Kapitel 7

Noah

D er Rhythmus, der aus meinen Kopfhörern dröhnte, passte zum Takt, in dem meine Füße auf den Boden trommelten, während ich mich auf den Wegen im Central Park zwischen den Touristen hindurchschlängelte. Am Freitag des Labor-Day-Wochenendes waren sie überall, voll ausgestattet mit Gürteltaschen und allem Drum und Dran. Die Luftfeuchtigkeit war heute sehr hoch, die Luft klebrig und dick, aber hier auf Höhe des Meeresspiegels wenigstens voller Sauerstoff.

Meine Laufgeschwindigkeit war in der Woche, die ich in Colorado verbracht hatte, miserabel gewesen. Während meiner Forschungen in Peru hatte ich mich meist auf etwa zweitausend Metern Höhe aufgehalten, abgesehen von den Malen, als ich klettern war, aber Poplar Grove lag noch mal knapp siebenhundert Meter höher. Ich musste allerdings zugeben, dass sich die Luft in den Rocky Mountains trotz des brutalen Sauerstoffmangels leichter anfühlte und man sich darin auch besser bewegen konnte. Nicht, dass Colorado New York ansonsten irgendwie überlegen gewesen wäre. Sicher, die Berge waren schön, aber die Skyline von Manhattan war es auch, und das Leben direkt am Puls der Zeit war mit nichts anderem zu vergleichen. Das hier war mein Zuhause.

Das einzige Problem war, dass mein Kopf nicht hier war. Und das schon seit mehr als zwei Wochen, seit meiner Rückkehr. Er befand sich je zur Hälfte im Großbritannien des Zweiten Weltkriegs und im Colorado der Gegenwart, trotz des dort fehlenden Sauerstoffs. Das Manuskript endete an einem entscheidenden Wendepunkt der Handlung, an dem die Geschichte entweder in katastrophalen Herzschmerz abgleiten oder sich aus den Tiefen der Verzweiflung hin zu einem Liebe-besiegt-alles-Ende erheben konnte, das selbst den mürrischsten Bastard in einen Romantiker verwandelte.

Und wo ich normalerweise damit zufrieden war, den mürrischen Part zu übernehmen, war Georgia dazwischen gegrätscht und hatte mir diese Rolle gestohlen, sodass ich nun untypischerweise den Romantiker gab. Und verdammt, diese Geschichte verlangte das. Genauso wie der Briefwechsel von Scarlett und Jameson. Mitten im Krieg hatten sie die wahre Liebe gefunden. Sie konnten es nicht einmal ertragen, länger als ein paar Wochen getrennt zu sein. Ich konnte kaum mit Sicherheit sagen, ob ich überhaupt je länger als ein paar Wochen mit einer Frau zusammen gewesen war. Ich mochte meinen Freiraum.

Ich war schon fünf Meilen gelaufen, startete gerade in meine sechste, und war doch aus Georgias alberner Forderung noch immer genauso wenig schlau geworden wie vor zwei Wochen, als ich ihr Haus verlassen hatte. Genauso wenig, wie ich aus der Frau selbst schlau wurde. Normalerweise lief ich so lange, bis sich meine Gedanken klärten oder mir eine Idee kam, aber wie an jedem Tag in den letzten zwei Wochen verlangsamte ich nun mein Tempo und zerrte mir vor lauter Frust die Kopfhörer aus den Ohren.

«Oh, Gott sei Dank. Ich dachte, du …», keuchte Adam, «… wolltest. Noch eine siebte laufen, und ich. Hätte. Aufgeben müssen», presste er zwischen heftigen Atemzügen hervor, als er zu mir aufholte.

«Sie will nicht, dass es ein Happy End gibt», knurrte ich und schaltete die Musik aus, die aus meinem Handy dröhnte.

«Das sagtest du bereits», bemerkte Adam und legte sich die Hände auf den Kopf. «Ich glaube sogar, du hast das seit deiner Rückkehr fast jeden Tag gesagt.»

«Ich werde es so lange sagen, bis ich es verstanden habe.» Wir erreichten eine Bank in der Nähe einer Weggabelung und blieben wie immer stehen, um uns kurz zu stretchen.

«Toll. Ich freue mich darauf, das Buch zu lesen, sobald du das mit dem Ende verstanden hast.» Er stützte die Hände auf die Knie, beugte sich vor und holte tief Luft.

«Ich habe dir gesagt, wir sollten öfter laufen gehen.» Er begleitete mich nur einmal in der Woche.

