Kapitel 12

November 1940

Kirton-in-Lindsey

E s fühlte sich für Jameson anders an, von Amerikanern umgeben zu sein, jetzt, wo er im 71st Eagle Squadron diente. Fast so wie zu Hause, nur dass sie so weit davon entfernt waren.

«Die sind alle so jung», murmelte Howard, als sie bei einem ersten gemeinsamen Bier die neuen Rekruten beobachteten. Dieses Zusammentreffen, «Beercall» genannt, war eine englische Tradition, die Jameson nur zu gern beibehielt, denn dabei ging es nicht nur um Kameradschaft. Hier wurden auch Streitigkeiten beigelegt.

«Die meisten von ihnen sind so alt wie wir», konterte Andy und lehnte sich an die Wand des neugewonnenen Aufenthaltsraumes. Sie hatten das Glück gehabt, zwischen den überall im Raum verteilten unbequemen Korbstühlen ein paar dicht beieinanderstehende Sessel zu belegen. Sie saßen etwas abseits, und das nicht nur im räumlichen Sinn.

«Nicht wirklich», sagte Jameson. «Jedenfalls nicht, wenn es um Erfahrung geht.» Sie alle drei waren schon in Kämpfe verwickelt gewesen. Der Krieg war nichts Romantisches mehr, nichts, das man verherrlichen konnte. Diese neuen Jungs dort waren genau das: Jungs. Kinder. Sie waren alle frisch aus Kanada gekommen und hatten sich aus den Staaten herausschmuggeln lassen, in der Hoffnung, sich den Eagles anschließen zu können.

Über Nacht waren diejenigen, die sich – wie Jameson – während der Luftschlacht um England noch als Neulinge betrachtet hatten, plötzlich zu Veteranen geworden. Die neuen Amerikaner waren allesamt Piloten, die meisten davon beruflich. Sie hatten Waren oder sogar Menschen transportiert. Sie hatten Dünger über Feldern abgeworfen. Sie hatten vor Zuschauern Trickflüge gezeigt.

Sie hatten noch nie einen Mann vom Himmel geschossen.

Das hatten erst einige wenige getan, und einen Piloten hatten sie bereits an das 64ste Geschwader verloren. Jameson konnte es ihm nicht einmal verübeln. Seit sechs Wochen flogen sie nun keine täglichen Einsätze mehr, sondern durften nur trainieren, und die Unzufriedenheit mit der eigenen Nutzlosigkeit wuchs. Sie wurden am Himmel gebraucht.

Das hier war Bullshit.

«Vielleicht hatte Art recht mit seinem Entschluss zu gehen», brummte Howard und trank einen kräftigen Schluck Bier.

«Das habe ich auch gerade gedacht.» Jameson sah auf sein volles Glas hinunter. Das gemeinsame Trinken war nicht mehr so befriedigend wie früher, wenn sie nach einer Mission noch zusammengesessen hatten. Es fühlte sich … unecht an, so als würden sie bloß vorgeben, Kampfpiloten zu sein. Wenigstens war die Einheit letzte Woche nach Kirton-in-Lindsey verlegt worden. Das war ein Schritt in Richtung eines möglichen nächsten Einsatzes.

Unglücklicherweise hatten sie die Buffalos mitnehmen müssen. Die amerikanischen Flugzeuge waren in großer Höhe nicht besonders leistungsfähig, und das war noch das geringste Problem. Der Motor überhitzte regelmäßig, die Cockpitsteuerung war unzuverlässig, und ein Großteil der Waffen, auf die sie sich bisher verlassen hatten, fehlte. Ja, die neuen Männer mochten das offene, luftige Cockpit, aber sie hatten noch nie eine Spitfire geflogen.

Jameson vermisste seine Spitfire fast so sehr, wie er Scarlett vermisste.

Gott, er vermisste Scarlett. Es war fast zwei Monate her, dass er sie das letzte Mal gesehen hatte, und allmählich verlor er den Verstand. Wäre die Einheit nicht verlegt worden, wäre er schon längst nach Middle Wallop gefahren – so sehr sehnte er sich danach, in ihre blauen Augen zu sehen. Sie hatte ihren Oktoberurlaub bei ihren Eltern verbracht, was verständlich war, aber laut ihrem Brief war es nicht gut gelaufen. Er hasste den Druck, den ihre Liebe zu ihm auf sie ausübte. Es war nicht fair, dass sie gezwungen war, sich zwischen ihrer Familie und Jameson zu entscheiden, aber es wäre eine Lüge zu behaupten, er wäre nicht froh darüber, dass sie sich für ihn entschieden hatte.

