Kapitel 9

Georgia

I ch starrte zum gefühlt millionsten Mal in dieser Woche auf mein Handy. Immer wenn ich dachte, Noah hätte endlich verstanden, dass ich nicht nachgeben würde, rief er wieder an und schlug irgendein kitschiges Ende für Grans Geschichte vor, und jedes war schlimmer als das davor.

So wie jetzt.

«Entschuldige … hast du gerade gesagt, er springt überraschend aus einem Weihnachtsgeschenk?» Ich nahm das Handy vom Ohr und warf einen Blick auf das Display, um mich zu vergewissern, dass das am anderen Ende wirklich Noah war. Ja, das war seine Nummer, seine tiefe und – wie ich zähneknirschend zugeben musste – sexy Stimme, mit der er mir eine absolut lächerliche Geschichte erzählte.

«Ganz genau. Stell dir einfach mal vor …»

«Du hast den Verstand verloren, und ich werde meinen auch verlieren, wenn du wei …» Darum ging es in Wirklichkeit! Ich verengte die Augen. «Das ist gar nicht das richtige Ende, oder? Keines von denen ist dein richtiges Ende.»

«Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst. Weihnachten ist eine fröhliche Feier im Namen der Liebe und der Hoffnung.» Er war gut. Er klang sogar beleidigt.

«Aha. Du schlägst mir eklatant schlechte, kitschige Enden vor, um mich zu zermürben, damit ich deine eigentliche Idee nicht ablehne, habe ich recht?» Ich schenkte mir Eistee ein und machte mich auf den Weg zu Grans Büro – meinem Büro.

«Um ehrlich zu sein, ich hatte auch eine etwas … traurigere Idee.» Ein leiser Aufprall drang durch das Telefon, als ob er sich auf seine Couch – oder sein Bett – geworfen hätte.

Nicht, dass ich an sein Bett denken würde, denn daran dachte ich auf keinen Fall.

«Okay. Bitte, erzähl es mir.» Ich stellte den Tee auf dem Untersetzer ab und schaltete meinen Computer an. Ich hatte während der Scheidung alles Mögliche aufgeschoben, was bedeutete, dass ich die Stiftungsarbeit von sechs Monaten für Gran zu erledigen hatte, aber damit war ich bald fertig.

«Also, sie befinden sich auf einem Passagierschiff auf halbem Weg über den Atlantik, glauben, sie hätten es geschafft, und bumm ! Ein U-Boot versenkt sie.»

Mir blieb der Mund offen stehen. «Das ist … düster.» Aber wenigstens hatte er tatsächlich über meinen Standpunkt nachgedacht.

«Das ist noch nicht alles. Als das Schiff sinkt, bringt er sie zu einem der Rettungsboote, aber es gibt einfach nicht genug Plätze, und Scarlett ist hin- und hergerissen, ob sie den letzten Platz nehmen und damit William in Sicherheit bringen soll oder ob sie, in der Hoffnung auf weitere Plätze in einem anderen Boot, mit der panischen Menge darum kämpfen soll.»

Ich runzelte die Stirn. Einen Moment mal .

«Also ein bisschen Action, damit der Leser den Atem anhält, aber am Ende sind dann nur sie im Wasser, und Jameson schiebt Scarlett auf das, was von dem Wrack übrig ist …»

«Oh mein Gott, du versuchst gerade nicht, mir das Ende von Titanic zu verkaufen.» Meine Stimme war so hoch, dass ich zusammenzuckte.

«Hey, du wolltest etwas Trauriges.»

«Unglaublich. Ist die Zusammenarbeit mit dir immer so schwierig?»

«Woher soll ich das wissen, ich arbeite mit niemandem außer Adam zusammen. Und der kann nicht mit dem Lektorat dieses Romans beginnen, bevor ich ihn nicht fertiggestellt habe.» Sein Ton wurde schärfer. «Also, bist du bereit, über konkrete Vorschläge zu sprechen?»

«Die da zum Beispiel wären? Er fliegt her und landet auf der Straße vor ihrem Haus? Oder warte, ich weiß es, er läuft ihr eilig durch den Hafen nach, um sie noch zu erwischen, bevor sie das Schiff besteigt, wie in einer recycelten Szene aus einer romantischen Komödie aus der Hölle, garniert mit einem Twist aus den Vierzigerjahren?» Ich hämmerte mein Passwort in die Tastatur meines Laptops. «Unter keinen Umständen.»

«Ich dachte eigentlich eher an einen Welpen mit einem kleinen Schlüssel am Halsband …», verfiel er in Sarkasmus.