«Und ich habe dir gesagt, dass du nicht mein einziger Autor bist. Wann schickst du mir den Stanton-Teil des Manuskripts? Der Zeitplan ist diesmal wirklich eng.»

«Sobald ich alles fertig habe.» Ich hob meinen Mundwinkel an. «Keine Sorge, bis zur Deadline hast du es.»

«Wirklich? Du willst mich drei Monate warten lassen? Das ist grausam. Ich bin verletzt.» Er schlug sich mit der Hand auf die Brust, dort, wo das Herz saß.

«Ich weiß, es ist kindisch, aber ich will herausfinden, ob du erkennen kannst, wo Scarletts Worte aufhören und meine beginnen.» In den gesamten letzten drei Jahren war ich nicht mehr so aufgeregt gewesen wegen eines Buches, und in dieser Zeit hatte ich sechs davon geschrieben. Aber dieses … Ich hatte dieses Gefühl , aber Georgia fesselte mir eine meiner Hände auf den Rücken. «Sie liegt übrigens falsch.»

«Georgia?»

«Sie versteht nicht, was die Marke ihrer Urgroßmutter ist. Scarlett Stanton stand für ein garantiertes Happy End. Ihre Leserinnen und Leser erwarten es. Georgia ist keine Schriftstellerin. Sie versteht das nicht, und sie liegt falsch.» In den letzten zwölf Jahren hatte ich gelernt, nicht mit den Erwartungen des Publikums zu spielen.

«Und aus welchem Grund bist du dir so sicher, dass du recht hast? Weil du unfehlbar bist?» Da war mehr als nur ein Hauch von Sarkasmus.

«Wenn es um die Konstruktion einer Geschichte geht? Ja. Ich kann mit ziemlicher Sicherheit behaupten, dass ich in dieser Hinsicht unfehlbar bin, und komm mir jetzt nicht mit meinem Ego. Ich habe bewiesen, dass ich es draufhabe, darum würde ich sagen, ich gehe da mit einem gesunden Selbstvertrauen ran.» Ich dehnte mich weiter und lächelte.

«Ich hasse es, dein Selbstvertrauen infrage zu stellen, aber wenn das stimmen würde, bräuchtest du deinen Lektor ja nicht, oder? Aber du brauchst mich, also bist du wohl doch nicht so unfehlbar.»

Ich ignorierte die offensichtliche Wahrheit in seiner Argumentation. «Wenigstens liest du meine Bücher, bevor du mir Änderungen vorschlägst. Sie lässt nicht einmal zu, dass ich ihr meine Idee erzähle.»

«Na ja, hat sie denn eine?»

Ich blinzelte.

«Hast du sie gefragt?» Er hob die Brauen. «Ich meine, ich unterbreite sehr gerne Änderungsvorschläge, aber da du mir noch nicht einmal den bestehenden Teil gezeigt hast …»

«Warum sollte ich sie fragen? Ich frage nie jemanden nach seiner Meinung, bevor etwas fertig ist.» Das zerstörte den Prozess, und mein Bauchgefühl hatte mich bisher ohnehin noch nie im Stich gelassen. «Ich kann nicht glauben, dass ich tatsächlich einen Vertrag unterschrieben habe, der jemandem, der nicht einmal in der Branche tätig ist, das Recht auf die endgültige Freigabe überträgt.» Und doch würde ich es wieder tun, allein schon wegen der Herausforderung.

«Dafür, dass du schon so viele Dates hattest, hast du wirklich keine Ahnung von Frauen, oder?» Er schüttelte den Kopf.

«Vertrau mir, ich verstehe mehr als genug von Frauen. Und abgesehen davon, du hattest genau wie viele Beziehungen in den letzten zehn Jahren? Eine?»

«Weil ich die Frau geheiratet habe, du Arsch.» Er ließ seinen Ehering aufblitzen. «Ich rede nicht davon, sich durch New York zu vögeln. Selbst die Milch in meinem Kühlschrank ist älter als deine durchschnittliche Beziehungsdauer, und sie ist noch nicht einmal nahe am Verfallsdatum. Es ist schwieriger, eine einzige Frau wirklich kennen und verstehen zu lernen, als sich tausend Nächte durch die Betten Tausender Frauen zu schlafen. Aber es ist auch lohnender.» Er schaute auf seine Uhr. «Ich muss zurück ins Büro.»

Ich verlagerte angespannt das Gewicht von einem Fuß auf den anderen.

