Middle Wallop, England
J ameson war wie geschaffen für das Fliegen der Spitfire. Sie war wendig, reaktionsschnell und bewegte sich, als wäre sie eine Verlängerung seines Körpers, was aber auch so ziemlich der einzige Vorteil war, den er im Kampf hatte.
Gut möglich, dass Großbritannien Flugzeuge in einem noch nie dagewesenen Tempo herstellte. Aber was sie brauchten, waren Piloten, die als Vorbereitung für den Kriegseinsatz mehr als nur zwölf Stunden im Cockpit gesessen hatten.
Die deutschen Piloten hatten mehr Erfahrung, mehr Flugstunden, mehr Fliegerasse und insgesamt mehr bestätigte Abschüsse. Gott sei Dank konnten die Nazis ihre Maschinen nirgendwo auf englischem Boden auftanken, sonst hätte die Royal Air Force die Luftschlacht um England schon vor über einem Monat verloren.
Aber sie steckten immer noch mittendrin.
Der heutige Tag war der bisher härteste gewesen. Jameson hatte sich zwischen den Starts kaum ausruhen können, und das auch nur auf Flugplätzen, die nicht seine gewohnten waren. London stand unter Beschuss. Wie die gesamte Insel, verdammt. So war es schon in der letzten Woche gewesen, heute aber war der Himmel voller Flugzeuge und Rauch. Die Angriffe der Nazis nahmen kein Ende. Eine Welle von Bombern und Begleitjägern nach der anderen brach über sie herein.
Adrenalin schoss durch seinen Körper, als er irgendwo südöstlich von London ein feindliches Flugzeug ins Visier nahm und dicht an das Heck des Jägers heranflog. Je näher er der Maschine kam, desto einfacher wurde es, das Ziel zu treffen. Allerdings stürzte man auch leichter mit ihm ab. Der Feind setzte zu einem steilen Steigflug an, er war fast in der Senkrechten, während Jameson ihn durch eine dichte Wolkenschicht verfolgte. Sein Magen krampfte sich zusammen.
Ihm blieben nur noch wenige Sekunden, mehr nicht.
Der Motor stotterte bereits, verlor an Kraft.
Das Ding würde ganz abrauschen, wenn er seine Maschine voll aufrichtete. Denn anders als die Messerschmitt hatte sie keine Benzineinspritzung unter der Haube, es bestand also die sehr reale Möglichkeit, dass der Vergaser seiner Spitfire ihm zum Verhängnis wurde.
«Stanton!», rief Howard über das Funkgerät.
«Komm schon, komm schon», knurrte Jameson, sein Daumen schwebte über dem Abzug. In dem Moment, als der Jäger in seinem Fadenkreuz erschien, feuerte Jameson.
«Ja! Ich habe ihn erwischt!», rief er, als Rauch aus der Messerschmitt aufstieg. Sein eigener Motor stieß eine letzte Warnung aus.
Er drehte eine scharfe Linkskurve und entkam nur knapp dem herabstürzenden Rumpf des feindlichen Jägers. Keuchend gewann er an Flughöhe und ging dann durch die Wolken in den Sinkflug über, wobei er versuchte, sowohl den Motor als auch seinen Herzschlag zu beruhigen. Noch eine Sekunde länger, und er hätte den Motor geflutet und zusammen mit der Messerschmitt einen Krater in die englische Landschaft geschlagen.
Zwei bestätigte Abschüsse. Noch drei, dann wäre er ein Fliegerass.
Ein Flugzeug flog neben ihn. Links neben sich sah er Howard, der den Kopf schüttelte.
«Das erzähle ich Scarlett», warnte er über Funk.
«Wag es ja nicht», schnauzte Jameson und blickte auf das Foto, das er in den Rahmen des Höhenmessers geklemmt hatte. Es zeigte Scarlett, lachend, aufgenommen kurz nachdem die Schwestern der WAAF beigetreten waren. Constance hatte es ihm gegeben, nachdem Scarlett sich geweigert hatte. Er wisse genau, wie sie aussehe, hatte sie gesagt, auch ohne ihr Bild mit in die Schlacht zu nehmen. Natürlich wusste er, wie sie aussah. Deshalb sah er sie auch so gerne an.