«Igitt!» Ich legte auf.

Mom trat mit einem Lächeln durch die Tür. «Alles okay?»

«Ja. Ich muss mich nur mit …» Mein Handy klingelte wieder. «Noah herumschlagen», sagte ich verzweifelt, als sein Name auf meinem Display erschien. «Was ist?», schnauzte ich in mein Telefon.

«Hast du eine Ahnung, wie kindisch es ist, in einem Gespräch mit jemandem, mit dem man sich auf eine Partnerschaft geeinigt hat, einfach aufzulegen?», fragte er mit einer Stimme, die so sanft und gelassen klang, dass sie mich nur noch mehr verärgerte.

«Die Befriedigung, die mir das verschafft, ist diesen angeblichen Mangel an Reife allemal wert.» Vielleicht genoss ich auch einfach nur die Tatsache, dass ich auflegen konnte . Dass ich zum ersten Mal seit sechs Jahren für niemanden auf Abruf bereitstand.

«Wo wir gerade bei Dingen sind, die dich befriedigen: Wie wäre es, wenn wir die Geschichte in einem schönen Obstgarten enden lassen, wo sie picknicken …»

«Noah», sagte ich warnend.

«Aber dann wird Jameson von einer Biene gestochen – nein, von Dutzenden von Bienen, und er ist allergisch …»

«Wir reden hier nicht von My Girl

Moms Augenbrauen wanderten so weit hoch, dass sie fast gegen ihren Haaransatz stießen.

«Du hast recht, also lass uns darüber reden, wie wir den beiden ein Happy End geben, bei dem alle mitfiebern können.»

«Auf Wiederhören, Noah.» Ich legte auf.

«Georgia!», keuchte Mom.

«Was?» Ich zuckte mit den Schultern. «Ich habe mich verabschiedet. Mach dir keine Sorgen. Er ruft morgen wieder an, und wir fangen von vorn an.» So drehten wir uns schon seit Wochen im Kreis.

«Ist alles in Ordnung mit dem Buch?», fragte Mom, die in demselben Sessel Platz genommen hatte, in dem auch Noah gesessen hatte. Manche Dinge standen noch immer zwischen uns – aber so würde es immer sein, und ich musste zugeben, es war mehr als nur schön, sie hier zu haben. Zu wissen, dass sie über Weihnachten bleiben würde, hatte die Spannungen zwischen uns verringert und mir sogar ein wenig Hoffnung gemacht, dass wir vielleicht wirklich zueinanderfinden könnten. Immerhin hatten wir, jetzt, da Gran nicht mehr da war, nur noch einander.

Ich rieb mir über die Nasenwurzel. «Er kämpft immer noch um das Ende.»

«Das ist der Grund dafür, dass die Dinge ins Stocken geraten?»

Als ich die Augen öffnete, bemerkte ich, dass sie auf ein gerahmtes Foto von Gran und Grandpa William starrte, auf dem er in seinen Zwanzigern war. Ich hatte ihn nie kennengelernt – er war gestorben, als Mom sechzehn war.

Ich war weniger als ein Jahr später geboren worden.

«Na ja, er zumindest gerät auf jeden Fall ins Stocken, denn er weigert sich, mit dem Schreiben anzufangen, bevor wir uns nicht darauf geeinigt haben, was am Ende passieren soll.» Ich war noch nie in meinem Leben so dankbar für eine Vertragsklausel gewesen. «Wenn es nach ihm ginge, gäbe es am Ende nur Herzchen und Regenbögen.»

Moms Stirn legte sich in Falten, und sie sah mich wieder an. «Wie bei all ihren Büchern.»

«So ziemlich.» Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich noch zwanzig Minuten bis zu meinem angesetzten Termin mit den Anwälten hatte.

«Und du denkst, das ist etwas Schlechtes?»

Ich drehte mich in meinem Sessel mit den Rollen und griff nach dem fünf Zentimeter dicken Ordner, den mein Anwaltsteam letzte Woche über Nacht zusammengestellt hatte. «Ich denke, für diese Geschichte wäre es nicht das Richtige.»

«Aber ist er nicht …» Mom presste ihre Lippen zu einem festen Strich zusammen.

«Sag’s schon.» Ich klappte den Ordner auf.

«Na ja, er ist der Experte, Gigi. Du bist es … nicht.»

Als sie den Namen aussprach, hielt ich mitten im Umblättern inne. «Er mag vielleicht der Experte für seine eigenen Geschichten sein, aber wenn man entscheiden müsste, wer mehr über Gran weiß, Noah Harrison oder ich, würde ich sagen, ich bin die Expertin.» Ich blätterte die Seite um.

