Kapitel 16

Februar 1941

Kirton-in-Lindsey, England

«G uten Morgen!», sagte Scarlett zu Constance, als sie zu ihrer Frühschicht erschien.

«Nicht so laut.» Eloise, die erst seit einem Monat in Kirton stationiert war und gerade in ihrer Tasse mit Kakao rührte, zuckte zusammen.

«Jemand hier ist letzte Nacht wohl etwas zu lange mit den Jungs um die Häuser gezogen», erklärte Constance und reichte Scarlett eine Tasse mit dampfendem Kaffee.

Das galt an diesem Morgen wahrscheinlich für die meisten Bediensteten des 71sten und der WAAF , ebenso wie für einen nicht unerheblichen Prozentsatz der ledigen, zivilen jungen Frauen aus Kirton. Auch Scarlett gehörte zu denen mit Schlafmangel, aber aus … ganz anderen Gründen. Bereits früh am Abend hatte Jameson sie zu ihrer ganz privaten Feier nach Hause geführt, auch wenn seine Berührungen einen härteren, verzweifelten Beigeschmack gehabt hatten.

Gestern war das 71ste offiziell für den Dienst bereit erklärt worden. Die Ausbildung und die glücklichen Monate in relativer Sicherheit waren vorbei. Das Einzige, was es in ihren Augen zu feiern gab, war, dass die Einheit endlich mit Hurricanes ausgestattet worden war und nicht mehr mit den schwerfälligen Buffalos fliegen musste, die Jameson so hasste; seine Spitfire aber vermisste er immer noch.

Scarlett schenkte Eloise ein mitfühlendes Lächeln. «Mehr Wasser, weniger Kakao.» Sie räumte ihre Sachen weg und hakte sich auf dem Weg zur Tür bei Constance unter. «Wie lange warst du noch unterwegs, Poppet?»

«Nur lange genug, um einige der Mädchen nach Hause begleiten zu können.» Sie warf einen vielsagenden Blick in Richtung Eloise, die dicht hinter ihnen lief.

«Was vollkommen unnötig war», fügte die hübsche kleine Blondine hinzu. «Ja, natürlich habe ich mich amüsiert. Aber ich bin nicht so dumm, mit einem der Piloten in einer dunklen Nische zu landen. Ich habe nicht vor, mir das Herz brechen zu lassen, falls …» Sie hielt abrupt inne. «Ich meine nicht, dass du dumm bist, Scarlett, natürlich bist du das nicht. Du bist verheiratet.»

Scarlett zuckte mit den Schultern. «Ja, und das war dumm von mir. Wir wissen beide, dass es keine Garantien gibt. Ich mache mir jedes Mal, wenn Jameson fliegt, Sorgen. Dabei ist er in den letzten Monaten nur im Training geflogen, aber jetzt …» Ihr Magen krampfte sich zusammen, aber sie zwang sich zu einem Lächeln.

«Ihm wird nichts passieren.» Constance drückte auf dem Weg in den Besprechungsraum kurz ihren Arm.

Scarlett nickte, aber ihr Magen krampfte sich erneut zusammen. Sie zeichnete jeden Tag die Meldungen der Flugzeuge auf, deren Radar ausgefallen war und die nur deshalb abstürzten, weil sie nicht sahen, wie nah sie dem sicheren Flugplatz waren. Sie dokumentierte die Angriffe, die Verluste, und passte die Zahlen an. All das mit dem Bewusstsein, dass Jameson bald wieder im Einsatz sein würde.

«Und mach dir keine Sorgen um die hier.» Eloise stupste Constance an. «Sie ist bis über beide Ohren in ihren kleinen Army Captain verliebt. Sie verbringt die meisten Nächte damit, Briefe zu schreiben, einen nach dem anderen.»

Constances Wangen wurden rot.

«Wann genau bekommt Edward wieder Urlaub?» Scarlett grinste. Nichts wäre schöner, als Constance so ausgeglichen und glücklich zu sehen, wie sie selbst es war.

«In ein paar Wochen», antwortete Constance wehmütig und seufzte. An der Schwelle des Besprechungsraums, der bereits halb gefüllt war, leuchteten Scarletts Augen vor Überraschung auf, als sie unter den Anwesenden ein bekanntes Gesicht bemerkte. «Mary?»

Marys Kopf drehte sich in ihre Richtung. «Scarlett? Constance?» Die Schwestern liefen um den langen Tisch herum und umarmten ihre Freundin. Es war vier Monate her, seit sie sich in Middle Wallop zuletzt gesehen hatten, und doch schien es, als sei ein ganzes Leben vergangen.

«Ihr seht beide wundervoll aus!», sagte Mary und ließ ihren Blick über ihre Freundinnen schweifen.