«Dann mach das nicht noch einmal», warnte Howard.
Jameson schnaubte. Sie würden sich später bei einem gemeinsamen Bier noch ausführlich darüber unterhalten. Scarlett hatte auch ohne seine Flugmanöver schon genug Sorgen. Solange er zu ihr nach Hause zurückkehrte, war die Art und Weise, in der er das tat, in seinen Augen nebensächlich. Zumal er in ein paar Tagen zum RAF -Stützpunkt Church Fenton aufbrechen würde und noch immer keinen Weg gefunden hatte, sie mitzunehmen.
Denn nun formierte sich tatsächlich das Eagle Squadron – ein Geschwader aus amerikanischen Piloten, die in der RAF dienten.
Er war versetzt worden.
«Sorbo Leader», kam der Ruf über Funk, «hier spricht das Fighter Command. Wir haben fünfundvierzig plus im Anflug auf Kinley bei Engel dreizehn. Vektor 270.»
«Verstanden», antwortete der Kommandant ihrer Staffel.
Sie waren auf dem Weg zurück ins Schlachtgetümmel.
Z wei Tage. So lange war es her, dass Scarlett zuletzt etwas von Jameson gehört hatte. Sie wusste, dass sein Geschwader während dieser zwei längsten Tage ihres Lebens an einem anderen Ort aufgetankt hatte. Die Luftangriffe des Fünfzehnten hatten Scarlett zutiefst zermürbt, sowohl im Einsatzraum als auch in ihrem Herzen.
Sie wusste von mindestens zwei Dutzend Jagdstaffeln, die Piloten zu Grabe getragen hatten.
Während der gestrigen Bombenangriffe hatte sie einen Großteil des Tages im Luftschutzkeller verbracht, wenn sie nicht Dienst hatte. Alles, woran sie denken konnte, war Jameson. Wo war er? War er in Sicherheit? War er verletzt … oder Schlimmeres?
Heute wartete sie auf ihn, und sie war nicht allein. Etwa ein Dutzend Frauen, allesamt Freundinnen der Piloten, hatten sich auf dem Asphalt zwischen den geparkten Autos und den beiden verbliebenen Hangars auf dem Flugplatz versammelt. Es war ungefähr die gleiche Stelle, an der sie und Jameson beim Angriff vor einem Monat gestanden hatten. Mittlerweile war der Hangar vollständig abgerissen worden.
Das Brummen der Triebwerke erfüllte die Luft, und ihr Herzschlag begann zu galoppieren.
Sie waren da.
Scarlett straffte die Schultern, als die Spitfires landeten, und wünschte, sie hätte ihre Uniform statt ihres blau karierten Kleides angezogen. Eine Frau in Uniform war gezwungen, sich zusammenzureißen, und in diesem Moment konnte sie alles, nur das nicht. Sie war mit ihren Nerven einfach am Ende.
Es dauerte noch gut zwanzig Minuten, bis die ersten Piloten, noch in ihrer Arbeitsuniform, über den Asphalt auf sie zukamen. Einige von ihnen erkannte sie, vor allem die drei anderen Amerikaner, die in der viel zu kurzen verbleibenden Zeit von nur zwei Tagen zusammen mit Jameson gehen würden. Sie hätte auf seinen Versetzungsbefehl vorbereitet sein müssen – die RAF war die mobilste Truppe Großbritanniens –, aber die Nachricht hatte sie trotzdem wie ein Schlag getroffen.
Ihr Magen krampfte sich zusammen, während mehr und mehr Piloten auftauchten. Dann sah sie ihn.
Sie rannte los, lief über den Grünstreifen, um die anderen Fußgänger zu umgehen.