«Ich finde es nur ein bisschen lächerlich, den gesamten Prozess zu verzögern, nur weil ihr kreative Differenzen habt. Denkst du nicht?» Sie schlug die Beine übereinander und runzelte sorgenvoll die Stirn. «Ist es nicht besser, das alles schnell hinter sich zu bringen, damit du dich hier richtig einleben kannst?»

«Mom, der Vertrag ist unterzeichnet. Schon seit einem Monat.» Es war auch schon überall in den Medien davon berichtet worden – so viel zum Thema «Niemandem etwas davon erzählen». Helen hatte bereits Dutzende von Anrufen wegen der Nebenrechte bekommen. Ich war noch nie in meinem Leben so froh gewesen, nicht mehr in New York City zu sein. Hier konnte ich E-Mails weiterleiten oder Anrufe von Leuten ablehnen, von denen ich wusste, dass sie nur das Manuskript wollten.

In New York war es unmöglich gewesen, auf einer Cocktailparty auch nur auf die Toilette zu gehen, ohne dass mich jemand aus der Branche auf Gran ansprach. Andererseits war ich auch immer mit Damian unterwegs gewesen, möglicherweise war ich nur auf den falschen Partys aufgetaucht.

«Also hält dieser kleine … Streit, den du mit Noah Harrison hast, das Ganze nicht auf?» Sie beugte sich vor.

«Nope. Das Buch ist beschlossene Sache.»

«Warum wurde dann der Vorschuss noch nicht überwiesen?»

Ich wandte mich ihr ruckartig zu. «Was?»

Sie rutschte mit sorgenvoller Miene unruhig herum. «Ich dachte, der Verlag muss den Vorschuss zahlen, sobald du den Vertrag unterschrieben hast.»

«Stimmt, aber er wird nicht komplett auf einen Schlag ausbezahlt. Das dauert noch.» Mir wurde flau im Magen, aber ich ignorierte es. Mom gab ihr Bestes, und ich musste ihr eine Chance geben. Eine voreilige Schlussfolgerung würde unsere Beziehung nur zurückwerfen.

«Was meinst du damit, er wird nicht auf einen Schlag ausbezahlt?»

In meinem Kopf schrillten Alarmglocken, aber in ihrem Blick lag nichts als pure Neugier. Zeigte sie vielleicht endlich Interesse? «Die Auszahlung ist in drei Teile gestaffelt. Der erste kommt bei Unterzeichnung, der zweite bei Abgabe, und der dritte bei Veröffentlichung.»

«Drei Teile.» Moms Augenbrauen schossen in die Höhe. «Interessant. Ist das so üblich?»

«Das kommt ganz auf den Vertrag an.» Ich zuckte mit den Schultern. «Der erste Teil sollte in den nächsten Tagen auf deinem Konto sein, hab da mal ein Auge drauf. Falls nichts eingeht, sag mir Bescheid, dann bitte ich Helen, das zu überprüfen.»

«Ich habe ein Auge drauf», versprach sie und erhob sich. «Du siehst aus, als würdest du arbeiten wollen, also lasse ich dich in Ruhe und sehe mal nach, was Lydia uns zum Abendessen gemacht hat.»

Ich rutschte unruhig auf meinem Sessel hin und her. «Mom?»

«Hm?» Sie drehte sich im Türrahmen um.

«Ich bin froh, dass du hier bist.» Ich schluckte, in der Hoffnung, den Kloß in meinem Hals zu vertreiben.

«Natürlich, Gi …» Sie zuckte zusammen. «Georgia. Weißt du, nach meiner ersten Scheidung hat es mir sehr geholfen, bei meiner Familie zu sein.» Ihr Lächeln erlahmte. «Damals wurde mir etwas Wertvolles genommen, und es war deine Gran, die mir emotional wieder auf die Beine geholfen und mir in Erinnerung gerufen hat, wer ich bin. Eine Stanton. Danach habe ich immer nur Doppelnamen angenommen, so viel ist sicher.» Sie umklammerte den Türgriff so fest, dass ihre Knöchel weiß wurden. «Gib deinen Namen nie wieder her, Georgia. Eine Stanton zu sein, hat etwas Machtvolles.»

Mein Handy leuchtete auf; jemand rief an. Das Anwaltsteam . «Deinen Namen?», fragte ich. «Das ist es, was dein erster Mann dir genommen hat?»

Sag mich. Sag, dass du mich dadurch verloren hast .