«Danke», erwiderte Scarlett. «Du auch.» Es war keine Lüge, aber irgendetwas an Mary … stimmte nicht. Der Funke in ihren Augen war erloschen, und sie könnte ein paar Nächte Schlaf gebrauchen. Ein Gewicht legte sich auf ihre Brust. Was auch immer ihre Freundin hergeführt hatte, es war nichts Gutes.

«Eigentlich müsste sie sogar strahlen, immerhin ist sie jetzt verheiratet.» Constance stupste ihre Schwester an. «Zeig ihn ihr!»

«Oh, na gut.» Scarlett rollte mit den Augen, streckte aber ihre linke Hand so unauffällig wie möglich vor.

«Mein Gott.» Marys Blick huschte von dem Ring zu Scarletts Augen. «Verheiratet? Mit wem?» Kaum hatte sie die Frage gestellt, weiteten sich ihre Augen. «Stanton? Das Eagle Squadron ist noch hier, oder?»

«Ja und ja», antwortete Scarlett, die nicht verhindern konnte, dass ihre Mundwinkel nach oben wanderten.

Marys Miene wurde weicher. «Ich freue mich für dich. Ihr zwei passt wirklich perfekt zueinander.»

«Danke», erwiderte sie sanft, und doch ahnte sie immer noch, dass es einen Grund für Marys Anwesenheit hier gab. «Und was in aller Welt machst du hier?»

Mary verzog das Gesicht. «Oh. Michael … ein Pilot, mit dem ich ausgegangen bin, das war, nachdem du versetzt worden bist …» Sie blinzelte mehrmals hintereinander und reckte das Kinn. «Er ist letzte Woche bei einem Angriff gefallen.» Ihre Lippen zitterten.

«Oh nein, Mary, das tut mir so leid.» Constance legte ihre Hand auf Marys Schulter.

Scarlett schluckte, was durch den Kloß in ihrer Kehle zu einer schmerzhaften Angelegenheit wurde. Damit waren es jetzt drei Liebhaber, die Mary in der letzten Zeit verloren hatte … Plötzlich kam ihr ein Gedanke. «Sie haben dich doch nicht etwa …» Sie schüttelte den Kopf. So grausam würde man doch sicher nicht sein.

«Mich als Unglücksbringer abgestempelt und kurzerhand versetzt?» Mary schenkte ihr ein humorloses Lächeln und räusperte sich dann. «Was sonst hätten sie tun sollen?»

«Alles, nur das nicht», schnauzte Constance und schüttelte den Kopf. «Es ist nicht deine Schuld.»

«Natürlich nicht», fügte Scarlett hinzu und führte sie zu einem leeren Stuhl am Tisch. «Verdammt, sie sind einfach zu abergläubisch. Es tut mir so leid, dass du ihn verloren hast.»

«Das ist ein Risiko, das wir eingehen, wenn wir uns in sie verlieben, nicht wahr?» Mary faltete die Hände in ihrem Schoß und starrte geradeaus, während Scarlett den Platz neben ihr einnahm und Constance sich zu ihrer Linken setzte.

«In der Tat», murmelte Scarlett.

«Guten Morgen, meine Damen. Fangen wir an», verkündete Section Officer Cartwright, kaum dass sie in ihrer tadellos gebügelten Uniform den Raum betreten hatte. «Nehmen Sie Platz.»

Stühle schabten quietschend über den Boden, als sich die Frauen um den Konferenztisch versammelten. In Middle Wallop hätte Scarlett die meisten, wenn nicht sogar alle gekannt. Aber das Zusammenleben mit Jameson brachte auch mit sich, dass sie hier in Kirton nur wenige der Frauen kennengelernt hatte. Es gab keinen Hüttenklatsch, kein aufgeregtes Getratsche vor einer Tanzveranstaltung, keine nächtlichen Unterhaltungen mehr.

Sie war immer noch eine von ihnen und doch auf seltsame Weise von ihnen getrennt. Sie würde Jameson um nichts in der Welt aufgeben, aber ein Teil von ihr vermisste die Gesellschaft anderer Frauen schmerzlich.

«Post», rief Cartwright, und ein junger Angestellter baute sich am Kopf des Konferenztisches auf, rief Namen und schob Umschläge über die lange, polierte Fläche.

«Wright.»

Sowohl Constance als auch Scarlett blickten sofort auf den Brief, der in ihre Richtung geschoben wurde.

Stanton, nicht Wright, ermahnte sich Scarlett, als sie sah, dass der Brief an Constance adressiert war. Ihr schickte überhaupt niemand Post. Ihre Eltern hatten sich noch immer nicht dazu herabgelassen, auf die Briefe zu antworten, die sie ihnen nach der Hochzeit geschrieben hatte, Constance hingegen erhielt noch immer regelmäßig Post von ihrer Mutter.