«Das stimmt nicht. Also, das mit der Beziehung.» Gut, die längste Beziehung, die ich je hatte, hatte sechs Monate gedauert, viel persönlichen Freiraum beinhaltet und genauso geendet, wie sie begonnen hatte – mit gegenseitiger Zuneigung und der Einsicht, dass wir einfach nicht füreinander geschaffen waren. Ich sah keinen Grund, mich emotional auf jemanden einzulassen, mit dem ich mir keine Zukunft vorstellen konnte.

«Okay, um es noch mal auf den Punkt zu bringen: Ich glaube, du verstehst Georgia Stanton nicht.» Adam grinste und beugte sich vor, um seine Wade zu dehnen. «Ich muss zugeben, es macht Spaß, dir dabei zuzusehen, wie du dich um eine Frau bemühst, die dir nicht direkt zu Füßen liegt.»

«Frauen liegen mir nicht zu Füßen.» Ich hatte nur Glück, dass die, an denen ich interessiert war, in der Regel genauso empfanden. «Und was gibt es bei Georgia nicht zu verstehen? So, wie ich das sehe, ist das ein Fall im Stile von ‹Erbin einer berühmten Schriftstellerin wird Ehefrau eines Hollywood-Stars›, um dann gegen ein neueres, jüngeres und schwangeres Model ausgetauscht zu werden und anschließend mit ihren Millionen nach Hause zu gehen, um dann einen anderen Vertrag zu unterschreiben, der ihr noch mehr Millionen einbringt.» War sie umwerfend schön? Auf jeden Fall. Aber ich hatte auch das Gefühl, dass sie nur aus Spaß an der Freude so schwierig war. Langsam wurde mir klar, dass der Umgang mit Georgia herausfordernder sein könnte als das eigentliche Schreiben des Buches.

«Wow. Du liegst so weit daneben, dass es fast schon lustig ist.» Er war fertig mit Dehnen, richtete sich wieder auf und wartete, bis auch ich fertig war.

«Was weißt du über ihren Ex?», fragte er, neigte den Kopf zur Seite und sah mich durchdringend an.

«Damian Ellsworth, der gefeierte Regisseur, wohnhaft in Soho, wenn ich mich nicht irre.» Ich blieb vor einem Imbisswagen stehen und kaufte zwei Flaschen Wasser. «Wirkt auf mich immer ein bisschen schleimig und gruselig.» Ich war selbstbewusst, aber der Typ war ein aufgeblasenes Arschloch.

«Und wie heißt sein bekanntester Film?», fragte Adam, nachdem er sich bei mir bedankt und seine Flasche geöffnet hatte.

«Wahrscheinlich The Wings of Autumn» , vermutete ich. Wir liefen weiter. Und in diesem Moment traf es mich, und ich blieb wie versteinert stehen.

Adam schaute über seine Schulter zu mir zurück und hielt dann inne. «Geht doch. Komm, weiter.» Er winkte mir zu als Zeichen, mich in Bewegung zu setzen, und ich fand meinen Laufrhythmus wieder. «Scarlett hat ihre Filmrechte nie verkauft», sagte ich langsam. «Zumindest nicht bis vor sechs Jahren.»

«Bingo. Und dann verkaufte sie die Rechte an zehn Büchern für ein Taschengeld an eine brandneue Produktionsfirma, die noch niemand kannte, und die gehörte …»

«Damian Ellsworth. Ja, leck mich fett.»

«Nein danke, du bist nicht mein Typ. Aber hast du es jetzt verstanden?» Wir erreichten den Rand des Parks und warfen unsere leeren Flaschen in die Mülltonne, dann traten wir auf den belebten Bürgersteig.

Ellsworth war mehr als ein Jahrzehnt älter als Georgia, hatte es aber erst geschafft, seinen Fuß in die Hollywood-Tür zu bekommen, als … Scheiße . Das war genau zu der Zeit gewesen, als sie geheiratet hatten.

«Er hat seine Ehe mit Georgia benutzt, um an Scarlett heranzukommen.» Arschloch .

«So sieht es aus.» Adam nickte. «Mit diesen Rechten wurde ihm der rote Teppich ausgerollt, und er hat noch die Rechte an fünf weiteren dieser Filme, die er nutzen kann. Er ist ein gemachter Mann. Und als klar war, dass die Besuche in der Kinderwunschklinik nichts brachten, hat er sich eine andere gesucht.»

Ich starrte Adam an, mir drehte sich der Magen um. «Sie hatten Probleme, Kinder zu zeugen, und er hat eine andere geschwängert?»

«Zumindest laut Celebrity Weekly . Sieh mich nicht so an. Carmen liest sie gern, und mir ist langweilig, wenn ich in der Badewanne liege, damit meine Beine sich entkrampfen. Beine, die wegen dir ständig Höchstleistungen vollbringen müssen, möchte ich hinzufügen.»