«Nein. Ich war naiv, ich habe ihn selbst aufgegeben, aber ich war erst zwanzig. Er hat mir die Hoffnung genommen.» Sie deutete auf mein Handy. «Du solltest rangehen.» Sie winkte kurz, und dann sie war weg.

Na schön .

Ich nahm den Anruf an und hob das Handy an mein Ohr. «Georgia Stanton.»

***

Z wei Tage später verließen Hazel und ich den Poplar Pub, nachdem wir dort zu Mittag gegessen hatten, auch wenn ich nur in meinem Gericht herumgestochert hatte. Nichts schmeckte mir mehr. Das waren nur Nährstoffe.

«Das wievielte Mal war das jetzt?», fragte Hazel, als wir den Bürgersteig an der Main Street entlanggingen. Hier herrschte nun, wo die Touristensaison vorbei war und die Kinder wieder zur Schule gingen, eine friedliche Stille, die das nächste Mal erst in den Wochen vor den Sommerferien zurückkehren würde, wenn die Skisaison vorbei war.

«Ich zähle nicht mehr mit.» Noah rief an. Noah versuchte mich zu überzeugen. Ich legte auf. So einfach war das.

«Du hast dein Mittagessen kaum angerührt», bemerkte sie mit einem Blick über ihre Sonnenbrille hinweg und schob sich eine Locke hinters Ohr.

«Ich hatte keinen Hunger.»

«Hm.» Ihre Augen verengten sich. «Also, nachdem du mir im Lernzentrum in Rekordzeit geholfen hast, die neuen Arbeitsbücher zu sortieren, und außerdem noch Owens Mutter heute Nachmittag auf die Kinder aufpasst, dachte ich daran, einen kurzen Abstecher zu Margot zu machen, für eine Pediküre. Was hältst du davon?»

«Das solltest du unbedingt tun. Du hast dir eine kleine Auszeit verdient.» Ich bewegte mich nach rechts, damit Mrs. Taylor und ihr Mann an uns vorbeigehen konnten, und schenkte ihnen ein Lächeln. Das hatte ich vermisst – die einfache Situation, dass ich jemandem auf der Straße begegnete, den ich kannte. In New York war immer etwas los, die Fußgänger bewegten sich in einem stetigen, zielgerichteten Strom aus Fremden.

«Du auch.»

«Oh.» Wir kamen an meiner Lieblingseisdiele und der Grove Goods Bäckerei vorbei, wo es himmlisch duftete – Donnerstag war Zimtschneckentag. Mein Auto stand nur einen Block entfernt.

«Georgia …» Sie seufzte. Als wir vor dem Buchladen stehen blieben, umfasste sie meinen Ellbogen. «Du bist heute ein bisschen abwesender als sonst.»

Vor Hazel konnte ich einfach nichts verbergen. «Solange ich beschäftigt bin, geht es mir gut, und bisher war ich das ja auch. Der Umzug, das Putzen, die Sache mit dem Buch, das Durchackern des Papierkrams – durch all das habe ich mich immer auf das konzentrieren können, was aktuell anlag, aber jetzt …» Ich seufzte und ließ meinen Blick über die Stadt schweifen, die ich so liebte. «Alles an diesem Ort ist immer noch wie früher. Er sieht aus wie früher, er riecht wie früher …»

«Ist das gut?» Hazel schob sich ihre Sonnenbrille auf den Kopf.

«Das ist großartig ! Es ist nur so, dass ich nicht mehr die bin, die ich früher war, also muss ich herausfinden, wo ich hingehöre. Es ist schwer zu erklären … es ist, als würde mich eine Stelle jucken, an der ich mich nicht kratzen kann. Ich fühle mich unruhig.»

«Weißt du, was da helfen könnte?» Ein verschmitztes Lächeln erhellte ihr Gesicht.

«Ich schwöre, wenn du jetzt sagst, eine Pediküre …»

«Du solltest Noah Harrison flachlegen.»

Ich schnaubte. «Ja, klar.» Allein bei dem Gedanken wurde mir warm – also hör auf, daran zu denken!

«Ich mein’s ernst! Flieg übers Wochenende nach New York, klär die Details des Buches und lass dich flachlegen.» Peggy Richardson, die uns im Vorbeigehen offensichtlich gehört hatte, fiel die Kinnlade herunter. «Das ist im Grunde Multitasking. Schön, dich zu sehen, Peggy!», sagte Hazel lächelnd und winkte sogar.

Peggy rückte den Riemen ihrer Handtasche zurecht und ging weiter die Straße hinunter.

