitung!» Er trat von ihr zurück und strich sich mit den Fingern über den Hut.
«Weil sie denken, dass ich mich zu einer Zustimmung gezwungen fühle, wenn sie es als Tatsache veröffentlichen, sei es aus Verlegenheit oder aus Pflichtgefühl!», sagte sie mit Nachdruck.
«Und wirst du das tun?», fragte er herausfordernd.
«Nein!» Der Gedanke, er könnte ihr nicht glauben, schnürte ihr die Brust zusammen.
Er wandte den Blick ab, war offensichtlich hin- und hergerissen, und sie konnte es ihm nicht verdenken. Ihre Eltern und die Wadsworths hatten ihr einen verdammten Schlamassel eingebrockt.
«Jameson, bitte. Ich schwöre, ich werde Henry Wadsworth nicht heiraten.» Lieber würde sie sterben.
«Aber deine Eltern wollen, dass du es tust?»
Sie nickte.
«Und dieser Wadsworth-Knabe will, dass du es tust?»
«Henrys Vater glaubt, dass der Titel – und der Sitz im Oberhaus – an Henry fällt, wenn wir heiraten, und wenn nicht an Henry, dann an unseren erstgeborenen Sohn, was nicht der Fall sein wird, weil …«
«Euer erstgeborener Sohn?» Seine Augen verengten sich. «Jetzt hast du schon zukünftige Kinder mit diesem Kerl?»
Offenbar war das nicht die richtige Taktik gewesen, es ihm zu erklären.
«Natürlich nicht! Das spielt alles keine Rolle, denn ich werde ihn nicht heiraten!» Ein dumpfes Summen ertönte in ihrem Kopf, als ob ihr eigener Verstand sich gerade abschaltete, um sie vor dem drohenden Herzschmerz zu beschützen. «Wenn du ihnen diesen Trick glaubst, gewinnen sie. Das werde ich nicht zulassen.»
«Es ist leicht, einen Kampf zu verlieren, von dem man nicht weiß, dass man ihn überhaupt führt.» Wenigstens sah er sie wieder an, aber der Vorwurf in seinem Blick trieb ihr fast die Tränen in die Augen. Er sah aus, als wäre er betrogen worden, und in gewisser Weise war er das ja auch.
«Ich hätte es dir erzählen sollen», flüsterte sie.
«Ja, das hättest du», stimmte er zu. «Was sind das für Eltern, die ihre Tochter zu einer Ehe zwingen, die sie nicht will?» Er schob die Hände in den Nacken, als müsste er sie irgendwie beschäftigen.
«Solche, die fast ihr gesamtes Land verkauft und sich in den finanziellen Ruin gestürzt haben.» Sie ließ die Arme sinken, als Jameson die Augen aufriss. «Titel sind nicht gleichbedeutend mit üppigen Bankkonten.» Das Summen wurde lauter.
«Stanton! Reed! Wir müssen los!», rief jemand hinter ihnen.
«Finanzieller Ruin.» Jameson schüttelte den Kopf. «Willst du damit sagen, dass deine Eltern dich … ja, was? Verkaufen wollen?»
«Sie versuchen es, ja.» Das war die hässliche Wahrheit, und sein Gesicht spiegelte sie wider. Sie spürte Widerstand in sich aufkeimen. «Sieh mich nicht so an. Ihr Amerikaner denkt, ihr seid dem System des vererbten Reichtums entkommen, aber statt des Königs und des Adels habt ihr die Astors und die Rockefellers.»
«Wir verkaufen unsere Töchter nicht.» Seine Augenbrauen wanderten ziemlich weit in die Höhe.
«Ich könnte dir mindestens drei amerikanische Erbinnen nennen, die allein im letzten Jahrzehnt in den Adelsstand eingeheiratet haben.» Scarlett verschränkte die Arme vor der Brust.
«Jetzt verteidigst du das auch noch?!», schoss Jameson zurück. Howard rannte an ihnen vorbei, kam dann aber wieder zu ihnen zurückgelaufen.
«Stanton! Jetzt!», rief er und winkte heftig.
«Nein, so habe ich das nicht gemeint!», stieß Scarlett hervor. Das summende Geräusch veränderte sich, der Ton wurde tiefer. Ein Flugzeug im Anflug . Die Flieger, die vor Jameson Patrouille geflogen waren, kamen zurück, was bedeutete, dass ihr nur noch ein paar wertvolle Sekunden blieben. «Jameson, ich werde Henry nicht heiraten. Das schwöre ich.»
«Warum nicht?», fragte er, aber bevor sie ihm antworten konnte, schoss sein Blick gen Himmel, und seine Augen verengten sich.
«Unter anderem, weil ich dich will, du dämlicher Yankee!» Herrgott, sie hatte offenbar wirklich die Nerven verloren, wenn sie sich derart in aller Öffentlichkeit stritt. Aber sie konnte einfach nicht aufgeben – obwohl der Mann ihr nicht einmal mehr zuhörte .
«Sind das welche von uns?» Howard deutete in dieselbe Richtung, in die Jameson starrte.
Das Geschwader brach durch die tief hängenden Wolken, und ihr drehte sich der Magen um. Das waren keine Spitfires.
Die Luftalarmsirenen heulten warnend auf, aber es war bereits zu spät.
Das Ende der Landebahn explodierte mit einem ohrenbetäubenden Knall, der ihren ganzen Körper erschütterte. Rauch und Trümmer erfüllten die Luft, als der nächste Einschlag binnen eines Lidschlags folgte, lauter und näher.
«Runter!» Jameson riss sie an sich, drehte sich mit dem Rücken zur Explosion und zog sie mit sich zu Boden. Ihre Knie prallten auf das Pflaster.
Fünfzig Meter vor ihnen explodierte ein Hangar.
Liebe Scarlett,
ich vermisse dich, meine Liebste. Der Klang deiner Stimme am Telefon ist kein Vergleich zu dem Gefühl, dich in meinen Armen zu halten. Es ist erst ein paar Wochen her, und doch kommt es mir wie eine Ewigkeit vor, seit ich versetzt wurde. Die gute Nachricht ist, ich glaube, dass ich ein Haus für uns in der Nähe besorgen könnte. Ich weiß, dass der Umzug die Hölle für dich war, und wenn du doch lieber in der Nähe von Constance bleiben willst, dann können wir unsere Pläne immer noch ändern. Du hast schon so viel für mich aufgegeben, und doch bitte ich dich hiermit, das noch einmal zu tun. Ich verspreche, wenn dieser Krieg vorbei ist, werde ich es wiedergutmachen. Ich schwöre, du wirst nie wieder Opfer für mich bringen müssen.
Gott, ich vermisse das Gefühl deiner Haut auf meiner am Morgen und den Anblick deines wunderschönen Lächelns, wenn ich abends durch die Tür hereinkomme. Im Moment ist da nur Howard, der mich willkommen heißt, obwohl er nicht mehr oft hier ist, seit er ein ortsansässiges Mädchen kennengelernt hat. Bevor du fragst: Nein, für mich gibt es hier keine Mädchen. Für mich gibt es nur eine blauäugige Schönheit, die mein Herz und meine Zukunft in sich trägt, und ich kann sie leider nicht als ortsansässig bezeichnen, da sie Stunden von mir entfernt ist.
Ich kann es kaum erwarten, dich wieder in meinen Armen zu halten.
In Liebe
Jameson