Verdammt . Das war eine ganz neue Ebene von verkorkst. Sie hatte die Karriere des Mannes ins Rollen gebracht, und er hatte sie nicht nur betrogen, sondern auch emotional und vor den Augen der Welt vernichtet. «Langsam wird mir klar, warum sie im Moment nicht viel Interesse an Happy Ends hat.»

«Das Schlimmste kommt noch: Sie war Miteigentümerin der Produktionsfirma, hat aber bei der Scheidung alles ihm überschrieben», fuhr Adam fort, während wir die Straße überquerten. «Sie hat ihm alles überlassen.»

Ich runzelte die Stirn. Das war ein riesiger Batzen Geld. «Alles? Aber die Scheidung ist doch seine Schuld.» Das konnte doch nicht im Geringsten fair sein.

Adam zuckte mit den Schultern. «Sie haben in Colorado geheiratet. In dem Staat reicht es, wenn einer der Ehepartner die Scheidung einreicht. Der andere kann der Scheidung dann nicht widersprechen. Und ich habe gelesen, dass sie die Anteile freiwillig abgegeben hat.»

«Wer macht so etwas?»

«Jemand, der so schnell wie möglich wegwill», sagte er. Wir überquerten die letzte Straße und erreichten den Block, in dem sich das Verlagsgebäude befand, aber Adam blieb vor dem Haus nebenan stehen. «Und da der gesamte Nachlass von Scarlett bis auf einen Bruchteil einer Stiftung gehört, also für wohltätige Zwecke bestimmt ist, gehören diese Millionen, die du erwähnt hast, Georgia nicht wirklich. Ich weiß, du liebst deine Recherchereisen, aber du solltest öfter mal googeln.»

«Heilige Scheiße.» Mir wurde flau im Magen, weil ich mit meiner Annahme so meilenweit danebengelegen hatte.

Er klopfte mir auf den Rücken. «Jetzt fühlst du dich wie ein Vollidiot, was?», fragte er grinsend.

«Gut möglich», gab ich zu.

«Wenn nicht, dann spätestens, wenn du erfährst, dass das Buch, das du gerade fertigstellst, nicht im Stiftungsbesitz gelistet ist …»

Mein Blick wanderte ruckartig zu ihm.

«Und sie die Buchhaltung trotzdem gebeten hat, den gesamten Vorschuss auf das Konto ihrer Mutter zu überweisen», beendete er die Ausführung mit einem Grinsen.

«Okay, jetzt fühle ich mich definitiv wie ein Vollidiot.» Ich fuhr mir mit den Händen über das Gesicht. Sie erhielt nicht einmal Geld für diesen Deal.

«Ausgezeichnet. Lust auf eine weitere Überraschung? Komm mit.» Er führte mich in das Bürogebäude. Das Foyer reichte mindestens bis hinauf in den ersten Stock, und Rolltreppen säumten die Seiten, bis hin zu einer Reihe von Aufzügen. In der Mitte war das Foyer offen, um Platz für eine riesige Glasskulptur zu schaffen, die sich in die Höhe reckte.

Ihr Fuß war tiefblau und breitete sich in Wellen aus, die an den Rändern kleine Blasen warfen, als würden sie an einem unsichtbaren Strand brechen. Nach oben hin ging das Blau in Türkis über, und die Ränder verloren ihre raue, schaumartige Textur. Dann wurde das Türkis zu Dutzenden von Grüntönen, und das Glas breitete sich in wirbelnden Zweigen aus, die immer schmaler wurden, je weiter die Skulptur in die Höhe ragte. Alles in allem war sie doppelt so groß wie ich.

«Was denkst du?», fragte Adam mit einem schadenfrohen Grinsen im Gesicht.

«Sie ist spektakulär. Auch die Beleuchtung ist genial. Sie bringt die Farben und die Kunstfertigkeit zur Geltung.» Ich warf ihm einen Blick von der Seite zu, weil ich wusste, dass dieser kleine Umweg etwas zu bedeuten hatte.

«Schau dir die Plakette an.» Das Grinsen war immer noch nicht verschwunden.

Ich trat vor, las, was auf der Plakette stand, und riss die Augen auf. «Georgia Stan … was zur Hölle?» Georgia hatte die Skulptur erschaffen? Ich betrachtete sie noch einmal mit anderen Augen und musste zugeben, dass mir ein wenig die Kinnlade herunterfiel.