«Du bist unmöglich.» Ich rollte mit den Augen.

«Ach, komm schon. Wenn du es nicht für dich tun willst, dann tu es für mich . Hast du das Foto von ihm am Strand gesehen, das ich dir gestern geschickt habe? Auf dem Bauch dieses Mannes könnte man Wäsche waschen.» Sie hakte ihren Arm bei mir ein, und wir schlenderten sehr gemächlich und langsam die Straße entlang.

«Ich habe sämtliche drei Dutzend Bilder gesehen, die du mir geschickt hast.» Der Mann hatte unglaubliche Bauchmuskeln, und die Haut, die sich über die Muskeln seines Oberkörpers und seines Rückens spannte, zierten auch noch wunderschöne Tattoos. Laut dem Artikel, den sie mir geschickt hatte, hatte er sich für jedes seiner Bücher eine Tätowierung stechen lassen.

«Und du willst ihn noch immer nicht flachlegen? Wenn nicht, setze ich ihn auf jeden Fall auf meine Freifahrtschein-Liste. Für diesen Mann würde ich sogar Scott Eastwood von der Liste schmeißen.»

«Ich habe nie gesagt, dass ich es nicht will …» Ich verzog das Gesicht und kniff die Augen zusammen. «Selbst wenn Noah wollen würde … ich war noch nie der Typ für Affären, und ich werde nach dem Ende meiner Ehe nicht das erste Mal ausgerechnet mit dem Mann Sex haben, der Grans Buch zu Ende schreiben soll. Punkt.»

Ihre Augen blitzten. «Aber du willst es. Und natürlich würde er das auch wollen – du bist heiß. Du bist geschieden. Und ich weiß, dass Damian es im Bett nicht gebracht hat, vergiss das nicht.»

«Hazel!», zischte ich und warf einen Blick über meine Schulter, aber wir waren allein.

«Es stimmt doch, und ich halte nur für dich die Augen offen. Ich weiß, dass du eine Vorliebe für grüblerische, kreative Typen hast. Hast du diese Tattoos gesehen? Klassischer Bad Boy, und wie viele Bad-Boy-Autoren kennst du?»

«Es gibt eine Menge Bad-Boy-Autoren auf der Welt.»

«Wen zum Beispiel?»

Ich blinzelte. «Äh. Hemingway?» Schlechte Wahl.

«Der ist tot. Fitzgerald auch. Wie schade.» Sie rollte mit den Augen.

«Wenn du das Thema endlich fallenlässt, gehe ich sofort mit dir zur Pediküre.»

«Na schön.» Sie grinste. «Aber nur für den Moment. Ich bin immer noch der Meinung, du solltest ihn flachlegen.»

Ich schüttelte den Kopf in Anbetracht dieser unglaublich schlechten Idee, dann entdeckte ich Dan Allen durch die Schaufenster von Mr. Navarros Laden. «Ist Dan immer noch Immobilienmakler?» Er hat den Laden sicher in seinem Portfolio.

«Ja. Er hat uns letztes Jahr bei der Suche nach unserem Haus geholfen», antwortete Hazel und winkte, als Dan uns ertappte, wie wir ihn anstarrten.

«Würde es dir etwas ausmachen, die Pediküre noch ein paar Minuten aufzuschieben?» Ich schaute wieder auf die Schaufenster zu beiden Seiten der Tür und stellte mir vor, wie in ein paar Stunden das Licht der Nachmittagssonne darauf fallen würde.

«Kein Problem.»

Ich öffnete die schwere Glastür und betrat den Laden.

Hier standen keine riesigen Aquarien oder Ballen mit Hamstereinstreu mehr. Sogar die Regale waren verschwunden. Der Laden war so gut wie leer, bis auf Dan, der uns mit einem charismatischen Lächeln begrüßte, das sich seit der Highschool nicht verändert hatte.

«Georgia, das ist ja ewig her! Sophie hat erzählt, dass sie dich bei deiner Ankunft in der Stadt gesehen hat.» Er trat vor und schüttelte mir die Hand, dann auch die von Hazel.

«Hey, Dan.» Ich schielte um seine schlaksige Gestalt herum in den hinteren Teil des Geschäfts. «Tut mir leid, dass ich hier so reinplatze. Ich war nur neugierig auf den Laden.»

«Oh, bist du auf der Suche nach einer Gewerbefläche?», fragte er.

«Ich bin … nur neugierig.» War ich auf der Suche? Wäre das Ganze überhaupt machbar?

«Sie ist nur neugierig.» Hazel grinste.