Ihre Eltern fragten nie nach Scarlett.

Constances Schultern sackten leicht herab, als sie den Umschlag so unauffällig wie möglich öffnete. «Er ist von Mutter.»

Scarlett drückte ihr kurz die Hand. «Vielleicht kommt morgen einer.» Sie wusste nur zu gut, wie es sich anfühlte, auf einen Brief von dem Mann zu warten, den man liebte.

Constance nickte, dann schob sie den Umschlag unter den Tisch.

Scarlett rückte ihren Stuhl ein Stück herum, um Constance vor Cartwrights Adleraugen abzuschirmen, damit sie während der Besprechung nicht beim Lesen erwischt wurde.

«Das wäre erledigt», begann Cartwright. «Sie sollten mittlerweile die neuen Arbeitsrichtlinien durchgelesen haben, die Sie bei der Besprechung letzte Woche erhalten haben. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass keine einzige WAAF -Kraft zu spät zu ihrem Dienst gekommen ist, seit die Halbstundenregelung in Kraft getreten ist. Gut gemacht. Gibt es noch Fragen zu den Änderungen von letzter Woche?»

«Stimmt es, dass das 71ste versetzt werden soll?», fragte ein Mädchen am Nebentisch.

Scarletts Herz setzte einen Schlag aus. Nein. Nicht jetzt schon . In ihrem Kopf flackerte ein Szenario nach dem anderen auf. Sie hatten noch nicht genug Zeit miteinander gehabt, und es gab kaum noch Gefallen, die sie einfordern konnte, um gemeinsam mit Jameson versetzt zu werden – falls sein Geschwader überhaupt zu einem Stützpunkt verlegt werden würde, an der es eine Operationszentrale gab.

Section Officer Cartwright seufzte sichtlich frustriert. «Aircraftwoman Hensley, ich verstehe nicht, was das mit der Änderung der Richtlinien von letzter Woche zu tun haben soll.»

Die junge Frau errötete. «Es würde bedeuten … dass die Flugzeuge auf dem Kartentisch einen anderen Abflugort haben?»

Ein kollektives Stöhnen ertönte.

«Ausgezeichneter Versuch, aber nein.» Cartwright ließ ihren Blick über den Tisch schweifen und hielt kurz bei Scarlett inne. «Ich verstehe zwar, dass viele von Ihnen – gegen ausdrücklichen Rat – eine emotionale Bindung zu den Mitgliedern des Eagle Squadron aufgebaut haben, aber ich möchte Sie daran erinnern, dass es uns, offen gesagt, nichts angeht, wohin die Einheit geschickt wird, jetzt, wo sie voll einsatzfähig ist.»

Ein Dutzend verzweifelter Seufzer erfüllte den Konferenzraum, aber keiner davon kam von Scarlett. Sie war zu sehr mit der Verarbeitung des emotionalen Einschlags beschäftigt, um einfach nur zu seufzen, als wäre sie lediglich verknallt.

«Meine Damen», stöhnte Cartwright. «Ich könnte dies durchaus als Gelegenheit nutzen, um Sie an Ihre Verantwortung dafür zu erinnern, ein tugendhaftes Verhalten an den Tag zu legen, werde das aber nicht tun.» Und doch hatte sie genau das mit diesem Satz erreicht. «Was ich sagen will, ist, dass Gerüchte eben nur Gerüchte sind. Wenn wir jedes Gerücht glauben oder dem nachgehen würden, was uns zu Ohren kommt, wären wir schon halb in Berlin, und ich erwarte, dass Sie …»

Neben Scarlett begann Constance zu hyperventilieren, sie umklammerte den Brief so fest, dass Scarlett befürchtete, die Nägel ihrer Schwester würden gleich das Papier durchstoßen.

«Constance?», flüsterte Scarlett, und ihr stockte der Atem angesichts des Entsetzens in den Augen ihrer Schwester.

Constances Schrei erfüllte den Raum, das Geräusch zerriss Scarletts Brustkorb und packte ihr Herz mit einer eisigen Faust.

Scarlett griff nach Constances Handgelenk, aber der Schrei hatte sich bereits in ein klägliches Wimmern verwandelt, das von herzzerreißenden Schluchzern unterbrochen wurde, unter denen ihre Schultern bebten.

«Poppet?», fragte sie leise und drehte Constances Gesicht sanft zu ihrem. Die Tränen tropften ihr nicht mehr nur einzeln auf die Wangen, sie liefen ihr als fortwährender Strom über das Gesicht, es war, als ob ihre Augen die Tränen gar nicht erst aufhielten, sondern direkt weiterströmen ließen.

«Er. Ist. Tot.» Constances Worte drangen zwischen ihren schweren Schluchzern hervor. «Edward. Ist. Tot. Es gab. Einen. Bombenangriff …» Sie senkte den Kopf, und die Schluchzer kamen immer dichter und heftiger.