«Nur weil sie keine Schriftstellerin ist, heißt das nicht, dass sie nicht kreativ ist. Bist du jetzt demütiger? Wenigstens ein bisschen?» Adam trat an meine Seite.

«Vielleicht ein bisschen», sagte ich langsam. «Vielleicht sogar sehr.» Mein Blick fiel wieder zur Plakette, auf der auch ein Datum stand. Sie ist vor sechs Jahren entstanden .

Zufall oder passte es ins Muster?

«Gut. Meine Arbeit hier ist getan.»

Sie hatte nicht nur eine Kunstschule besucht. Sie war eine Künstlerin. «Sie wird nicht auf mich hören, Adam. Ich habe zweimal versucht, sie anzurufen, und beide Male hat sie einfach aufgelegt. Ich versuche, den Plot festzulegen, damit ich anfangen kann, aber sobald ich anfange, über das Ende zu reden, macht sie einfach dicht. Sie will nicht mit mir zusammenarbeiten, sie will nur ihren Willen durchsetzen.»

«Das klingt wie jemand, den ich kenne. Wie gut hast du ihr denn zugehört?», fragte er herausfordernd. «Diesmal geht es nicht nur um dein Buch, sondern auch um ihres, und für jemanden, der Primärquellen liebt, ignorierst du ausgerechnet die, die direkt vor deiner Nase sitzt. Sie ist die Expertin für alles, was Scarlett Stanton betrifft.»

«Gutes Argument.»

«Komm schon, Noah. Ich habe noch nie erlebt, dass du vor einer Herausforderung zurückgeschreckt bist. Zum Teufel, du suchst sogar immer neue Herausforderungen. Nimm dein Handy und benutz deinen legendären Charme, um einen Fuß in die Tür zu bekommen. Und dann fang an zuzuhören, Kumpel. Ich muss jetzt duschen, ich habe gleich noch ein Meeting.» Er ging auf die Drehtür zu.

«Das mit dem Charme habe ich schon versucht!» Und es hatte mir absolut gar nichts gebracht, was auf beruflicher Ebene ärgerlich war. Auf persönlicher Ebene war es … na ja, frustrierend, vor allem, wenn man bedachte, wie sehr ich mich immer noch zu ihr hingezogen fühlte, obwohl sie mehr als tausend Meilen entfernt war.

«Wenn du sie bisher nur zweimal angerufen hast, hast du es noch nicht versucht.»

«Woher wusstest du überhaupt, dass diese Skulptur hier steht?», rief ich durch das Foyer.

«Google!» Er hob zum Abschied zwei Finger, verschwand aus dem Gebäude und ließ mich mit dem Beweis zurück, dass ich an jenem Tag nicht das einzige kreative Genie in Scarletts Büro gewesen war.

Dann begann ich mit meinen Recherchen – nicht über die Luftschlacht um England, sondern über Georgia Stanton.

***

I ch ließ meinen Blick zwischen meinem Handy, das genau in der Mitte meines Schreibtischs lag, und der Telefonnummer, die ich auf den Notizblock daneben gekritzelt hatte, hin und her schweifen. Wieder eine Woche näher an der Deadline, und obwohl ich bereits einen Plot hatte, der sich in meinen Augen für die Figuren richtig anfühlte, hatte ich noch nicht mit dem Schreiben begonnen. Es hatte keinen Sinn, anzufangen, wenn Georgia einfach verlangen konnte, dass ich alles änderte.

Benutz deinen legendären Charme …

Ich wählte die Nummer, dann drehte ich mich zu den riesigen Fenstern in meinem Büro um und blickte auf Manhattan herab, während das Klingelzeichen ertönte. Würde sie abheben? Diese Sorge empfand ich zum ersten Mal bei einem Anruf bei einer Frau. Nicht, weil es sonst selbstverständlich gewesen war, dass sie das Gespräch annahmen, sondern weil es mir sonst nie wirklich wichtig gewesen war.

Frag sie nach ihrer Großmutter. Frag sie nach ihr. Hör auf, dich aufzuregen, und behandle sie wie einen Partner. Tu einfach so, als sei sie einer deiner Freunde vom College und nicht jemand von der Arbeit oder jemand, an dem du interessiert bist. Das war Adriennes Rat gewesen, gefolgt von der sarkastischen Bemerkung, dass ich in meinem Leben noch nie einen Partner gehabt hatte, weil ich ein Kontrollfreak sei.

Ich hasste es, wenn sie recht hatte.

«Noah, was verschafft mir die Ehre?», fragte Georgia, nachdem sie das Gespräch angenommen hatte.