Er wechselte in den Immobilienmakler-Modus und zählte uns die wichtigsten Fakten auf, während er uns an dem einzigen verbliebenen Möbel vorbeiführte, der großen Verkaufstheke, an der ich meinen ersten Goldfisch bezahlt hatte.

«Und warum wurde das Objekt bisher nicht verkauft?», fragte ich, als er die Hintertür öffnete, die vermutlich zu einem Lagerraum führte. «Wie lange ist es her, seit Mr. Navarro den Laden aufgegeben hat? Ein Jahr?»

«Er ist seit etwa sechs Monaten auf dem Markt, aber der Lagerraum, also, na ja, warte, ich zeige es dir.» Er schaltete das Licht an, und wir folgten ihm in den riesigen Raum.

«Wow.» Hier gab es zwei große Garagentore, der Boden und die Wände waren aus Zement und an der Decke hingen Reihen von Leuchtstoffröhren.

«Der Lagerraum ist größer als der Laden, was Mr. Navarro gefallen hat, weil er dadurch seinen Oldtimer – der war sein Hobby – nicht in Mrs. Navarros Einfahrt stellen musste.»

Dort drüben . Das war der perfekte Platz für den Glasschmelzofen. Vielleicht auch nur für einen kleinen Schmelzofen. Und eine Verwärmtrommel, versteht sich. Die Nische war auch perfekt für einen Kühlofen. Als Nächstes musterte ich die Decke. Hoch, aber ein paar große Lüftungsschlitze könnten nicht schaden.

«Ich kenne diesen Blick», sagte Hazel.

«Es gibt keinen Blick», antwortete ich und malte mir schon den besten Platz für eine Arbeitsbank und einen Glasbläsertisch aus.

«Wie viel wollen Sie dafür haben?», fragte Hazel.

Bei dem Preis fielen mir fast die Augen aus dem Kopf. Wenn ich die Kosten für die Ausstattung hinzurechnete, würde ich so ziemlich mein gesamtes Erspartes aufbrauchen. Es war naiv, auch nur darüber nachzudenken, und doch stand ich hier und tat genau das. Nachdem ich Dan gebeten hatte, mich anzurufen, falls er ein Angebot bekam, gingen wir zur Pediküre.

Hazel schickte ihrer Mom noch schnell eine Nachricht und fragte, ob sie uns begleiten wollte, und ich tat dasselbe mit meiner, aber sie antwortete nicht. Allerdings schlief sie in letzter Zeit sehr viel.

Als ich den Wagen eine Stunde später in der Garage abstellte, leuchteten meine Zehennägel in Summer Coral Pink. Die logische Seite meines Gehirns befand sich bereits im Krieg mit der kreativen und zählte alle Gründe auf, warum ich nicht einmal im Traum daran denken sollte, den Laden zu kaufen. Es war Jahre her, dass ich in einem Atelier gewesen war. Es war riskant, ein Unternehmen zu gründen. Was, wenn ich dabei genauso spektakulär scheiterte wie in meiner Ehe? Wenigstens würde es niemand in der Klatschpresse drucken .

Ich warf meine Schlüssel klirrend auf die Arbeitsfläche der Küche.

«Bist du das, Gigi?», rief Mom von der Eingangshalle aus.

Ich verdrehte die Augen über den Spitznamen und ging in die Richtung, aus der ihre Stimme gekommen war. «Ich bin’s. Ich habe eine verrückte Idee. Oh, und ich hatte dir wegen einer Pediküre …»

Mom lächelte, ihre Frisur war ebenso perfekt wie ihr Make-up, und ihre Koffer standen in der Eingangshalle neben ihr, aufgereiht wie kleine Enten. Ihre Designer-Tasche hatte sie sich über die Schulter gehängt. «Oh, gut! Ich hatte gehofft, dich noch zu sehen, bevor ich losmuss.»

«Wohin musst du denn?» Ich verschränkte die Arme vor der Brust und rieb mir darüber, um die Gänsehaut zu vertreiben, die sich darauf bildete. Gegen die sofort einsetzende Übelkeit konnte ich nichts machen.

«Also, Ian hat angerufen, und es hat sich herausgestellt, dass er in eine kleine finanzielle Schieflage geraten ist, also fahre ich nach Seattle und helfe ihm.» Sie fischte ihr Handy aus ihrer Tasche.

Ian. Ehemann Nummer vier. Der, der Glücksspiele mochte.