Er bemerkte sie und trat, kurz bevor sie bei ihm war, aus der Gruppe heraus, dann fing er sie mit Leichtigkeit auf, als sie sich in seine Arme warf.
«Scarlett, meine Scarlett», sagte er an ihrem Hals, seine Arme legten sich um ihre Taille und hielten sie, während ihre Füße weit über dem Boden baumelten.
«Ich liebe dich.» Ihre Arme zitterten leicht, als sie ihn festhielt, das ganze Ausmaß ihrer Erleichterung durchströmte sie in einer Schockwelle aus Gefühl.
«Gott, ich liebe dich.» Er hatte einen Arm fest um ihren Rücken gelegt, umfasste mit der anderen Hand ihr Gesicht und wich gerade so weit zurück, dass sie sich in die Augen sehen konnten.
«Ich hatte schreckliche Angst um dich.» Die Wahrheit kam ihr leicht über die Lippen, obwohl sie es sich die letzten zwei Tage über versagt hatte, sie selbst vor ihrer eigenen Schwester auszusprechen.
«Dazu gab es keinen Grund.» Er lächelte und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen.
Sie schmiegte sich an ihn und erwiderte seinen Kuss, obwohl sie sich in der Öffentlichkeit befanden. Heute wäre es ihr sogar egal, wenn der König selbst sie sah.
Er hielt sie sanft fest, küsste sie für einen langen, intensiven Augenblick, dann streifte er noch einmal mit seinen Lippen über ihre und zog den Kopf zurück. Sehr zu ihrer Freude setzte er sie nicht wieder ab. Er war der einzige Mensch, bei dem sie sich zerbrechlich, aber nicht unterlegen fühlte.
«Heirate mich», sagte er, und sein Blick tanzte vor Glück.
Sie keuchte auf. «Wie bitte?»
«Heirate mich.» Seine Augenbrauen hoben sich, ebenso wie seine Mundwinkel. «Ich habe die ganze letzte Woche damit verbracht, darüber nachzudenken, wie wir zusammenbleiben können, und das ist die Lösung. Heirate mich, Scarlett.»
Moment, hatte er ihr gerade einen Antrag gemacht? Ganz gleich, wie sehr sie ihn liebte, es war zu früh, zu leichtsinnig und glich zu sehr einem Geschäftsabschluss. Ihr Mund öffnete und schloss sich ein paarmal, aber sie konnte die Worte ein paar peinliche Sekunden lang nicht herausbringen. «Setz. Mich. Ab.» Na also.
Er drückte sie fester an sich. «Ich kann ohne dich nicht leben.»
«Wir verbringen unser Leben doch erst seit zwei Monaten zusammen.» Sie presste ihre Lippen zusammen und ermahnte ihr dummes Herz, still zu sein.
«Ich wünschte , ich würde seit zwei Monaten mein Leben mit dir verbringen», flüsterte er, und seine Stimme verfiel in dieses tiefe Knurren, das ihr Innerstes zum Schmelzen brachte.
«Oh, du weißt genau, was ich meine.» Sie verschränkte ihre Finger in seinem Nacken und war sich sehr wohl der Tatsache bewusst, dass er ihrer Bitte, sie herunterzulassen, noch nicht nachgekommen war.
«Wir könnten für den Rest unseres Lebens zusammenleben», sagte er leise. «Ein Zuhause. Ein Esszimmertisch … ein Bett.»
«Du schlägst doch nicht ernsthaft vor, dass wir überstürzt heiraten, weil du mich ins Bett kriegen willst?» Sie zog eine Augenbraue hoch. Nicht, dass sie noch nicht auf diese Weise an Jameson gedacht hätte. Das hatte sie. Sehr oft. Zu oft, wenn man ihre Moral fragte, und nicht oft genug, wenn es nach den Damen ging, mit denen sie zusammenlebte.