Da er keine Kampfeinsätze flog, hatte er mehr Freizeit, was bedeutete, dass er immer an sie denken musste. Er schrieb ihr nicht mehr nur zweimal, sondern dreimal die Woche, manchmal sogar viermal. Er formulierte seine Briefe so, als würde er mit ihr sprechen, als wäre sie bei ihm und könnte hören, wie sehr er sie vermisste. Wie sehr er sich nach ihr sehnte. Er erzählte ihr Geschichten aus seiner Kindheit und tat sein Bestes, ihr das Leben in seiner kleinen Heimatstadt zu schildern.

Auch jetzt musste er bei dem Gedanken lächeln, sie nach Poplar Grove mitzunehmen. Seine Mutter würde sie lieben. Scarlett sprach immer nur das aus, was sie auch meinte. Sie nahm nie ein Blatt vor den Mund und spielte keine Spielchen. Sie war auch nicht schüchtern oder kokett. Sie hütete ihre Gefühle genauso wie ihre Schwester – gewährte jemandem erst dann Zugang, wenn er seinen Wert unter Beweis gestellt hatte.

Manchmal hatte er das Gefühl, dass er seinen Wert noch beweisen musste.

«Hey, Stanton!», rief einer der Männer mit einem deutlich hörbaren Bostoner Akzent. «Stimmt es, dass du eine englische Puppe hast?»

«Das stimmt.» Jamesons Griff um sein Glas wurde fester.

«Und wo findet man so eine?» Er zog die Augenbrauen hoch, und einige der neuen Jungs lachten.

«Lass dich nicht von ihm provozieren», sagte Howard leise. «Ich habe sie am Straßenrand aufgelesen», antwortete Jameson ernst.

«Hat sie vielleicht Freundinnen?», bohrte der Neuling weiter. «Wir könnten alle ein wenig Gesellschaft gebrauchen, wenn du verstehst, was ich meine.»

«Okay, jetzt kannst du dich provozieren lassen.» Howard schlug Jameson gegen die Schulter.

«Was ist eigentlich mit Christine?», fragte Jameson mit dem Anflug eines Lächelns.

«Weit weg. Ganz weit weg.»

«Sie hat Freundinnen», sagte Jameson laut, damit dieser Trottel ihn auch hörte. «Keine von ihnen wäre an einem Treffen mit dir interessiert, aber sie hat Freundinnen.»

«Oh!» Die Männer grölten.

Der Mann errötete. «Nun, ihre Ansprüche können nicht allzu hoch sein, wenn sie mit dir zusammen ist, Stanton.»

Stimmt ja, diese Typen sind immer noch in der «Möglichst einen auf dicke Hose machen und den starken Macker markieren»–Phase . Andy verdrehte die Augen, und Howard leerte sein Glas.

«Sie ist definitiv eine Nummer zu groß für mich, Jungs.» Jameson nickte nachdenklich. «Aber dich hätte sie durchgekaut und wieder ausgespuckt, bevor du es auch nur in ihren Dunstkreis schaffst, Boston.»

Howard zuckte zusammen, verschluckte sich an seinem Bier und prustete es vor ihnen auf den Boden. Alle Köpfe wandten sich ihm zu, während er sich die Reste seines Getränks vom Kinn wischte und dann auf die Tür am anderen Ende des Raums deutete. «Und sie ist hier.»

Jamesons Kopf schnellte in Richtung des Eingangs, und sein Herz setzte einen Schlag aus. Scarlett stand in der Tür, die Jacke über ihren Arm gelegt.

Sie sah göttlich aus.

Ihr glänzendes schwarzes Haar war zurückgesteckt und reichte kaum bis auf den Kragen ihrer Uniform. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Lippen zu einem kaum verhohlenen Lächeln verzogen, und verdammt, er konnte das Blau ihrer Augen von hier aus erkennen. Sie war hier. Auf seinem Stützpunkt. In seinem Aufenthaltsraum. Sie war hier .

Bevor er überhaupt bewusst darüber nachdachte, hatte er schon den halben Raum durchquert und sein Bier auf dem nächstgelegenen Tisch abgestellt. Ein paar kurze Schritte, dann war er zu Hause. Er atmete tief ein, als er die Wärme ihrer Haut spürte, umfasste ihren Nacken mit seiner Hand und legte die andere um ihre Taille.