Die Teile fügten sich zu einem Bild zusammen, das ich mir bisher absichtlich nicht vollständig angesehen hatte. «Der Vorschuss ist angekommen, nicht wahr?» Meine Stimme klang klein und schwach … Ich fühlte mich auch klein und schwach.

«Ich bin froh, dass du fragst, denn er ist tatsächlich da!» Mom strahlte. «Ich wollte, dass du dir um nichts Gedanken machen musst, also habe ich Lydia gebeten, dafür zu sorgen, dass genügend Lebensmittel da sind.»

Lebensmittel. Aha.

«Wann kommst du zurück?» Die Frage war lächerlich, aber ich musste sie stellen.

Sie riss ihren Blick von ihrem Handy los und begegnete meinem mit einem Anflug von Schuldgefühlen.

«Du kommst nicht wieder zurück.» Es war eine Feststellung, keine Frage.

Schmerz blitzte in Moms Augen auf. «Also, das war gemein.»

«Kommst du denn wieder zurück?»

«Na ja, nicht sofort. Ich werde ein bisschen auf Ian aufpassen müssen. Das könnte unsere Chance sein, uns wieder anzunähern. Zwischen uns hat es immer geknistert. Die Anziehung ist nie verblasst.» Sie fummelte an ihrem Telefon herum. «Ich habe ein Uber gerufen. Die brauchen hier ewig.»

«Es ist eine kleine Stadt.» Ich schaute mich im Foyer um, von den Flügeltüren, die ins Wohnzimmer führten, zu den gerahmten Bildern an den Wänden. Ich tat alles, um sie nicht direkt ansehen zu müssen. Galle stieg in meiner Kehle auf, und mein Herz schrie auf, als die dünnen Nähte, mit denen ich es wieder zusammengenäht hatte, eine nach der anderen aufplatzten.

«Wem sagst du das.» Sie schüttelte den Kopf.

«Was ist mit Weihnachten?»

«Pläne ändern sich, Schatz. Aber du hast jetzt wieder festen Boden unter den Füßen, Gigi, und sobald du das Gefühl hast, dass du bereit bist, dich dem Rest der Welt zu stellen, gehst du zurück nach New York. Hier kannst du dich nicht weiterentwickeln. Das gelingt niemandem.» Sie scrollte durch ihre Apps. «Oh, gut. Noch sieben Minuten.»

«Nenn mich nicht so.»

Hastig sah sie wieder mich an. «Was?»

«Ich habe dir doch gesagt, dass ich diesen Spitznamen hasse. Hör auf, ihn zu benutzen.»

«Oh, entschuldige bitte vielmals. Ich bin ja nur deine Mutter.» Ihre Stimme triefte vor Sarkasmus.

«Du weißt, dass er nur dein Konto leer räumen und dich wieder abservieren wird, oder?» Genau das hatte er schon beim ersten Mal getan, und danach hatte Gran sie aus dem Testament gestrichen.

Moms Augen verengten sich zu Schlitzen. «Das weißt du doch gar nicht. Du kennst ihn nicht.»

«Aber du solltest ihn kennen.» Mein Kiefer zuckte, und ich nahm die Wut, die sich in meiner Brust ausbreitete, dankbar auf, wickelte sie wie Kevlar um mein blutendes Herz. Ich hatte ihr geglaubt wie eine naive Fünfjährige, ich hatte geglaubt, dass sie diesmal zu mir halten würde, wenn auch nur für die nächsten Monate.

«Ich weiß nicht, warum du so gemein bist.» Sie schüttelte den Kopf, als wäre ich diejenige, die hier die Schläge austeilte. «Ich bin deinetwegen geblieben, habe mich um dich gekümmert, und jetzt habe ich es verdient, glücklich zu werden, genau wie du.»

«Genau wie ich?» Ich fuhr mir mit den Händen über das Gesicht. «Ich bin in absolut nichts genau wie du.»

Ihr Gesichtsausdruck wurde weicher. «Oh, mein kleiner Schatz. Du bist aufs College geflohen, und was hast du dort gefunden? Einen einsamen, älteren Mann, der sich um dich kümmert. Du magst deinen Abschluss gemacht haben, aber belüg dich nicht selbst – du warst nicht wegen eines Abschlusses auf dem College; du warst dort auf der Suche nach einem Ehemann, genau wie ich es in deinem Alter war.»

«Das war ich nicht», schoss ich zurück. «Ich habe Damian auf dem Campus getroffen, als er dort potenzielle Drehorte besichtigt hat.»

Mitleid … Oh Gott, das in ihren Augen war Mitleid. «Und du glaubst, dass die Tatsache, dass dein Nachname Stanton war, nichts damit zu tun hatte?»