Edward . Scarlett schloss für einen Moment die Augen. Wie konnte der Junge mit den blauen Augen, der mit ihnen aufgewachsen war, einfach weg sein? Er hatte damals ebenso zu ihrem Leben gehört wie ihre eigenen Eltern.

Er war Constances Seelenverwandter.

Scarlett zog Constance in ihre Arme. «Es tut mir so leid, Liebes. Es tut mir so, so leid.»

«Assistant Section Officer Stanton, müssen Sie Ihre Schwester aus dem Raum entfernen, oder kann sie sich zusammenreißen?», schnauzte Cartwright.

«Wenn Sie uns entschuldigen würden, kann ich mich privat um sie kümmern.» Scarlett spürte Widerstand in sich aufsteigen, aber die gefühllose Frau hatte recht. Ein solches Verhalten wurde nicht toleriert, egal wie berechtigt es war. Constance würde als hysterisch und unzuverlässig abgestempelt werden. Mädchen, denen es nicht gelang, ihre Gefühle zu unterdrücken, wurden versetzt und auf unwichtige Posten verbannt.

Cartwright kniff die Augen zusammen, nickte aber.

«Reiß dich noch einen Augenblick zusammen», bat Scarlett Constance flüsternd, legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie auf die Füße. «Komm mit.» Wieder flüsterte sie.

So schnell Scarlett das ohne zu stolpern konnte, führte sie Constance aus dem Besprechungsraum. Der Korridor lag Gott sei Dank ruhig da, war aber immer noch nicht abgeschirmt genug.

Sie öffnete die Tür zu einem kleineren Raum – dem Vorratsdepot –, zog ihre Schwester hinein und schloss die Tür hinter ihnen. Dann lehnte sie sich gegen die einzige leere Wand und hielt Constance fest. Deren Beine gaben nach, Scarlett rutschte mit ihr zu Boden und wiegte sie leicht, während Constance schluchzend, in unkontrollierten, keuchenden Zügen an ihrer Schulter nach Luft rang.

«Ich hab dich», murmelte sie ihrer Schwester ins Haar. Hätte sie etwas tun können, um ihr den Schmerz zu nehmen, hätte sie es getan. Warum sie? Warum Constance, wo es doch Scarletts Liebster war, der jeden Tag sein Leben riskierte? Tränen verschleierten ihr die Sicht.

Das hier war etwas, wovor sie Constance nicht beschützen konnte. Sie konnte nichts tun, als sie zu halten. Tränen rannen aus ihren Augen und hinterließen nasse, kalte Schlieren auf ihrer Haut.

Irgendwann beruhigte sich Constance so weit, dass sie sprechen konnte. «Seine Mutter hat es unserer erzählt», sagte sie. Den zerknitterten Brief hielt sie noch immer in der Hand. «Es geschah an dem Tag, an dem er mir das letzte Mal geschrieben hat. Er ist seit fast einer Woche tot!» Ihre Schultern sackten herab, und sie schmiegte sich noch fester an Scarlett. «Ich kann nicht …» Sie schüttelte den Kopf.

Ein lautes Klopfen ertönte an der Tür.

«Bleib hier», befahl Scarlett ihrer Schwester, dann stand sie hastig auf und wischte sich über die Wangen, während sie zur Tür eilte. Davor stand Section Officer Cartwright. Scarlett reckte das Kinn, trat auf den Flur und schloss die Tür hinter sich, um Constance so viel Privatsphäre wie möglich zu gewähren.

«Wer ist gestorben?», fragte Cartwright in der unverblümten Art, die beim Militär so geschätzt wurde.

«Ihr Verlobter.» Sie schluckte jede Emotion, die an ihrer Kehle kratzte, hinunter. Ihnen konnte sie sich später stellen. Dann konnte sie sich auch in Jamesons Armen zusammenrollen und um den Freund weinen, den sie verloren hatte – und um die Liebe, die ihrer Schwester versagt bleiben würde. Später … aber nicht jetzt.

«Es tut mir leid um ihren Verlust.» Cartwright schluckte, blickte den Flur herab, als müsse auch sie sich erst einmal sammeln, dann hob sie ihr Kinn. «Obwohl die Umstände Ihrer Geburt Ihnen beiden gewisse … Vorteile gewähren, würde ich meine Pflicht vernachlässigen, wenn ich Sie nicht verwarnen würde – noch einen solchen Ausbruch kann sie sich nicht erlauben.»

«Ich verstehe.» Das tat sie nicht, aber sie hatte genug Vorträge über emotionale Stabilität gehört, um zu wissen, dass es nicht darum ging, sie zu schikanieren. Es lief einfach so.