«Du bist hier», flüsterte er ehrfürchtig, als sie ihn anlächelte. Das war kein Traum. Sie war echt.

«Ich bin hier», antwortete sie ebenso leise.

Sein Blick fiel auf ihren Mund, und sein Griff wurde fester, als der Hunger ihn zu verschlingen drohte. Er brauchte ihren Kuss mehr als seinen nächsten Atemzug, aber er wollte es nicht hier tun. Nicht vor dem Trottel, der angedeutet hatte, dass er Gesellschaft brauchte.

«Für wie lange?», fragte er, und allein der Gedanke, dass es nur ein paar Stunden sein könnten, versetzte ihm einen Stich. Wenn sie ihm Bescheid gegeben hätte, wäre er ihr auf halbem Weg entgegengekommen. Er wollte so viel Zeit wie nur irgend möglich mit ihr verbringen.

«Was das angeht …» Sie grinste neckend. «Hast du eine Minute Zeit?»

«Ein ganzes Leben.» Ein Leben, das er ihr bereits angeboten hatte … und das sie abgelehnt hatte, aber er bemühte sich, nicht daran zu denken.

«Großartig.» Sie lächelte, löste sich aus seinen Armen und nahm seine Hand in ihre. Dann ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen. «Boston, richtig?», fragte sie laut.

«Äh. Ja.» Der Mann stand auf, rieb sich den Nacken und lief dunkelrot an.

«Ah. Nun, dann wollen wir alle mal hoffen, dass die Women’s Auxiliary Air Force nicht in die Streitkräfte Seiner Majestät integriert wird. Es wäre eine Schande, wenn ich im Rang plötzlich über Ihnen stehen würde, Pilot Officer.» Sie bedachte ihn mit einem höflichen Lächeln, das Jameson gut genug kannte, um es als «Fahr zur Hölle» zu deuten. Er konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Ihre Miene wandelte sich zu einem echten Lächeln, als sie Howard entdeckte. «Schön, dich zu sehen, Howie.»

«Ich freue mich auch, Scarlett.»

Jameson führte sie den Flur entlang und öffnete dann die Tür zum leeren Besprechungsraum. Er zog sie hinein, schloss und verriegelte die Tür, warf ihren Mantel auf den nächsten Schreibtisch und küsste sie.

***

S carlett schmolz nicht dahin, vielmehr erwachte sie unter seiner Berührung zum Leben. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals und wölbte sich ihm entgegen, suchte so viel Kontakt wie möglich, während seine Zunge sich um ihre wand. Er stöhnte in ihren Mund und küsste sie tiefer, wischte die quälenden Wochen der Trennung mit jedem Strich seiner Zunge und jedem Knabbern seiner Zähne aus.

Nur bei Jameson erlaubte Scarlett sich, einfach nur zu fühlen . Das Verlangen, die Sehnsucht, den Schmerz, das überwältigende Gefühl der Liebe in ihrem Herzen – sie gab sich all dem hin. Jeder andere Teil ihres Lebens war organisiert und wurde immer kontrolliert. Jameson zerschlug die Regeln, mit denen sie aufgewachsen war, und brachte sie in eine Welt der Gefühle, die genauso lebendig und farbenfroh war wie er selbst.

Verlangen pulsierte in ihr. Mehr. Näher. Tiefer .

Er packte ihren Hintern, als spürte er den Hunger in ihr, oder als spürte er ihn selbst, und hob sie an, bis sie auf Augenhöhe waren. Ihre Finger gruben sich in sein Haar, als er zum Konferenztisch ging und sie auf den Rand setzte, ohne den Kuss zu unterbrechen.

Sie war noch nie so dankbar dafür gewesen, dass sie einen Rock trug, der es ihm leicht machte, sich zwischen ihre Schenkel zu drängen, die sogleich erzitterten. Sie keuchte bei der Berührung, und er neigte ihren Kopf, nahm ihren Mund in Beschlag, als müsse er ihn für sich haben, als könne sie jeden Moment verschwinden.

«Du hast mir gefehlt», sagte er an ihren Lippen.

«Du hast mir auch gefehlt.» Ihr Atem ging schnell, und ihr Herz schlug laut. Allein dieser eine gemeinsame Moment war all das wert gewesen, was sie getan hatte, um hierherzukommen.