Ich reckte das Kinn. «Das wusste er gar nicht. Nicht, als wir uns kennenlernten.»

«Du glaubst das also immer noch.» Sie sah wieder auf ihr Handy.

«Weil es stimmt!» Es musste so sein. Falls es nicht so war, würde das bedeuten, dass die letzten acht Jahre meines Lebens eine Lüge waren.

Mom holte tief Luft und richtete den Blick gen Himmel, als ob sie um Geduld beten würde. «Meine liebe Georgia. Je schneller du dich mit der Wahrheit abfindest, desto glücklicher wirst du sein.»

Durch das Fenster neben der Tür blitzte etwas auf. Der bestellte Wagen war da.

Sie verließ mich wieder. Zum wievielten Mal schon? Ich hatte aufgehört zu zählen, als ich dreizehn war.

«Und welche Wahrheit soll das sein, Mom?»

«Wenn man jemanden wie deine Gran in der Familie hat, ist es fast unmöglich, aus ihrem Schatten herauszutreten.» Sie legte den Kopf schief. «Er wusste es. Sie wissen es alle. Du musst lernen, es zu deinem Vorteil zu nutzen.» Ihr sanfter Tonfall stand im Widerspruch zu ihren harschen Worten.

«Ich bin nicht wie du», wiederholte ich.

«Vielleicht jetzt noch nicht», lenkte sie ein und griff nach dem ersten Koffer. «Aber du wirst es noch.»

«Gib mir deinen Schlüssel.» Nie wieder. Das war das letzte Mal, dass sie in mein Leben hineinplatzte und wieder verschwand, sobald sie hatte, was sie wollte.

Sie keuchte auf. «Ich soll meinen Schlüssel abgeben? Den Schlüssel zum Haus meiner Großmutter? Dem Haus meines Vaters ? Du bist vieles, Georgia, aber grausam ganz sicher nicht.»

«Ich meine es ernst.»

«Weißt du, wie ich mich dabei fühle?» Sie presste sich die Hand gegen die Brust.

«Gib. Mir. Deinen. Schlüssel.»

Sie blinzelte gegen die Tränen an, als sie den Schlüssel vom Ring zog und ihn in die Kristallvase auf dem Tisch im Foyer fallen ließ. «Glücklich?»

«Nein», sagte ich leise und schüttelte den Kopf. Ich war mir nicht sicher, ob ich jemals wieder glücklich sein würde.

Ich stand wie erstarrt in derselben Eingangshalle, in der sie mich schon so oft zurückgelassen hatte, und sah zu, wie sie sich mit ihren Koffern abmühte, ohne ihr meine Hilfe anzubieten.

«Ich liebe dich», sagte sie und wartete in der Tür auf meine Antwort.

«Ich wünsche dir einen guten Flug, Mom.»

Sie sah mich wütend an und schloss die Tür.

Dann war es still im Haus.

Ich wusste nicht, wie lange ich dort stand und eine Tür beobachtete, von der ich aus Erfahrung wusste, dass sie sich erst wieder öffnen würde, wenn es Mom passte. Ich wusste, dass ich nie das war, was sie gewollt hatte, und verfluchte mich selbst dafür, dass ich so unvorsichtig gewesen war, etwas anderes zu glauben. Die Standuhr im Wohnzimmer tickte unaufhörlich, was meinen Herzschlag irgendwie beruhigte. Ein hundert Jahre alter Herzschrittmacher.

Jedes Mal, wenn sie weggegangen war, hatte ich dagestanden, mit Grans Armen um mich.

Allein klang als Wort nicht hart genug für das hier.

Ich riss mich zusammen und drehte mich um, wollte zurück in die Küche, wurde aber von einem Klopfen aufgehalten.

Ich war vielleicht naiv, aber ich war nicht grün hinter den Ohren. Mom hatte etwas vergessen, und das war nicht ich. Sie hatte ihre Pläne nicht aufgegeben. Sie hatte ihre Meinung nicht geändert.

Aber trotzdem flackerte dieser verdammte Hoffnungsschimmer in meiner Brust auf, als ich die Tür öffnete.

Ein Paar Augen, dunkler als die Sünde, starrten mich unter halb gehobenen Augenbrauen an, und sein Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln.

Auf meiner Veranda stand Noah Harrison.

«Versuch jetzt mal, einfach aufzulegen, Georgia.»

Ich knallte ihm die Tür direkt vor seinem hinreißenden, selbstgefälligen, Happy-End-süchtigen, dummen Gesicht zu.