«Nie wieder.» Cartwright hob die Brauen und sprach leise.

«Es wird nicht wieder vorkommen», versprach Scarlett.

«Gut. Man muss eine ruhige Hand und ein starkes Herz haben, wenn man an diesem Kartentisch stehen will, Assistant Section Officer. Das Leben der Soldaten steht auf dem Spiel. Wir können es uns nicht leisten, einen von ihnen zu verlieren, weil wir verzweifelt darüber sind, einen anderen von ihnen verloren zu haben. Sollte die Senior Section …»

«Es. Wird. Nicht. Wieder. Vorkommen.» Scarlett straffte die Schultern und blickte ihrer Vorgesetzten in die Augen.

«Gut.» Ihr Blick wanderte zur Tür, wo Constances leise Schluchzer immer noch durch das schwere Holz drangen.

«Bringen Sie sie in ihr Quartier – oder besser noch, zu Ihnen nach Hause. Clarke und Gibbons werden den Dienst für Sie übernehmen. Sorgen Sie dafür, dass sie sich beruhigt, bevor Sie sie durch die Flure führen.» Es war genau die Menge an Mitgefühl, die Cartwright nach Scarletts Erfahrung jedem entgegenbrachte, und obwohl es nicht genug war, sah Scarlett es als das, was es war – ein Rettungsanker.

«Ja, Ma’am.»

«Sie wird einen anderen finden. Wie wir es immer tun.» Sie machte auf dem Absatz kehrt und schritt den Flur hinunter.

Scarlett schlüpfte zurück in den Vorratsraum, schloss die Tür und ließ sich auf den Boden sinken, um ihre Schwester in die Arme zu schließen.

«Was soll ich nur tun?» Jeder Schluchzer – jede Träne – von Constance brach Scarlett das Herz ein bisschen mehr.

«Atmen», erwiderte Scarlett und strich mit ihrer Hand immer wieder über Constances Rücken. «In den nächsten paar Minuten wirst du atmen. Sonst nichts.» Wenn sie Jameson verloren hätte – so darfst du nicht denken. Du kannst es dir nicht leisten, diesen Gedanken zuzulassen .

«Und was dann?», weinte Constance. «Ich liebe ihn. Wie soll ich ohne ihn leben? Es tut zu sehr weh.»

Scarlett verzog das Gesicht in dem Versuch, die Fassung zu wahren und für Constance stark zu sein. «Ich weiß es nicht. Aber in den nächsten Minuten atmen wir einfach. Und wenn das erledigt ist, nehmen wir uns die folgenden Minuten vor.»

Vielleicht hatte sie bis dahin auch eine Antwort gefunden.

***

«I st es wahr?», fragte Scarlett mehr als einen Monat später, als sie ihren Mantel über einen Stuhl in der Küche warf.

«Ich freue mich auch, dich zu sehen, Liebling», antwortete Jameson mit einem Lächeln und schwenkte die Kartoffeln in der Pfanne.

«Ich meine es ernst.» Sie verschränkte die Arme vor der Brust.

Er war kurz davor, die Kartoffeln einfach Kartoffeln sein zu lassen und stattdessen zum Abendessen seine Frau zu vernaschen, aber das Zusammenkneifen ihrer Augen ließ ihn innehalten. Es ging nicht nur um ein weiteres Gerücht, von dem sie wissen wollte, ob es stimmte. Sie wusste es. Er fluchte leise. Verdammt, Neuigkeiten verbreiten sich schnell.

«Darf ich das als ein Ja auffassen?», fragte sie, und ihre Augen funkelten so sehr vor Wut, dass er fast erwartete, jeden Moment Flammen aus ihnen herausschießen zu sehen.

Er nahm die Kartoffeln vom Herd und wandte sich dann seiner schönen, wütenden Frau zu. «Gib mir zuerst einen Kuss.»

«Wie bitte?» Sie zog eine Braue in die Höhe.

Er schlang seine Arme um sie und zog sie an sich, genoss das Gefühl ihres Körpers an seinem. Sie waren seit fünf Monaten verheiratet. Fünf unglaublich glückliche, fast normale Monate – wenn es so etwas mitten im Krieg überhaupt gab –, und nun sollte sich alles ändern. Alles, außer seinen Gefühlen für sie.

Er liebte Scarlett mehr als an dem Tag, an dem er sie geheiratet hatte. Sie war rücksichtsvoll, stark, gewitzt, und wenn er sie berührte, gingen sie beide förmlich in Flammen auf. Und er … er wollte sich verzweifelt an diese neue Normalität klammern, die sie für sich geschaffen hatten.

«Küss mich», forderte er erneut und senkte das Kinn. «Ich habe dich in den letzten Tagen kaum gesehen. Wir haben seit einer Woche nicht mehr zusammen zu Abend gegessen, weil wir beide zu so unterschiedlichen Zeiten Dienst hatten. Lieb mich zuerst.»