Seine Lippen wanderten ihren Hals hinunter und saugten leicht an der Stelle direkt über ihrem Kragen. Sie atmete scharf ein, als er mit seiner Zunge gegen ihre Haut stupste. Das fühlte sich gut an. Schauer der Lust liefen ihr über den Rücken und sammelten sich tief in ihrem Bauch, als sie entflammte. Er verbrannte die Novemberkälte, die sich seit ihrer Ankunft heute Morgen auf ihrer Haut festgesetzt hatte. In Jamesons Armen würde ihr niemals kalt sein.

Er öffnete die Knöpfe ihrer Uniform und schob seine Hände hinein, streichelte ihre Taille durch das weiche weiße Hemd. Seine Daumen strichen über ihre Rippen, kitzelten die Haut knapp unter ihren Brüsten, und sie bewegte ihre Hüften, spornte ihn weiter an.

Er küsste sie erneut und zog sie näher zu sich.

Sie keuchte und spürte seine Härte durch die Stoffschichten, die ihre Körper bedeckten. Er wollte sie. Anstatt zurückzuweichen, schob sie ihm ihre Hüften unverblümt entgegen.

In den letzten sieben Wochen hätte ihm alles Mögliche zustoßen können – oder ihr. Jetzt war er bei ihr, und sie hatte genug davon, sich das zu versagen, was sie wollte, hatte genug davon, gegen die waghalsige Geschwindigkeit, mit der ihre Beziehung voranschritt, oder die Intensität anzukämpfen. Sie würde alles nehmen, was er bereit war, ihr zu geben.

«Wie lange habe ich dich für mich?», fragte er, und sein Atem kitzelte ihr Ohr, bevor ihm seine Lippen folgten.

«Wie lange hättest du mich denn gern?» Ihr Griff um seinen Nacken wurde fester.

«Für immer.» Seine Hände legten sich um ihre Taille, während er mit den Zähnen über das zarte Fleisch ihres Ohrläppchens strich.

Mein Gott, auf diese Weise machte er es ihr wirklich schwer, zu denken. «Gut, denn ich bin hierher versetzt worden», brachte sie gerade so hervor.

Jameson erstarrte, dann wich er langsam zurück, die Augen ungläubig aufgerissen.

«Freust du dich nicht?», fragte sie, und ihre Brust krampfte sich bei der Vorstellung zusammen. War sie eine Närrin gewesen? Was, wenn ihm die Briefe gar nichts bedeutet hatten? Was, wenn er sich bereits von ihr abgewandt, aber nicht den Mut gehabt hatte, es ihr zu sagen? Jedes Mädchen in Middle Wallop hätte liebend gerne Scarletts Platz eingenommen, und hier war das ganz sicher nicht anders.

«Du bist hier … wie in hier, hier?» Sein Blick suchte ihren.

«Ja.» Sie nickte. «Constance und ich haben um Versetzung ersucht, und die wurde vor ein paar Tagen bewilligt. Ich wollte dir keine Hoffnung machen, falls der Antrag abgelehnt wird, und als er bewilligt wurde, dachte ich mir, ich wäre wahrscheinlich schneller hier als jeder Brief. Bist du enttäuscht?», fragte sie wieder, wobei ihre Stimme am Ende leicht zitterte.

«Himmel, nein!» Er lächelte, und die Anspannung in ihrer Brust löste sich. «Ich bin … überrascht, aber die Überraschung ist großartig.» Er küsste sie innig. «Ich liebe dich, Scarlett.»

«Und ich liebe dich. Und ich bin erleichtert, denn ich könnte jetzt nicht einfach loslaufen und darum bitten, wieder nach Middle Wallop zurückversetzt zu werden.» Sie versuchte, keine Miene zu verziehen, aber es gelang ihr einfach nicht. War sie jemals in ihrem Leben so glücklich gewesen? Vermutlich nicht.

«Ich weiß nicht, wie lange das 71ste hier bleiben wird», gab er zu und strich ihr mit dem Daumen über die Wangen. «Geschwader werden ständig bewegt, und es gibt bereits Gerüchte, dass wir woanders eingesetzt werden.» Allein der Gedanke daran ließ ihm flau im Magen werden. Ihre Versetzung hierher war nur ein vorübergehender Verband auf einer blutenden Wunde, aber er war so verdammt dankbar für die Zeit, die sie gemeinsam haben würden.

