Kapitel 20

Juli 1941

North Weald, England

«S o ist es besser, oder?», wollte Scarlett wissen, während sie die Knöpfe ihrer Uniformjacke durch die Löcher zwängte. Sie würde es nicht mehr lange verbergen können. Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie es jetzt noch wirklich verbergen konnte.

Jameson lehnte am Türrahmen ihres Schlafzimmers, den Mund zu einer dünnen Linie zusammengepresst.

«Ich habe jetzt jeden Zentimeter Stoff ausgelassen», murmelte Constance und zupfte leicht am Saum. «Vielleicht könnten wir eine größere Größe anfordern?»

«Schon wieder?» Scarlett hob die Augenbrauen und betrachtete sich in dem ovalen Spiegel, der auf der Kommode stand.

Constance zuckte mit den Schultern. «Stimmt. Schon beim ersten Mal hat mich die Lagerarbeiterin angeschaut, als würde ich ihr die Rationen stehlen wollen.»

Die Uniform war eng und spannte nicht nur über ihrem Bauch, sondern auch über ihren Hüften und ihren Brüsten.

«Ich hätte eine Idee», sagte Jameson von der Tür aus und verschränkte seine Arme vor der Brust.

«Lass hören», antwortete Scarlett und zog ihre Jacke unten zusammen, wo es keine Knöpfe gab.

«Du könntest ihnen sagen, dass du im fünften Monat schwanger bist.»

Sie begegnete seinem Blick im Spiegel mit einer hochgezogenen Augenbraue.

Er lächelte nicht.

Constance sah zwischen den beiden hin und her. «In Ordnung. Ich gehe dann mal … ganz woanders hin!»

Jameson trat zur Seite, damit sie sich an ihm vorbeischieben konnte, dann schloss er die Schlafzimmertür und lehnte sich dagegen. «Ich meine es ernst.»

«Ich weiß», sagte sie leise und fuhr mit der Hand über die Wölbung ihres Bauches. «Aber du weißt, was sie dann tun werden.»

Er legte den Kopf in den Nacken, schlug damit gegen die Tür.

«Scarlett, Süße. Ich weiß, dass deine Arbeit wichtig ist, aber kannst du ehrlich behaupten, dass es dich nicht umbringt, acht Stunden am Stück auf den Beinen zu sein? Und was ist mit dem Stress? Den wechselnden Schichten?»

Er hatte recht. Sie war morgens bereits erschöpft, wenn sie nur die Augen öffnete. Aber egal, wie müde sie war; es gab keine Zeit zum Ausruhen.

Aber falls sie es beichten – ihren Dienst quittieren – würde, was war sie dann noch?

«Was soll ich denn den ganzen Tag lang machen?», fragte Scarlett und fuhr mit ihren Fingern über die eingestickten Streifen auf ihrer Schulter, die ihren Rang anzeigten. «In den letzten zwei Jahren gab es für mich nur eine Richtung. Mein Leben hatte Bedeutung und ich eine Aufgabe. Ich habe Dinge geleistet und mich dem Kampf gegen die Nazis verschrieben. Was soll ich stattdessen machen? Ich war noch nie eine gute Hausfrau.» Sie schluckte, in der Hoffnung, den Knoten in ihrem Hals zu lösen. «Bisher war ich auch noch nie Mutter. Ich weiß nicht, wie ich irgendetwas davon sein kann.»

Jameson durchquerte das Zimmer, setzte sich auf die Bettkante, umfasste die Hüften seiner Frau und zog sie zwischen seine gespreizten Beine. «Wir werden es gemeinsam herausfinden.»

«Wir», sagte sie leise, und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. «Aber für dich ändert sich doch nichts», flüsterte sie. «Du kannst immer noch zur Arbeit gehen, fliegst immer noch, kämpfst immer noch in diesem Krieg.»

«Ich weiß, das hier ist nicht das, was du wolltest …» Er verzog das Gesicht.

«Darum geht es nicht», widersprach sie hastig und verschränkte ihre Finger im Nacken ihres Mannes. «Ich hatte nur gehofft, dass ich im Falle des Falles bereit sein würde. Ich habe gehofft, dass der Krieg dann vorbei ist, dass wir kein Kind in eine Welt setzen müssen, in der ich mir jeden Abend Sorgen mache, ob du nach Hause kommst, oder Angst habe, dass eine Bombe auf unser Haus fällt, während unser Sohn schläft.» Sie nahm seine Hände und legte sie auf ihren angeschwollenen Bauch. «Ich will dieses Baby, Jameson. Ich will unsere Familie. Ich hatte mir nur gewünscht, bereit zu sein, wenn es so weit ist, und das bin ich nicht.»