Seine Augen funkelten belustigt. «Na ja, nein, aber ich finde es toll, dass du deine Aufmerksamkeit ausgerechnet auf dieses Möbelstück richtest. Wenn ich dich nur ins Bett kriegen wollte, wüsstest du das schon längst.» Sein Blick senkte sich auf ihre Lippen. «Ich will dich heiraten, weil diese Entscheidung für mich längst gefallen ist. Es spielt keine Rolle, ob wir noch ein Jahr lang miteinander ausgehen, Scarlett, irgendwann werden wir heiraten.»
«Jameson.» Sie wurde rot, auch wenn sie sich dagegen wehrte, wie gut es tat, diese Worte zu hören.
«Wenn wir das jetzt machen, werden wir nicht getrennt.»
«So einfach ist das nicht.» Ihr Herz kämpfte mit ihrem Kopf. Es hatte etwas absolut Romantisches, wegzulaufen und einen Mann zu heiraten, den man erst seit zwei Monaten kannte und in den man sich Hals über Kopf verliebt hatte. Aber es hatte auch etwas Naives an sich.
«Doch, das ist es», versicherte er ihr.
«Sagt der Mann, der seinen Job nicht verlieren wird.» Ihr gingen etwa ein Dutzend Gründe durch den Kopf, warum der Vorschlag nicht gut war, und davon war dieser hier der stärkste.
Er blinzelte verwirrt, dann ließ er sie langsam zu Boden sinken. «Was meinst du?»
Sie nahm seine Hand, und sie gingen zum Auto. «Es gibt bei der RAF Church Fenton keinen Platz für mich. Glaub mir, ich habe mich erkundigt. Und selbst wenn ich dich heirate» – ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen –, «gibt es keine Garantie, dass ich auch versetzt werde. Wir wären dann immer noch getrennt, es sei denn, ich verlasse die WAAF aus familiären Gründen.»
Er verzog das Gesicht. «Das Einzige, was mir an deiner Aussage gefallen hat, war wenn ich dich heirate .»
«Ich weiß.» Sie musste zugeben, dass ihr das auch gefiel.
Ihre Situation war festgefahren. Selbst wenn sie glaubte, so etwas Leichtsinniges tun zu können, könnte sie Constance niemals im Stich lassen. Sie hatten sich versprochen, diesen Krieg gemeinsam zu überstehen. Wenn aber Constance bereit wäre, sich auch versetzen zu lassen …
«Du liebst deinen Job, nicht wahr?», fragte er, als müsste er seine Niederlage eingestehen.
«Das tue ich. Er ist wichtig.»
«Das ist er wirklich», stimmte er zu. «Also, was machen wir jetzt?», fragte er, hob ihre Hand und drückte ihr einen Kuss auf den Handrücken. «In zwei Tagen befinde ich mich auf der anderen Seite von England.»
«Dann sollten wir die Zeit, die uns noch bleibt, genießen.» Sie verspürte ein schmerzhaftes Ziehen in ihrer Brust. Sie liebte ihn so sehr, aber es würden auch Qualen auf sie zukommen.
«Ich lasse dich nicht los.» Er drehte sich um und hob sie auf seine Arme. «Mag sein, dass ich dann körperlich nicht mehr da bin, aber das heißt nicht, dass wir nicht zusammen sind. Verstanden?»
Sie nickte. «Dann hoffe ich, dass wir beide sehr gut im Briefeschreiben sind.»
V on allen Orten, an die sie während dieses Urlaubs gerne gefahren wäre – wie beispielsweise Church Fenton –, stand das Londoner Haus ihrer Eltern, noch dazu für ein ganzes Wochenende, ganz unten auf der Liste. Wenn sie ehrlich war, stand es nicht einmal auf der Liste.
Der einzige Grund, warum sie der Reise überhaupt zugestimmt hatte, war, dass ihre Eltern versprochen hatten, die Presse nicht weiter mit unsinnigen Geschichten zu füttern. Außerdem hatte ihre Mutter Geburtstag.
Je öfter sie nach Hause kam, desto deutlicher wurde ihr, dass sie ein anderer Mensch war als der, der diesen Ort verlassen hatte. Möglicherweise war die pflichtbewusste, fügsame Tochter, die sie zu Beginn des Krieges gewesen war, ein weiteres Opfer der Luftschlacht um England geworden.