«Ich liebe dich immer.» Ihr Blick wurde weicher, sie legte ihre Lippen auf seine und küsste ihn sanft.

Sein Herz machte einen Sprung, so wie jedes Mal. Er küsste sie langsam und ausgiebig, hielt sich aber im Zaum. Er versuchte nicht, sie mit Sex abzulenken – darauf würde sie ohnehin nicht hereinfallen. Nur einen weiteren Augenblick – das war alles, was er brauchte.

Er zog sich sanft zurück und hob den Kopf, um ihr in die Augen sehen zu können. «Wir werden nach Martlesham-Heath versetzt.»

Diese kristallblauen Augen, die er so liebte, funkelten ungläubig. «Aber da ist doch …»

«Die Number 11 Group», beendete er den Satz für sie. «Wir sind einsatzbereit. Sie brauchen uns dort.» Dort, wo sich der Großteil des Geschehens abspielte. Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und kämpfte gegen das Gefühl an, das sein Herz zerriss – es war dem zu ähnlich, das er damals in Middle Wallop empfunden hatte, als sie gezwungen gewesen waren, sich zu trennen. «Wir finden schon eine Lösung.»

«Mary hat mir erzählt, dass Howard gesagt hat, ihr würdet versetzt werden, aber …» Sie schüttelte den Kopf, wand sich aus seinem Griff, und er hielt nichts weiter im Arm als kalte Luft.

Verdammt noch mal, Howard .

«Scarlett, Süße …»

«Wir finden schon eine Lösung?» Sie klammerte sich an die Rückenlehne des Küchenstuhls und holte tief Luft. «Wann?»

«In ein paar Wochen», antwortete er und ließ seine Arme sinken.

«Nein, wann hast du von der Versetzung erfahren?» Ihre Augen verengten sich.

«Erst heute Morgen.» Im Geiste verfluchte er Howard dafür, dass er es Mary erzählt hatte, bevor er selbst Scarlett überhaupt gesehen hatte. «Ich weiß, es ist kompliziert, aber ich habe mich vor meinem Flug nach den Unterkünften für Verheiratete auf dem Stützpunkt erkundigt …»

«Was?» Sie wurde laut, was bei ihr gleichbedeutend mit der höchsten Alarmstufe war. Diese Frau verlor kaum einmal – wenn überhaupt – ihre gefasste, ruhige und gelassene Haltung.

«Ich weiß, es ist etwas voreilig anzunehmen, dass du um eine weitere Versetzung bitten würdest, vor allem, da Constance …» Kaum noch atmet . Seine Schwägerin war, seit sie Edward verloren hatte, zu einem Geist geworden. Scarlett würde sie auf keinen Fall verlassen, und es war auch nicht gesagt, dass Constance überhaupt mitgehen würde. «Wie auch immer, die Unterkünfte sind voll, also müssten wir außerhalb des Stützpunktes wohnen, aber ich kann mich auf die Suche nach einer Wohnung machen.»

«Um eine weitere Versetzung bitten» , wiederholte Scarlett, und ihre Augen fingen an zu glühen. «Wie kommst du darauf, dass ich mich überhaupt dorthin versetzen lassen kann , Jameson? Es gibt dort kein … ich kann nicht …» Sie rieb sich den Nasenrücken.

Sie konnte es ihm nicht sagen, weil ihr Job einer größeren Geheimhaltungsstufe unterlag als seiner. Natürlich wusste er, was sie tat – er war nicht von gestern –, aber das bedeutete nicht, dass sie nach Hause kam und ihm verriet, wo sich die anderen Filter Rooms oder die Radarstationen befanden. Zu viel Wissen war gefährlich für einen Piloten, der jederzeit in die Hände des Feindes geraten konnte. Natürlich war es in Ordnung zu wissen, wo sie gerade arbeitete; Sector Operations waren – verdammt, das ist es! «In Martlesham gibt es keine Sector Operations», riet er leise.

Sie schüttelte den Kopf als Antwort. «Was Constance und ich machen, die ganze Ausbildung dafür …» Sie begegnete seinem Blick, und der Schmerz darin schlug seine Krallen in Jamesons Seele. «Man wird uns nicht gehen lassen, nur damit wir Fahrerinnen oder Mechanikerinnen werden. Wir sind, was wir sind.» Sie war für den Sieg genauso wichtig wie er, wenn nicht sogar wichtiger.

«Du bist außergewöhnlich.» Er hatte ein flaues Gefühl im Magen, denn dies bedeutete, dass ihre ohnehin schon schwierige Situation geradezu unmöglich werden würde. Allein der Gedanke, wochenlang einzuschlafen, ohne sie in seinen Armen zu halten, und allein wieder aufzuwachen, oder nicht mehr gemeinsam mit ihr zu lachen, wenn ihnen mal wieder das anbrannte, was auch immer sie versuchten zu kochen, reichte aus, um sein Herz voller Protest aufschreien zu lassen. Wie zum Teufel sollte er das aushalten?