Jamesons Hände strichen über ihren Bauch, so wie jeden Tag, wenn er sich von ihrem Kind verabschiedete, bevor er aufbrach, um in die Luft zu steigen. «Ich glaube nicht, dass man jemals bereit ist. Und nein, diese Welt ist nicht sicher für unsere Tochter . Noch nicht. Aber sie hat zwei Eltern, die wie verrückt darum kämpfen, das zu ändern. Um sie für sie sicher zu machen.» Seine Mundwinkel zuckten in die Höhe, als er seine Frau ansah. «Ich bin unglaublich stolz auf dich, Scarlett. Du hast getan, was du konntest. Du kannst die Vorschriften nicht ändern. Das Einzige, was du tun kannst, ist, in unserem Zuhause weiterzukämpfen. Ich weiß, du wirst eine wunderbare Mutter sein. Ich weiß, dass meine Einsatzpläne unvorhersehbar sind und dass ich nie weiß, wann ich wieder nach Hause kommen kann.» Falls er überhaupt wieder nach Hause kommt , dachte sie. «Ich weiß, dass der größte Teil der Arbeit und der Verantwortung auf dir liegt, aber ich weiß auch, dass du der Herausforderung gewachsen bist.»

Sie zog eine Augenbraue hoch. «Und schon wieder behauptest du, unser Baby sei ein Mädchen. Das wird deinem Sohn nicht gefallen, wenn er auf die Welt kommt.»

Jameson lachte. «Und du behauptest schon wieder, unsere Tochter sei ein Junge.» Er beugte sich vor, bis sein Mund direkt über ihrem Bauch schwebte. «Hast du das gehört, Sonnenschein? Mommy denkt, du bist ein Junge.»

«Mommy weiß, dass du ein Junge bist», widersprach Scarlett.

Jameson küsste ihren Bauch, dann zog er Scarlett näher an sich heran und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. «Ich liebe dich, Scarlett Stanton. Ich liebe einfach alles an dir. Ich kann es kaum erwarten, diese Mischung aus uns beiden in den Armen zu halten und diese herrlichen blauen Augen bei unserem Kind zu sehen.»

Sie fuhr mit den Händen durch sein Haar. «Und was, wenn er deine Augen hat?»

Jameson lächelte. «Ich würde meinen, du hast in Sachen Augen ein paar dominante Gene, wenn ich an dich und deine Schwester denke.» Langsam küsste er sie wieder. «Du hast die schönsten Augen, die ich je gesehen habe. Es wäre eine Schande, sie nicht weiterzugeben. Wir können sie Wright-Blau nennen.»

«Stanton-Blau», korrigierte sie, und etwas in ihrem Inneren rückte an einen anderen Platz, bereitete sich auf die Veränderung vor, die sie nicht länger verleugnen konnte. «Ich kann immer noch nicht kochen. Selbst nach all diesen Monaten bist du immer noch besser als ich. Alles, was ich kann, ist, eine exzellente Party zu planen und Flugrouten zum Abfangen von Angriffen zu entwerfen. Ich will nicht versagen.»

«Das wirst du nicht. Das werden wir nicht. Wir lieben einander so sehr, kannst du dir vorstellen, wie sehr wir dann dieses Kind lieben werden?» Sein Lächeln war strahlender denn je und ebenso ansteckend.

«Nur noch ein paar Monate», flüsterte sie.

«Nur noch ein paar Monate», wiederholte er. «Dann werden wir ein neues Abenteuer erleben.»

«Alles wird sich ändern.»

«Nicht meine Liebe zu dir.»

«Versprichst du mir das?», fragte sie und fuhr mit ihren Fingern den Umriss seines Kragens nach. «Du hast dich in eine WAAF Officer verliebt, die, so eng, wie diese Uniform bereits sitzt, nächste Woche keine Offizierin mehr sein wird. Es sieht so aus, als hättest du bei diesem Handel den Kürzeren gezogen.» Wie sollte er sie noch lieben, wenn sie nicht mehr sie selbst war?