Sie hatten gewonnen, die Deutschen hatten nach jenen schrecklichen Tagen Mitte September ihre flächendeckenden Angriffe eingestellt, obwohl es immer noch erschreckend häufig einzelne Bombenangriffe gab.
Jameson war jetzt schon mehr als einen Monat weg, und auch wenn er ihr zweimal pro Woche schrieb, vermisste sie ihn mit einer Heftigkeit, die sich nicht in Worte fassen ließ. Jeder Teil von ihr schmerzte, wenn sie an ihn dachte. Logisch gesehen, hatte sie die richtige Entscheidung getroffen. Aber das Leben war so … ungewiss, und es gab Teile in ihr, die die Logik verfluchten und von ihr forderten, in den Zug zu steigen und zu ihm zu fahren.
Bitte triff dich nächsten Monat in London mit mir . Wir buchen getrennte Zimmer. Es ist mir egal, wo wir schlafen, wenn ich dich nur sehen kann. Ich sterbe hier, Scarlett . Die Worte aus seinem letzten Brief hallten noch in ihrem Kopf nach.
«Du vermisst ihn», bemerkte Constance, als sie die Treppe hinuntergingen.
«Ja, ganz schrecklich», gab sie zu.
«Du hättest Ja sagen sollen. Du hättest mit ihm weglaufen und ihn heiraten sollen. Eigentlich könntest du jetzt immer noch gehen. Jetzt sofort.» Constance hob die Augenbrauen.
«Und dich allein lassen?», fragte Scarlett und hakte sich bei ihrer Schwester unter. «Niemals.»
«Wenn ich könnte, würde ich Edward heiraten, aber nach Dunkirk … Na ja, er will immer noch warten, bis der Krieg vorbei ist, und außerdem würde ich lieber dich glücklich sehen.»
«Nächsten Monat werde ich sehr glücklich sein, denn dann werde ich meine achtundvierzig Stunden nutzen, um ihn genau hier zu treffen», flüsterte sie. Die Aufregung war fast zu groß, um sie im Zaum halten zu können. «Na ja, nicht genau hier . Ich glaube nicht, dass unsere Eltern das gutheißen würden.»
«Wie bitte?» Constances Augen weiteten sich, und sie lächelte. «Das ist ja großartig!»
«Was ist mit dir? Habe ich nicht wieder einen Brief von Edward gesehen?» Scarlett hob die Augenbrauen und stupste mit ihrer Hüfte gegen die ihrer Schwester.
«Hast du!»
«Mädchen, setzt euch doch», forderte ihre Mutter sie auf, als sie das schwach beleuchtete Esszimmer betraten. Alle Fenster waren dicht verhangen, damit nachts kein Licht nach außen dringen konnte, wie es das Verdunkelungsgebot vorsah. Allerdings machte es die Räume tagsüber ziemlich trist.
«Ja, Mutter», antworteten sie gleichzeitig und setzten sich an den viel zu langen Tisch.
Ihr Vater kam herein, in einem makellos gebügelten Anzug, und lächelte erst jede seiner Töchter und dann seine Frau an, bevor er am Kopfende Platz nahm. Es war ruhig, wie immer, das Gespräch beschränkte sich auf Höflichkeiten.
«Genießt ihr Mädchen euren Urlaub?», fragte ihr Vater, nachdem sie den Hauptgang beendet hatten. Das Huhn war angesichts der Rationierung ein unerwarteter Leckerbissen gewesen.
«Das tun wir», antwortete Constance mit einem Grinsen.
«Zweifellos», fügte Scarlett hinzu, während die beiden sich ein heimliches Lächeln zuwarfen. Ihre Eltern wussten nichts von Jameson. Sie würde es ihnen irgendwann erzählen müssen, aber nicht am Geburtstag ihrer Mutter.