«Wohl kaum», winkte sie ab. «Ich bin nur gut ausgebildet und besitze flinke Finger, was im Moment nicht gerade zu unseren Gunsten ist. Martlesham liegt mehrere Stunden entfernt. Man hat uns praktisch den gesamten Urlaub gestrichen, und du wirst auch nicht mehr oft freibekommen. Wir werden uns nie sehen können.» Sie senkte den Kopf und zog die Schultern an.

Ihm brach fast das Herz. Er trat dicht zu ihr und zog sie an seine Brust. «Wir finden einen Weg. Meine Liebe zu dir ist nicht erloschen, als halb England uns getrennt hat. Ein paar Stunden sind nichts dagegen.»

Und doch waren sie alles. Über die Erlaubnis, auswärts der Basis zu wohnen, musste er sich gar nicht erst Gedanken machen; die Entfernung war zu groß, um auch nur mit einem Übernachtungsausweis weiterzukommen, es sei denn, er nahm sich achtundvierzig Stunden frei; und sie hatte recht, die Tage, an denen sie leicht Urlaub bekommen konnten, gehörten der Vergangenheit an. Es könnten Monate zwischen den Besuchen vergehen, je nach Verlauf des Krieges.

Er fluchte abermals. Bei dem Angriff in Middle Wallop hatten sie einander fast verloren, und wenn ihr jetzt etwas zustieße … Ihm kam die Galle hoch.

«Du könntest jederzeit nach Colorado gehen.»

Sie versteifte sich in seinen Armen und sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren.

«Ich weiß, dass du das nicht tun wirst», sagte er leise und strich ihr eine Strähne, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte, zurück. «Ich weiß, dass dein Pflichtgefühl das nicht zulässt und du Constance ohnehin nicht verlassen wirst, aber ich wäre ein beschissener Ehemann, wenn ich dich nicht wenigstens bitten würde zu gehen, damit du in Sicherheit bist.»

«Ich weiß nicht, ob du es bemerkt hast, aber ich bin keine Amerikanerin.» Sie legte ihre Hände auf seine von einem T-Shirt bedeckte Brust – keiner von ihnen kochte jemals in voller Uniform. Diese Lektion hatten sie schon früh in ihrer Ehe gelernt, sie hatte sie zwei ansonsten tadellose Jacken gekostet.

«Ich weiß nicht, ob du es bemerkt hast, aber du bist auch nicht mehr unbedingt Britin.» Zum Glück hatte die WAAF kein Problem damit, ausländische Staatsangehörige aufzunehmen. «Wir scheinen uns beide im Moment zwischen den Ländern zu befinden.»

Sie stieß ein kleines Lachen aus. «Und wie genau hast du dir vorgestellt, mich in dein Land zu bekommen? Du fliegst mich hin und wirfst mich über Colorado aus dem Flugzeug?», neckte sie ihn und drückte ihm einen Kuss aufs Kinn.

«Jetzt, wo du es erwähnst …» Er grinste, es gefiel ihm, dass es ihr immer gelang, die Leichtigkeit in einer Situation zu finden.

«Jetzt mal im Ernst: Wir können diese Möglichkeit ausschließen, es ist einfach keine. Du kannst nicht einmal in dein eigenes Land einreisen, ohne verhaftet zu werden.»

«Eigentlich …» Er legte den Kopf schief, seine Gedanken rasten. «Ich habe meine Staatsbürgerschaft nie aufgegeben. Ich habe dem König auch nie die Treue geschworen, also bin ich kein Verräter. Habe ich gegen die Neutralitätsgesetze verstoßen? Ja. Würde man mich ins Gefängnis stecken, wenn ich nach Hause komme? Wahrscheinlich. Aber ich bin immer noch Amerikaner.» Er warf einen Blick auf seine Uniformjacke mit dem leuchtenden Adler auf der rechten Schulter, die über einem der Küchenstühle hing. «Du hast gegen kein Gesetz verstoßen, und du bist meine Frau. Du hast ein Anrecht auf die amerikanische Staatsbürgerschaft. Wir müssten dir nur ein Visum besorgen.» Ein Funken Hoffnung flammte in seiner Brust auf. Er hatte eine Möglichkeit gefunden, sie aus diesem Krieg herauszuholen – dafür zu sorgen, dass sie ihn überlebte.