«Ich habe deine Skulptur gesehen.» Toller Einstieg ins Gespräch.

«Wie bitte?»

«Der Baum, der aus dem Meer ragt. Ich habe sie gesehen. Sie ist atemberaubend.» Mein Griff um mein Handy wurde fester. Dem Internet zufolge war es auch die letzte Skulptur, die sie gemacht hatte.

«Oh.» Sie schwieg einen Moment lang. «Danke.»

«Ich wusste nicht, dass du Bildhauerin bist.»

«Ähm … ja. War ich. Wobei die Betonung auf war liegt. Ist schon lange her.» Sie lachte gezwungen auf. «Jetzt verbringe ich meine Tage in Grans Büro und sortiere mich durch einen Berg von Papieren.»

Thema abgehakt. Verstanden . Ich widerstand dem Drang, weiter nachzufragen – vorerst. «Ah, Papierkram. Damit verbringe ich meine Abende am liebsten», scherzte ich.

«Dann wärst du hier im Himmel, denn es ist ein heilloses Durcheinander. Hier ist. So. Viel. Papierkram», stöhnte sie.

«Ooh, ich liebe es, wenn du schmutzige Sachen sagst.» Fuck . Ich zuckte zusammen und rechnete im Geiste aus, wie viel ich bei einer Klage wegen sexueller Belästigung zu zahlen hätte. Was zum Teufel war nur los mit mir? «Scheiße. Tut mir leid, ich weiß nicht, wo das jetzt herkam.» So viel zu dem Ansatz, sie wie einen Freund vom College zu behandeln.

«Ist schon okay.» Sie lachte, und das Geräusch traf mich wie ein Güterzug in die Brust. Ihr Lachen war wunderschön und ließ mich zum ersten Mal seit Tagen wieder lächeln. «Jetzt weiß ich immerhin, worauf du so stehst», stichelte sie, und ich hörte ein vertrautes Knarren im Hintergrund. Sie hatte sich in ihrem Bürostuhl zurückgelehnt. «Ehrlich, es ist in Ordnung, versprochen», brachte sie hervor, nachdem ihr Gelächter verstummt war. «Aber im Ernst, kann ich dir bei irgendetwas behilflich sein? Denn in dem Augenblick, in dem du die Worte Happy End sagst, wende ich mich wieder meinem Papierkram zu.»

Ich zuckte zusammen, riss mir die Brille vom Gesicht und ließ sie am Bügel kreisen. «Äh. Darüber können wir später reden», sagte ich nachgiebig. «Ich wollte ein paar persönliche Details in das Manuskript einflechten und habe mich gefragt, ob deine Gran eine Lieblingsblume hatte?» Ich presste die Lider fest zusammen. Du bist der trotteligste Trottel aller Trottel, Morelli .

«Oh.» Ihre Stimme wurde weicher. «Ja, sie liebte Rosen. Sie hat einen riesigen Garten hinter dem Haus, voll mit englischen Teerosen. Also, ich meine, sie hatte einen Garten. Tut mir leid, daran muss ich mich noch gewöhnen.»

«Es braucht eine Weile.» Ich hörte auf, meine Brille kreisen zu lassen, und legte sie auf den Tisch. «Ich habe etwa ein Jahr gebraucht, nachdem mein Vater gestorben war, und ehrlich gesagt, es schleicht sich von Zeit zu Zeit immer noch ein, wenn ich vergesse, dass er nicht mehr da ist. Außerdem existiert der Garten immer noch, nur jetzt gehört er dir.» Ich sah zu dem Foto von Dad und mir, auf dem wir neben dem 1965er Jaguar standen, den wir ein Jahr lang restauriert hatten: Er würde immer Dad gehören, auch wenn er jetzt auf meinen Namen registriert war.

«Das stimmt. Ich wusste nicht, dass dein Vater gestorben ist. Mein Beileid.»

«Danke.» Ich räusperte mich und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die Skyline. «Es ist schon ein paar Jahre her, und ich habe alles dafür getan zu verhindern, dass es in der Presse bekannt wird. Jeder gräbt ständig in meiner Vorgeschichte, um herauszufinden, ob es einen Grund gibt, warum alle meine Geschichten ein …» Sag es nicht . «Ein trauriges Ende haben.»

«Und gibt es dafür einen Grund?», fragte sie leise.

Diese Frage war mir im Laufe der Jahre schon mindestens hundert Mal gestellt worden, und normalerweise gab ich eine Antwort wie «Ich glaube, Bücher sollten das wahre Leben widerspiegeln», aber dieses Mal brauchte ich einen Moment.