«Ich wünschte, ihr wärt öfter zu Hause», sagte ihre Mutter, und ihr Lächeln konnte die Traurigkeit in ihrer Stimme nicht verbergen. «Aber wenigstens sehen wir euch nächsten Monat wieder.»
«Wir können in Zukunft möglicherweise nicht mehr so oft zu Besuch kommen», gab Scarlett zu. Von nun an würde sie jeden Urlaub, den sie bekam, nutzen, um Jameson zu sehen.
Der Blick ihrer Mutter zuckte zu ihr. «Oh, aber du musst kommen. Wir haben so viele Vorbereitungen für den Sommer zu treffen.»
Scarlett drehte sich der Magen um, aber sie schaffte es, ihr Wasserglas hochzuheben und einen Schluck zu trinken. Zieh keine voreiligen Schlüsse . «Vorbereitungen?», fragte sie.
Ihre Mutter wich leicht zurück, als wäre sie überrascht. «Hochzeiten müssen vorbereitet werden, Scarlett. Sie finden nicht einfach so statt. Lady Vincent hat die Hochzeit ihrer Tochter ein Jahr lang geplant.»
Scarletts Blick wanderte zu Constance. Hatte sie ihnen von Jamesons Antrag erzählt?
Constance schüttelte unmerklich den Kopf und schrumpfte auf ihrem Stuhl etwas zusammen.
Großer Gott! Hatten ihre Eltern immer noch die Absicht, die Heirat mit Henry voranzutreiben? «Wer wird denn heiraten?», fragte Scarlett und richtete sich auf.
Ihre Eltern tauschten einen vielsagenden Blick. Scarletts Herz schlug ihr bis zum Hals.
Ihr Vater räusperte sich. «Nun, wir haben dich deinen Spaß haben lassen. Du hast deine Pflicht gegenüber König und Vaterland erfüllt, und du kennst meine Meinung zu diesem Krieg, dennoch habe ich deine Entscheidung respektiert.»
«Beschwichtigungsversuche sind der falsche Weg, der deutschen Feindseligkeit zu begegnen!», fauchte Scarlett.
«Hätten sie in den Verhandlungen wenigstens einen akzeptablen …» Ihr Vater schüttelte den Kopf, dann holte er tief Luft, sein Kiefer zuckte. «Es ist an der Zeit, deine Pflicht gegenüber deiner Familie zu erfüllen, Scarlett.» Seine Stimme ließ keinen Raum für Fehlinterpretationen oder Widerspruch.
Eisige Wut sickerte durch ihre Adern. «Nur um das klarzustellen, Vater, meine Pflicht der Familie gegenüber besteht für dich darin zu heiraten?» Diese gesamte Art zu denken war uralt .
«Natürlich. Was könnte ich denn sonst meinen?» Ihr Vater hob seine silbergrauen Augenbrauen und sah sie an.
Constance schluckte und legte die Hände in den Schoß.
«Es ist nur zu deinem Besten, Liebes», drängte ihre Mutter. «Dir wird es an nichts fehlen, sobald die Wadsworths …»
Nein .
«Mir würde es an Liebe fehlen.» Scarlett nahm die Serviette von ihrem Schoß und legte sie auf den Tisch. «Ich dachte, ich hätte mich schon im August klar ausgedrückt, als ich dich bat, der Zeitung keine weiteren Lügen mehr zu erzählen.»
«Es mag voreilig gewesen sein, aber eine Lüge war es ganz sicher nicht.» Ihre Mutter wich zurück, als wäre sie zutiefst beleidigt.
«Ich möchte eines klarstellen: Ich werde dieses Monster nicht heiraten. Ich weigere mich.»
«Wie bitte?» Ihrer Mutter fiel die Kinnlade herunter. «Du wirst diesen Sommer heiraten!»
«Aber nicht Henry Wadsworth.» Schon sein Name hinterließ einen widerlichen Geschmack in ihrem Mund.
«Hast du einen anderen im Sinn?», fuhr ihr Vater sarkastisch dazwischen.