Er zog sie näher an sich heran, sodass er die Rundungen ihres Körpers an seinem spüren konnte. «Ich liebe dich in jeder deiner Rollen. Welche Uniform du auch immer tragen willst. Wer auch immer du sein willst. Ich werde dich lieben.»

An dieses Versprechen klammerte sie sich später, als sie Section Leader Robbins in ihrem Büro gegenüberstand und nervös an ihrem Hut und ihrer Uhr herumspielte.

«Ich habe mich schon gefragt, wann Sie zu mir kommen würden», sagte Robbins und deutete auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch.

Scarlett setzte sich und richtete ihren Rock.

«Ehrlich gesagt bin ich überrascht, dass Sie so lange durchgehalten haben.» Robbins schenkte ihr ein verständnisvolles Lächeln. «Ich hatte Sie schon vor einem Monat erwartet.»

«Sie wussten es?» Scarletts Hände fanden sofort den Weg zu ihrem Bauch.

Robbins hob eine Augenbraue. «Sie haben sich zwei Monate lang ständig übergeben. Ich wusste es. Ich hielt es nur für das Beste, Sie selbst zu diesem Entschluss kommen zu lassen. Außerdem wollte ich Sie aus reinem Egoismus behalten, Sie sind eine meiner Besten. Abgesehen davon hätte ich Ihnen nur noch zwei Wochen gegeben, bevor ich selbst etwas gesagt hätte.» Sie öffnete eine Schreibtischschublade und holte einige Papiere heraus. «Ihre Entlassungspapiere sind bereits fertig. Sie müssen sie nur noch ins Hauptquartier bringen.»

«Ich will nicht entlassen werden», gab Scarlett leise zu. «Ich will meinen Job machen.»

Robbins musterte sie aufmerksam und seufzte. «Und ich wünschte, Sie dürften es.»

«Kann ich denn gar nichts tun?» Ihr Herz klopfte wie wild, und sie hatte das Gefühl, in zwei Teile zerschnitten zu werden.

«Sie können eine wunderbare Mutter sein, Scarlett. Großbritannien braucht mehr Babys.» Sie schob ihr die Papiere über den Schreibtisch zu. «Wir werden Sie sehr vermissen.»

«Ich danke Ihnen.» Scarlett straffte die Schultern und nahm dann ihre Entlassungspapiere entgegen.

Und dann war es mir nichts, dir nichts vorbei.

Ein gleichmäßiges, dumpfes Summen dröhnte in ihren Ohren, als sie ihre Entlassungspapiere einreichte. Es ließ erst nach, als sie vor dem ovalen Spiegel in ihrem Schlafzimmer stand und in ein Spiegelbild starrte, das nicht länger das ihre sein würde.

Sie nahm zuerst ihren Hut ab und legte ihn auf die Kommode. Die Schuhe kamen als Nächstes. Dann die Strümpfe.

Zweimal hob sie die Hände zum Gürtel ihrer Jacke, bevor es ihr gelang, ihn zu öffnen.

Diese Uniform hatte ihr eine Freiheit geschenkt, die sie ohne sie nie erfahren hätte. Ohne das Selbstvertrauen, das sie sich in den langen Tagen und Nächten ihres Dienstes erworben hatte, hätte sie sich nie gegen ihre Eltern behaupten können. Sie hätte nie erkannt, dass sie mehr war als nur ein hübsches Schmuckstück.

Sie hätte Jameson nie kennengelernt.

Beim ersten Knopf zitterten ihre Finger. Sobald sie die Uniform auszog, war es vorbei. Keine weiteren Dienste mehr. Keine Besprechungen mehr. Kein Lächeln auf ihren Lippen, wenn sie die Straße entlangging, stolz darauf, dass sie ihren Beitrag leistete. Es waren nicht einfach nur Kleidungsstücke – sie waren die physische Manifestation der Frau, die sie geworden war, und der Schwesternschaft, der sie angehörte.

Sie hörte Schritte hinter sich und schaute in den Spiegel. Darin sah sie Jameson, der genau dort stand, wo er am Morgen gestanden hatte. Er lehnte gegen den Türrahmen, aber statt seiner gebügelten Uniform trug er immer noch seinen Fliegeranzug.

***

E r ballte die Hände, wollte nichts lieber, als sie festzuhalten, aber er verschränkte die Arme vor der Brust. Er sagte nichts, während er beobachtete, wie sie mit den Knöpfen ihrer Jacke kämpfte. Seine Brust tat weh angesichts des Schmerzes und der Verzweiflung in ihren Augen, als sie sie endlich aufbekam. Sie hatte es heute offenbar ihrer Section Leader gesagt. Sie zog sich nicht nur aus; sie verlor sich selbst.