«Ich weiß.» Sie drehte das Gesicht in seiner Hand zur Seite und küsste seine Handfläche. «Darauf bin ich vorbereitet.»

«Ich bin es nicht. Diese Monate ohne dich waren unerträglich.» Er lehnte seine Stirn gegen ihre. «Ich wusste nicht, wie sehr ich dich liebe, bis ich Tag für Tag aufwachen musste mit dem Wissen, dass ich dich nicht lächeln sehen oder lachen hören würde. Dass ich nicht einmal hören würde, wie du mich anschreist, verdammt noch mal.» Er war unvollständig gewesen, hatte bei allem, was er tat, immer an sie gedacht.

Er war so abgelenkt gewesen, es grenzte an ein Wunder, dass er noch nicht gegen ein Flugzeug geprallt war, auch wenn er diese Buffalos mit geschlossenen Augen fliegen könnte.

«Es war schrecklich», gab sie zu, ihr Blick ruhte auf seinen Lippen und glitt dann über seine Uniform. «Ich habe das Gefühl deiner Arme um mich vermisst, und wie mein Herz einen Sprung macht, wenn ich dich sehe.» Sie strich mit den Fingern über seine Lippen. «Ich habe deine Küsse vermisst, und sogar deine Art, mich aufzuziehen.»

«Irgendjemand muss dich ja zum Lachen bringen.» Er knabberte an ihrer Daumenkuppe.

«Das kannst du ziemlich gut.» Ihr Lächeln erlahmte. «Ich möchte nicht noch so einen Monat verbringen müssen, geschweige denn zwei.»

Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. «Wie sollen wir das in ein paar Monaten vermeiden, wenn man entscheidet, dass das 71ste woanders gebraucht wird?»

«Nun, darüber habe ich mir schon Gedanken gemacht.» Ihre Augen verengten sich, als würde sie gerade wieder darüber nachdenken. «Aber dazu müsstest du mir noch einmal sagen, wie du darüber denkst.» Sie biss sich auf die Unterlippe.

Er blinzelte. «Wie ich darüber denke? Ich hatte dich gefragt, ob du mi …» Ihm fiel die Kinnlade herunter. «Scarlett, willst du damit sagen …» Sein Blick suchte hektisch ihren.

«Ich sage gar nichts, bis du mich fragst.» Ihre Brust zog sich zusammen, sie betete, dass er es sich nicht anders überlegt hatte, dass sie nicht ihr ganzes Glück aufs Spiel gesetzt und ihre Schwester quer durch England geschleppt hatte, nur um abgewiesen zu werden.

Seine Augen funkelten. «Warte hier.» Er trat einen Schritt zurück und hob mahnend den Zeigefinger. «Beweg keinen Muskel.» Dann rannte er aus dem Zimmer.

Scarlett schluckte, schloss die Beine und zupfte ihren Rock zurecht. Sicherlich hatte er nicht diese Muskeln gemeint. Immerhin könnte hier jeder einfach hereinspazieren.

Das mechanische Ticken der Uhr war das Einzige, was ihr in der Stille Gesellschaft leistete, und sie versuchte verzweifelt, ihren Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen.

Jameson schlitterte zurück in den Raum, kam wegen seiner Geschwindigkeit ins Straucheln und hielt sich am Türrahmen fest. Als er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, schloss er die Tür hinter sich und kam auf sie zu.

«Alles in Ordnung?», fragte sie.

Er nickte und fuhr sich nervös mit den Fingern durch die Haare, bevor er vor ihr auf ein Knie sank. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er einen Ring.

Sie atmete scharf ein.

«Ich weiß, ich bin nicht das, was du dir unter deinem zukünftigen Ehemann vorgestellt hast. Ich habe keinen Titel und im Augenblick nicht einmal ein Land.» Er verzog das Gesicht. «Aber was ich habe, gehört dir, Scarlett. Mein Herz, mein Name, mein ganzes Sein – das alles gehört dir. Und ich verspreche, dass ich jeden Tag meines Lebens damit verbringen werde, mir das Privileg deiner Liebe zu verdienen, wenn du mich lässt. Willst du mir die Ehre erweisen, meine Frau zu werden?» Seine Augenbrauen zogen sich leicht zusammen, aber in seinem Blick lag so viel Hoffnung, was sie fast schon schmerzte, wusste sie doch, dass er wegen ihrer früheren Ablehnung jetzt zweifelte, wie ihre Antwort lauten würde.