«Ja, habe ich.» Sie reckte ihr Kinn. Geburtstag hin oder her, es konnte nicht länger warten. Ihre Eltern konnten nicht einfach weiter ihr Leben planen. «Ich habe mich in einen Piloten verliebt, einen Amerikaner, und falls ich mich entschließe, jemanden zu heiraten, dann wird er derjenige sein. Du wirst dir woanders eine Einkommensquelle suchen müssen.»
«Ein Yankee?»
«Ja.»
«Auf keinen Fall!» Ihr Vater schlug mit den Händen so heftig auf den Tisch, dass das Geschirr klirrte, aber Scarlett zuckte nicht zusammen.
Im Gegensatz zu Constance.
«Ich werde tun, was ich will. Ich bin eine erwachsene Frau», Scarlett stand auf, «und noch dazu im Rang eines Officers in der Women’s Auxiliary Air Force. Ich bin kein Kind mehr, das ihr herumkommandieren könnt.»
«Das würdest du tun? Uns ruinieren?» Die Stimme ihrer Mutter brach. «Generationen vor dir haben Opfer gebracht, du aber wirst das nicht?»
Sie wusste genau, wo sie ihre Töchter am härtesten treffen konnte, aber Scarlett schob die Schuldgefühle beiseite. Henry zu heiraten, würde das Unvermeidliche nur hinauszögern. Die Welt, an die sich ihre Eltern klammerten, löste sich bereits auf. Es gab nichts, was sie tun konnte, um das aufzuhalten.
«Falls wirklich etwas ruiniert wird, kann ich mit Fug und Recht behaupten, dass ich nicht die Ursache dafür bin.» Sie holte tief Luft und hoffte, dass noch etwas zu retten war, dass es einen Weg gab, sie zur Einsicht zu bringen.
«Ich liebe Jameson. Er ist ein guter Mann. Ein ehrenwerter Mann …»
«Ich will verdammt sein, wenn ich miterleben muss, wie dieser Titel, das Erbe dieser Familie, an die Ausgeburt eines verdammten Yankees geht!», brüllte ihr Vater und stand auf.
Scarlett hielt den Kopf hoch erhoben und die Schultern gerade.
Sie war dankbar, dass sie das letzte Jahr über in einem der aufreibendsten Bereiche gearbeitet hatte, die man sich nur vorstellen konnte, und dabei die Kunst, während eines Sturms ruhig zu bleiben, perfektioniert hatte.
«Ihr macht einen Fehler, wenn ihr glaubt, dass ich etwas mit eurem Titel zu tun haben will. Ich strebe weder nach Reichtum, noch will ich in die Politik. Ihr klammert euch an etwas, an dem ich kein Interesse habe.» Ihre Stimme war sanft und doch hart wie Stahl.
Das Gesicht ihres Vaters lief rot an, dann wurde das Rot noch dunkler, und seine Augen weiteten sich. «So wahr mir Gott helfe, wenn du ohne meine Erlaubnis heiratest, Scarlett, werde ich dich nicht länger als meine Tochter anerkennen.»
«Nein», keuchte ihre Mutter.
«Ich meine es ernst. Du wirst nichts erben. Nichts.» Er stach mit dem Finger in ihre Richtung in die Luft. «Weder Ashby. Noch dieses Haus. Nichts.»
Ihr Herz brach nicht – das wäre zu einfach gewesen. Es begann zu reißen, spannte sich an und zerfetzte dann entlang der Fasern ihrer Seele. Sie bedeutete ihm tatsächlich so wenig. «Dann sind wir uns einig», sagte sie leise. «Ich kann tun, was ich will, solange ich bereitwillig deine Konsequenzen akzeptiere, die beinhalten, dass ich genau das nicht erbe, was ich nicht haben will.»
«Scarlett!», rief ihre Mutter, aber weder senkte Scarlett den Blick, noch gab sie auch nur einen Zentimeter nach, als ihr Vater versuchte, sie niederzustarren.