Sosehr er auch das Verlangen verspürte, den Raum zu durchqueren und sie zu beruhigen, das hier war etwas, was sie selbst machen musste, für sich. Außerdem war er bereits dafür verantwortlich, dass sie so viel verloren hatte, dass er es nicht ertragen konnte, auch noch an dem hier einen Anteil zu haben.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie sich aus der Jacke befreite und sie sorgfältig faltete, bevor sie sie auf die Kommode legte. Als Nächstes kam die Krawatte, dann das Hemd, und schließlich stieg sie aus dem Rock. Ihre Hände waren ruhig, als sie ihn auf den Stapel legte, und dann stand sie nur in der zivilen Unterwäsche da, auf der sie immer bestanden hatte.

Sie schluckte, dann hob sie das Kinn. «Das … war es.»

«Es tut mir so leid.» Seine Worte klangen, als würden sie über zerbrochene Glasflaschen geschleift werden.

Sie ging auf ihn zu, schien nur aus üppigen Kurven und traurigen Augen zu bestehen, aber als ihre Blicke sich trafen, war ihrer fest. «Mir nicht.»

«Dir nicht?» Er strich ihr über die Wange, musste sie berühren.

«Ich bereue nichts von dem, was mich zu dir geführt hat.»

Er trug sie zu ihrem Bett und zeigte ihr mit seinem Körper, wie glücklich er war, sie gefunden zu haben.

***

E inen Monat später, als sie mit Jameson in einem kleinen Londoner Geschäft einkaufte, das auf Kinderkleidung spezialisiert war, bemerkte Scarlett erstaunt, wie frei sie sich in dem einfachen Wickelkleid bewegen konnte.

Es gab einige Aspekte des zivilen Lebens – wie zum Beispiel, dass sie in der Augusthitze nicht in ihrer Uniform dahinschmolz –, die ihr mehr als zusagten.

«Ich wünschte, wir hätten das schon vor zwei Monaten gemacht», murmelte Jameson beim Anblick der nur spärlich mit Kinderkleidung befüllten Regale.

«Es wird schon irgendwie gehen», versicherte sie ihm. «Er wird für den Anfang nicht viel brauchen.»

«Sie.» Jameson grinste, dann beugte er sich vor und küsste sie auf die Schläfe.

Seit Juni wurde Kleidung rationiert, was bedeutete, dass sie in ein paar Monaten kreativ werden – und viel mehr Wäsche waschen musste. Decken, Strampler und Windeln – bis November mussten sie noch eine Menge besorgen.

«Er», widersprach sie mit einem Kopfschütteln. «Nehmen wir für den Anfang die hier.» Sie reichte Jameson zwei Strampler, die sowohl zu einem Mädchen als auch zu einem Jungen passten.

«Okay.»

Ihr Gesicht verzog sich leicht, als sie auf die kleine Auswahl an Windeln starrte.

«Was ist los?», fragte er.

«Ich habe noch nie eine Windel angelegt», erklärte sie. «Ich weiß, dass ich zum Befestigen Nadeln brauche, aber ich habe niemanden, den ich fragen könnte.» Sie hatte noch immer nicht mit ihren Eltern gesprochen, außerdem war es ja auch nicht so, dass ihre Mutter die Kindererziehung selbst übernommen hätte.

«Sie können auch einen Windelservice beauftragen», schlug eine junge Angestellte am Ende des Ganges mit einem rasch aufblitzenden Lächeln vor. «Die werden immer beliebter.»

Jameson nickte und dachte darüber nach. «Dann hätten wir weniger Wäsche und könnten wahrscheinlich ein wenig von deinem ‹Egal wie viel wir kaufen, es wird nie genug sein›-Stress auffangen.»

Scarlett rollte mit den Augen. «Wir reden nach dem Abendessen darüber. Ich bin am Verhungern.»

«Ja, Ma’am.» Er schenkte ihr ein Lächeln und brachte ihre Sachen zur Ladentheke.

Es gab viele Dinge, über die er in seinem kostbaren Achtundvierzig-Stunden-Urlaub reden wollte, aber Windeln gehörten nicht dazu.