«Auf jeden Fall keine Tragödie, falls du das vermutest.» Ein Lächeln umspielte meine Lippen. «Ich komme aus einer typischen Mittelklassefamilie. Dad war Mechaniker. Meine Mom ist immer noch Lehrerin. Ich bin mit Barbecues, Spielen der Mets und einer nervigen Schwester aufgewachsen, die ich jetzt zu schätzen gelernt habe. Enttäuscht?» Die meisten Leute waren es, sie dachten, ich müsse ein Waisenkind sein oder etwas ähnlich Schreckliches erlebt haben.

«Ganz und gar nicht. Klingt eigentlich ziemlich perfekt.» Ihre Stimme verhallte.

«Beim Schreiben trete ich praktisch in die Geschichte hinein, und das Erste, was ich an einer Figur sehe, ist ihre Schwäche. Das Zweite, was ich sehe, ist, wie diese Schwäche zur Stärke führen kann … oder zur Zerstörung. Ich kann einfach nicht anders. Die Geschichte spielt sich in meinem Kopf ab, und das ist es, was schlussendlich auf dem Papier landet.» Ich entfernte mich vom Fenster und lehnte mich gegen die Kante meines Schreibtisches. «Tragisch, herzerwärmend, traurig … sie ist einfach, was sie ist.»

«Hmm.» Ich konnte fast sehen, wie sie mit geneigtem Kopf über meine Worte nachdachte. Wahrscheinlich verengten sich ihre Augen gerade leicht, und dann nickte sie vermutlich, als sie meine Gedanken akzeptiert hatte. «Gran hat immer gesagt, dass sie die Figuren als ganze Menschen mit einer komplizierten Vergangenheit sieht, die auf Kollisionskurs sind. Sie sah ihre Schwächen als etwas, das es zu überwinden galt.»

Ich nickte, als könne sie mich sehen. «Genau. Normalerweise nutzte sie das, um die Figuren zu besseren Menschen zu machen. Sie ließ sie ihre Hingabe auf die Art beweisen, die am wenigsten zu erwarten war. Gott, darin war sie die Beste. » Das war eine Fähigkeit, die ich noch nicht beherrschte – das erfolgreiche Um-Vergebung-Flehen. Die große Geste. In meinen Geschichten kam immer, kurz bevor es so weit war, diese Bitch namens Schicksal ins Spiel und schnappte den Protagonisten die Chance vor der Nase weg.

«Das war sie. Sie liebte … die Liebe.»

Ich hob die Augenbrauen. «Und genau deshalb muss diese Geschichte das bewahren», platzte ich heraus, verzog dann aber das Gesicht. Ein Atemzug verging, dann zwei. «Georgia? Bist du noch dran?» Sie würde bestimmt jeden Moment auflegen.

«Ja», sagte sie. Es lag kein Zorn in ihrer Stimme, aber auch keine Nachgiebigkeit. «In dieser Geschichte geht es im Kern um Liebe, aber es ist keine Liebesgeschichte. Das ist der Grund, warum ich sie dir gegeben habe, Noah. Du schreibst keine Liebesromane, schon vergessen?»

Ich blinzelte und erkannte endlich, wie groß die Kluft zwischen uns war. «Aber ich habe dir gesagt, dass ich dieses Buch als Liebesroman schreiben werde.»

«Nein, du hast gesagt, dass Gran besser im Schreiben von Liebesromanen ist als du», konterte sie. «Du hast versprochen, dass du es richtig machen wirst. Ich wusste, dass es ein trauriges Ende braucht, also habe ich zugestimmt, dass du der richtige Mann für diese Aufgabe bist. Ich dachte, du würdest am ehesten einfangen, was sie nach dem Krieg wirklich durchgemacht hat.»

«Heilige Scheiße.» Ich musste nicht den Gipfel des Everest erklimmen, sondern den Mond besteigen, und die ganze Situation basierte auf einem Missverständnis. Unsere Ziele waren nie dieselben gewesen.

«Noah, wenn ich gewollt hätte, dass dieses Buch ein Liebesroman wird, hätte ich Christopher gesagt, er soll mir einen seiner Liebesromanautoren schicken, oder?»

«Warum hast du mir das in Colorado nicht gesagt?», fragte ich mit zusammengebissenen Zähnen.

«Das habe ich!», schnauzte sie, um sich zu verteidigen. «In meinem Foyer habe ich dir gesagt, dass du ihnen auf keinen Fall ein Happy End geben kannst, aber du hast nicht zugehört. Du hast mir nur ein arrogantes «Wollen wir wetten» hingeworfen und bist gegangen.»