«Und falls ich einen Sohn haben werde», fuhr sie fort, «wird auch er frei sein von diesem Gewicht der Pflicht, die du mehr schätzt als das Glück deiner Tochter.»
Die Augenbrauen ihres Vaters schossen in die Höhe. Das Einzige, was er sich jemals gewünscht hatte, war ein Sohn. Sie würde ihm ihren niemals überlassen.
«Scarlett, tu das nicht. Du musst den Wadsworth-Jungen heiraten», verlangte er. «Jeder Sohn, der aus dieser Verbindung hervorgeht, wird der nächste Baron Wright.»
Er schien vergessen zu haben, dass das so einfach nicht wäre, falls Constance ebenfalls Söhne bekommen würde.
«Das klingt wie ein Befehl.» Scarlett schob ihren Stuhl zurück und stützte sich auf die Lehne.
«Das ist es auch. Es gibt keine Alternative.»
«Ich nehme nur Befehle von meinen Superior Officers entgegen, und wenn ich mich recht erinnere, hast du dich entschieden, nicht in einem Krieg zu dienen, den du nie gutgeheißen hast.» Das Eis in ihren Adern war jetzt auch in ihrer Stimme zu hören.
«Dieser Besuch ist beendet», presste er zwischen den Zähnen hervor.
«Einverstanden.» Auf dem Weg aus dem Esszimmer küsste sie ihre Mutter auf die Wange. «Alles Gute zum Geburtstag, Mutter. Es tut mir leid, dass ich dir nicht geben kann, was du dir wünschst.»
Dann ging sie in ihr Zimmer, wo sie schnell ihre Uniform anzog und ihr Kleid in den Koffer packte. Als sie die Treppe hinunterkam, fand sie Constance an der Türschwelle, ebenfalls in Uniform und mit ihrem Koffer in der Hand.
Ihre Mutter kam aus dem Salon. «Tu uns das nicht an», flehte sie.
«Ich werde Henry nicht heiraten», wiederholte Scarlett. «Wie kannst du das von mir verlangen? Du willst mich einen Mann heiraten lassen, den ich verabscheue? Einen Mann, der Frauen misshandelt. Nur um was zu behalten?», fragte Scarlett, wobei sie versuchte, ihre Stimme nicht zu hart klingen zu lassen.
«Es ist der Wille deines Vaters. Es ist, was die Familie braucht.» Ihre Mutter reckte das Kinn vor. «Wir haben einen Teil des Personals entlassen. Wir haben den größten Teil des Landes in Ashby verkauft. Wir haben unsere Ausgaben in den letzten Jahren reduziert. Wir alle bringen Opfer.»
«Aber in diesem Fall möchtest du mich opfern, und das werde ich nicht zulassen. Auf Wiedersehen, Mutter.» Sie verließ das Stadthaus und holte zittrig Luft.
Constance folgte ihr und schloss die Tür hinter sich. «Dann müssen wir wohl neue Zugtickets kaufen, denn unsere sind erst morgen gültig.»
Sie hatte ihre Schwester nicht verdient, aber sie umarmte sie trotzdem. «Was hältst du davon, um eine Versetzung zu ersuchen?»
Scarlett, meine Scarlett,
heute Abend vermisse ich dich mehr, als meine Worte es ausdrücken können.
Ich wünschte, ich könnte zu dir fliegen, wenn auch nur für ein paar Stunden. Der einzige Gedanke, der mich hier hält, ist das Wissen, dass du bald bei mir sein wirst. In Nächten wie heute flüchte ich mich in die Vorstellung, dass wir in den Rockies sind, zu Hause, in Frieden. Ich bringe William bei, wie man zeltet und fischt. Du kannst schreiben – und tun, was immer du willst. Und wir werden glücklich sein. So glücklich. Wir haben uns ein wenig Ruhe verdient, findest du nicht? Ich bereue nicht, dass ich mich als Freiwilliger für diesen Krieg gemeldet habe. Immerhin hat er mich zu dir geführt …