Wenige Augenblicke später traten sie zurück auf die belebte Straße und gingen Hand in Hand weiter. Die Bombardierungen hatten aufgehört … zumindest vorerst, aber die Spuren waren überall zu sehen.

«Hast du ein bestimmtes Restaurant im Sinn?», fragte Jameson und rückte mit einer Hand seinen Hut zurecht.

Scarlett hätte schwören können, dass mindestens drei Frauen bei seinem Anblick einer Ohnmacht nahe waren, was sie ihnen nicht verübeln konnte. Ihr Mann war einfach unglaublich, vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen. «Nicht wirklich. Obwohl es mir nichts ausmachen würde, zurück ins Hotel zu gehen und dich zum Abendessen zu vernaschen.» Sie hielt ihre Miene so unbewegt, wie sie nur konnte.

Er blieb mitten auf dem Bürgersteig stehen, ungeachtet der Menschenmenge, die sich an ihnen vorbeidrängen musste. «Ich besorge uns sofort ein Taxi.» Sein Lächeln war purer Hedonismus.

«Scarlett?»

Scarlett zuckte beim Klang der Stimme ihrer Mutter zusammen, sie drückte Jamesons Hand fester und drehte sich dann langsam zu ihr um. Ihre Mutter war nicht allein. Scarletts Vater stand an ihrer Seite und sah für einen Moment genauso schockiert aus wie Scarlett, bevor es ihm gelang, seine Gesichtszüge wieder zu Stein erstarren zu lassen, so, wie sie es früher auch schon immer bei ihm gesehen hatte.

«Jameson, das sind meine Eltern, Nigel und Margaret, aber ich bin mir sicher, dass es ihnen lieber wäre, wenn du sie Baron und Lady Wright nennst.» Endlich hatte sie eine Verwendung für all die Benimmkurse, zu denen man sie früher gezwungen hatte.

***

«S ir.» Jameson trat vor und hielt Nigel zur Begrüßung die Hand hin, wozu er aber Scarletts Hand loslassen musste. Das also war der berüchtigte Vater, für den seine Frau und ihre Schwester solch gemischte Gefühle hegten. Er trug einen ordentlich gebügelten Anzug, das von Silbersträhnen durchzogene dunkle Haar war locker zurückgekämmt.

Ihr Vater schaute auf Jamesons Hand, dann hob er seinen Blick wieder. «Sie sind der Yankee.»

«Ich bin Amerikaner, ja.» Jameson spürte Ärger in sich aufsteigen, brachte aber ein Lächeln zustande, ließ seine Hand sinken und ergriff abermals Scarletts. Ein solches Zerwürfnis konnte er sich mit seinen eigenen Eltern einfach nicht vorstellen, und wenn er die Spannung hier irgendwie lindern konnte, würde er es tun. Das war das Mindeste, was seine Mutter von ihm erwarten würde. «Ma’am, Ihre Töchter sprechen nur in den höchsten Tönen von Ihnen.»

Bei dieser Lüge presste Scarlett seine Finger zusammen.

Margaret hatte das gleiche dunkle Haar und die gleichen durchdringenden blauen Augen wie ihre Töchter. Die Ähnlichkeit war so groß, dass er das Gefühl nicht loswurde, einen flüchtigen Blick auf Scarlett in dreißig Jahren zu erhaschen. Allerdings würde Scarlett nicht diesen kalten, festen Zug um den Mund haben. Dafür war seine Frau viel zu warmherzig.

«Du … erwartest ein Kind», sagte ihre Mutter leise, während sie mit weit aufgerissenen Augen auf Scarletts Bauch starrte.

Sofort überkam ihn der irrationale Impuls, sich vor seine Frau zu stellen.

«Wir erwarten es», sagte Scarlett mit fester Stimme und hoch erhobenem Haupt. Er hatte schon immer Hochachtung vor ihrer Selbstbeherrschung gehabt, aber das hier war die absolute Krönung. «Ich habe gehört, ihr habt Constance davon überzeugen können, ihr Leben wegzuwerfen?» Sie stellte die Frage in demselben Ton, mit dem sie ihn heute Morgen aufgefordert hatte, ihr die Milch zu reichen.

Jameson blinzelte, als ihm klar wurde, dass er eine völlig andere Arena der Kriegsführung betreten hatte – in der nicht er der Experte war, sondern seine Frau.

«Constance trifft ihre eigenen Entscheidungen», sagte Margaret ebenso höflich.