«Weil ich dachte, du willst mich damit herausfordern!»

«Tja, das habe ich aber nicht!»

«Jetzt weiß ich das auch!» Ich massierte mir den Nasenrücken mit den Fingerspitzen und suchte nach einem Ausweg, obwohl es so schien, als befänden wir uns in einer Sackgasse. «Willst du wirklich, dass die Geschichte deiner Gran traurig und schwermütig wird?»

«Gran war nicht schwermütig. Und es ist keine Liebesgeschichte!»

«Das sollte es aber. Wir können ihr das Ende geben, das sie verdient hat.»

«Womit, Noah? Willst du ihre reale Geschichte mit einem ausgedachten Happy End beenden, in dem sie und Jameson auf einem weiten Feld mit ausgestreckten Armen aufeinander zulaufen?»

«Nicht ganz.» Los geht’s . Das war meine Chance. «Stell dir vor, sie geht einen langen, gewundenen, von Kiefern gesäumten Feldweg entlang, die Szene erinnert daran, wie sie sich kennengelernt haben, und in dem Moment, in dem er sie bemerkt …» Ich konnte es deutlich vor meinem inneren Auge sehen.

«Oh Gott, das ist so ein Klischee!»

«Klischee?» Ich verschluckte mich fast an dem Wort. Es war sogar besser, für ein Arschloch gehalten zu werden, als zu hören, wie die eigene Idee als Klischee bezeichnet wurde. «Ich weiß, was ich mache. Also lass es mich einfach machen!»

«Weißt du, warum ich immer wieder auflege?»

«Klär mich auf.»

«Weil nichts von dem, was ich sage, für dich von Bedeutung ist und ich damit verhindere, dass wir beide weiter Zeit vergeuden.»

Klick .

«Verdammt noch mal!», fauchte ich und legte mein Handy vorsichtig zur Seite, damit ich gar nicht erst in Versuchung kam, es durch den Raum zu werfen.

Was sie zu sagen hatte, war wichtig. Ich war nur verdammt schlecht darin, ihr in unseren Gesprächen den Vortritt zu lassen, was wiederum ein Problem war, das ich offenbar insbesondere mit dieser Frau hatte.

Das Schreiben war so viel einfacher als der Umgang mit echten Menschen. Gut möglich, dass es Leute gab, die meine Bücher nicht zu Ende lasen – im literarischen Sinne also ebenfalls einfach auflegten –, aber ich erfuhr nie, ob sie die Lektüre abbrachen, bevor sie zu den wichtigen Parts gekommen waren, denn ich hatte meine Chance bereits genutzt, die mir wichtigen Dinge zu vermitteln. Selbst wenn sie das Buch angewidert zuschlugen, war ich nicht da, um das mitansehen zu müssen.

Ich fuhr mir mit den Händen über das Gesicht und stieß ein genervtes Zischen aus. Es schien, als wäre ich jemandem begegnet, der noch größere Probleme damit hatte, die Kontrolle abzugeben, als ich.

«Irgendein Ratschlag, Jameson?», fragte ich die Seiten des Manuskripts und der Briefe, die ich ausgedruckt hatte. «Du hast es irgendwie geschafft, über ein ganzes Kriegsgebiet hinweg mit ihr zu kommunizieren. Aber verdammt, du musstest auch bestimmt nicht erst per Telefon Scarletts Mauern einreißen, oder?»

Ich nahm mir einen Moment Zeit, um mich in die Geschichte hineinzuversetzen, um wirklich zu fühlen, was Georgia von mir verlangte. Aber die Vorstellung, wie Scarlett lernte, loszulassen und einfach weiterzumachen, fühlte sich einfach zu schwer an, selbst für mich. Sie zu etwas zu verdammen, was für sie wahrscheinlich nur ein halbes Leben bedeutet hatte – wenn auch nur in einer Geschichte –, war nicht richtig.

Drei Monate. Mehr Zeit blieb mir nicht, um nicht nur Georgia davon zu überzeugen, dass diese Geschichte glücklich für Scarlett und Jameson enden musste, sondern auch, um das verdammte Ding mit der Stimme einer anderen Autorin und in deren Stil zu Ende zu schreiben. Dann warf ich einen Blick auf den Kalender und stellte fest, dass es in Wahrheit sogar weniger als drei Monate waren. Ich fluchte. Lautstark.

Ich musste meine Taktik ändern, sonst bestand die reale Möglichkeit, dass ich zum ersten Mal in meiner Karriere eine Deadline nicht würde halten können.