Sie lachte nur und wand sich aus seinen Armen. «Ja genau, und das dauert ein Jahr, wenn nicht länger, wie ich in den Zeitungen gelesen habe. Bis dahin könnte der Krieg schon vorbei sein. Und außerdem hast du recht. Ich werde mein Land nicht verlassen – auch wenn es formal gesehen nicht mehr meins ist –, solange es mich braucht, und ich werde Constance nicht im Stich lassen. Wir haben uns geschworen, das gemeinsam durchzustehen, und das werden wir auch.» Sie nahm seine Hand und küsste seinen Ehering. «Und ich werde dich nie verlassen, Jameson. Nicht, wenn ich es verhindern kann. Ein paar Stunden sind nichts im Vergleich zu Tausenden von Meilen am anderen Ende des Ozeans.»

«Aber du wärst in Sicherheit …», setzte er an.

«Nein. Wir können noch einmal darüber reden, wenn der Krieg vorbei ist oder unsere Lebensumstände sich drastisch verändert haben sollten. Bis dahin lautet meine Antwort Nein.»

Jameson seufzte. «Natürlich musste ich mich in so ein eigensinniges Ding verlieben.» Doch er hätte sich gar nicht erst verliebt, wenn sie eine andere gewesen wäre.

«In ein eigensinniges, halsstarriges Ding », korrigierte sie ihn mit einem kleinen Lächeln. «Wenn du Austen zitieren willst, dann bitte richtig.» Sie presste ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. «Wie weit entfernt vom Stützpunkt kannst du wohnen, dass du noch eine Erlaubnis dazu bekommst?»

«Das entscheidet der Station Commander.» Manche waren mitfühlend und der Meinung, dass die Piloten zuverlässiger arbeiteten, wenn sie auf – oder außerhalb – des Stützpunktes bei ihren Familien sein konnten. Andere gaben darauf einen Scheiß – und dementsprechend auch keine Erlaubnis. «Was ist mit dir?»

«Ich hatte schon Schwierigkeiten, sie hier zu kriegen. Alle anderen Frauen am Stützpunkt leben in den Hütten oder sind in den Wohnungen einquartiert, die eigentlich für Verheiratete gedacht sind.» Sie runzelte die Stirn.

«Keine der anderen Frauen ist mit jemandem verheiratet, der auf demselben Stützpunkt stationiert ist», stellte er fest. Bald würde es ihnen genauso ergehen wie den wenigen anderen Paaren mit Trauschein – sie waren zwar verheiratet, aber trotzdem gezwungen, getrennt zu leben.

Sie kaute auf ihrer Unterlippe und dachte offensichtlich über etwas nach.

«Was geht in Ihrem bemerkenswerten Gehirn vor, Scarlett Stanton?»

Ihr Blick huschte zu ihm und begegnete seinem. «Ich kann dich nicht begleiten, aber es gibt eine kleine Chance, dass ich näher an deinen Stützpunkt versetzt werde.»

Er versuchte verzweifelt, sich nicht an diesen neuen Hoffnungsschimmer zu klammern, scheiterte aber. «Ich ziehe selbst die kleinste Chance der Möglichkeit vor, dich monatelang nicht zu sehen.»

«Wenn du doch nur Versetzungen bewilligen dürftest, mein lieber Ehemann. Da ich derzeit nicht als Tochter meines Vaters anerkannt bin, kann ich nicht dieselben Fäden ziehen, die mich hierhergebracht haben.» Sie verschränkte ihre Finger in seinem Nacken. «Aber ich werde alles versuchen.»

Der Kloß in seiner Kehle lockerte sich vor Erleichterung ein wenig, löste sich aber nicht vollkommen auf. «Gott, ich liebe dich.»

«Falls ich es nicht schaffe, mich versetzen zu lassen, und uns nur noch wenige Wochen bleiben, sollten wir sie nutzen.» Sie nickte in Richtung des Herdes und des vergessenen Essens darauf. «Lass das Abendessen stehen und nimm mich gleich mit ins Bett.»

«Wir brauchen kein Bett.» Er hob sie auf den Küchentisch und versank in ihrem Kuss. Sie hatte recht – wenn ihnen nur noch wenige Wochen blieben, wollte er keine Sekunde davon verschwenden.

Jameson,

 

oh, mein Liebster. Ich könnte niemals bereuen, dass ich dich auserwählt habe. Du bist der Atem in meinen Lungen und jedes Pochen meines Herzens. Ich hatte meine Wahl schon getroffen, bevor ich überhaupt wusste, dass eine Wahl bestand. Bitte mach dir keine Sorgen. Schließ deine Augen und stell dir uns beide an dem Ort vor, von dem du mir erzählt hast – an der Biegung des Flusses. Wir werden bald dort sein, und noch eher werde ich wieder in deinen Armen liegen. Bis dahin werden wir hier auf dich warten. Ich würde ewig auf dich warten. Ich bin auf ewig dein.

 

Scarlett