«Ja, ich will», sagte sie, und ihre Lippen verzogen sich zu einem zittrigen Lächeln. «Ja, ich will!», wiederholte sie und nickte aufgeregt. Sie wusste jetzt, wie ihr Leben ohne ihn aussah, und sie wollte diese Leere nie wieder spüren. Ihre Arbeit, ihre Familie, dieser Krieg – was auch immer auf sie zukam, sie würden mit allem fertigwerden. Zusammen.

«Ich danke dir, Gott.» Er stand auf und schloss sie in seine Arme. «Scarlett, meine Scarlett», sagte er an ihrer Wange.

Sie hielt sich an ihm fest und sog diesen Moment in sich auf. Irgendwie würden sie dafür sorgen, dass er nie verging.

Er setzte sie ab und steckte ihr den Ring an. Er war wunderschön, mit einem einzelnen, in Gold eingefassten Diamanten, und passte perfekt an ihren linken Ringfinger. «Jameson, er ist wunderschön. Ich danke dir.»

«Ich bin so froh, dass er dir gefällt. Ich habe ihn schon in Church-Fenton gekauft, in der Hoffnung, dass ich dich noch umstimmen kann.» Er küsste sie sanft, dann nahm er ihre Hand. «Wenn wir uns beeilen, erwischen wir den Commander noch.»

«Warum?», fragte sie, während Jameson ihren Mantel nahm und sie in den Flur hinaus führte.

«Wir müssen seine Erlaubnis einholen. Und die des Kaplans.» Seine Augen leuchteten vor Aufregung.

«Dafür haben wir doch noch Zeit.» Sie lachte.

«Oh, nein. Ich werde nicht riskieren, dass du es dir noch einmal anders überlegst. Warte einen Moment hier.» Er verschwand in einem Zimmer und ließ sie ohne ein weiteres Wort im Flur stehen, war aber innerhalb weniger Sekunden mit seiner Jacke und seinem Hut zurück.

«Wir werden doch nicht heute Abend heiraten?», sagte sie hastig. Das wäre vollkommen verrückt.

«Warum nicht?» Er verzog enttäuscht das Gesicht.

Sie strich ihm mit der Hand über die Wange. «Weil ich vorher gerne das Kleid auspacken möchte, das ich gekauft habe. Es ist nichts Besonderes, aber ich würde es gerne tragen.»

«Oh. Richtig.» Er nickte und dachte über ihre Worte nach. «Natürlich möchtest du das. Und deine Familie?»

Röte breitete sich auf ihren Wangen aus. «Meine Familie besteht jetzt nur noch aus Constance.»

«Das wird sich bald ändern.» Er zog sie sanft an sich. «Du wirst mich haben, meine Mom und meinen Dad und auch meinen Onkel.»

«Mehr brauche ich auch nicht. Abgesehen davon müssen wir uns um eine Unterkunft kümmern. Ich verbringe meine Hochzeitsnacht ganz sicher nicht direkt neben deinem Geschwader.» Sie warf ihm einen strengen Blick zu.

Er wurde blass. «Zur Hölle, nein. Wir können auch morgen zum Commander und zum Kaplan gehen, wenn das für dich in Ordnung ist.»

Sie nickte. «Ich werde mein Kleid auspacken, mehr aber nicht.» Ein Summen der Vorfreude vibrierte durch ihren ganzen Körper.

«Ich werde ein Zuhause für uns suchen.» Er berührte ihre Stirn mit seiner.

«Und dann werden wir heiraten», flüsterte sie.

«Dann werden wir heiraten.»

Liebster Jameson,

 

ich vermisse dich. Ich brauche dich. Ohne dich ist hier nichts mehr, wie es war. Constance meint, wir könnten den Rosenstrauch versetzen, aber ich bin mir nicht sicher, ob wir das tun sollen. Warum etwas entwurzeln, das glücklich ist, da, wo es ist? Im Gegensatz zu mir. Ich verwelke hier ohne dich. Natürlich ist immer irgendwas zu tun, aber du bist immer in meinen Gedanken. Bitte pass auf dich auf, mein Liebster. Ohne dich kann ich in dieser Welt nicht atmen. Pass auf dich auf. Ehe du dich versiehst, werden wir wieder zusammen sein.

 

Von ganzem Herzen

 

Scarlett