«Wird es ein Junge?», fragte Nigel. Er starrte Scarlett an, und in seinen Augen lag ein Funke von etwas, das ein wenig zu sehr nach Verzweiflung aussah, wie Jameson voller Unbehagen feststellte.

«Das kann ich wohl kaum wissen, da ich immer noch schwanger bin.» Scarlett legte den Kopf schief. «Und falls es ein Junge ist, geht dich das nichts an.»

Dies war die seltsamste Familie, der er je begegnet war … und irgendwie gehörte er dazu.

Scarlett wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Mutter zu. «Constance trifft ihre eigenen Entscheidungen, aber du hast ihr gebrochenes Herz ausgenutzt. Wir wissen beide, was er ihr antun wird. Du hast ein Lamm freiwillig zur Schlachtbank geführt, und ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um sie zu überzeugen, die Sache nicht durchzuziehen.»

Das war ein Frontalangriff.

«Soweit es mich betrifft, hast du diese Entscheidung für sie getroffen, als du ihn abgewiesen hast», antwortete ihre Mutter emotionslos.

Das war direkt ein ganzer Bombenangriff.

Scarletts scharfes Einatmen zeigte deutlich, dass die Worte ihrer Mutter ins Schwarze getroffen hatten.

«Es war schön, Sie beide kennenzulernen, aber wir müssen jetzt gehen», sagte Jameson und tippte an seinen Hut.

«Wenn es ein Junge wird, kann er mein Erbe werden», platzte es aus Nigel heraus.

Jeder Muskel in Jamesons Körper spannte sich an, in Vorbereitung auf den Kampf. «Wenn unser Baby ein Junge wird, ist er unser Sohn», sagte er.

«Und dein gar nichts », presste Scarlett zwischen zusammengebissenen Zähnen in Richtung ihres Vaters hervor und legte ihre Hand schützend über ihr Kind.

«Falls Constance Henry Wadsworth nicht heiratet – und du bist ja wild entschlossen, diese Ehe zu verhindern», überlegte ihr Vater laut, mit einem intriganten Glitzern in den Augen, «und du den einzigen Nachkommen geboren hast, ist die Erbfolge klar. Falls sie ihn heiratet und sie Kinder haben, sieht die Sache anders aus.»

«Das ist doch nicht zu fassen.» Scarlett schüttelte den Kopf. «Ich werde meinen Anspruch sofort abtreten. Hier, mitten auf der Straße. Ich will ihn nicht.»

Nigels Blick huschte zwischen Scarlett und Jameson hin und her, dann fokussierte er sich auf Scarlett. «Was wirst du tun, wenn dein Yankee getötet wird?»

Scarlett richtete sich kerzengerade auf.

Gegen diese Möglichkeit konnte Jameson kein stichhaltiges Argument einwenden. Die Lebenserwartung eines Piloten betrug nicht Jahre, nicht einmal Monate. Die Chancen standen nicht gerade zu seinen Gunsten, vor allem nicht bei dem Tempo, in dem das 71ste Einsätze flog. Seit sie vor ein paar Wochen mit Spitfires ausgestattet worden waren, zählten sie zu den besten Geschwadern, was die Anzahl abgeschossener Feinde anging.

Er war nur eine Schlacht davon entfernt, ein Fliegerass zu werden … oder abzustürzen.

«Du wirst dein Baby mit der Witwenrente durchbringen müssen, denn ich darf wohl davon ausgehen, dass du die Uniform nicht mehr trägst und kein eigenes Einkommen mehr hast.»

«Sie wird zurechtkommen», warf Jameson ein. Er hatte sein Testament bereits geändert; Scarlett würde, falls er es eines Tages nicht mehr zurück nach Hause schaffte, ein Stück Land erben, aber das verriet er ihren Eltern nicht.

«Wenn das eintrifft, wirst du nach Hause kommen.» Ihr Vater ignorierte Jameson vollkommen. «Überleg doch mal. Du hast keinerlei Qualifikationen. Willst du ernsthaft behaupten, dass du in einer der Fabriken arbeiten würdest? Was würdest du mit deinem Kind machen?»

«Nigel», schimpfte Margaret leise.

«Du wirst nach Hause kommen. Natürlich nicht um deines Willen – du würdest eher verhungern, als uns diese Freude zu bereiten. Aber für dein Kind?»

Scarlett wurde aschfahl.

«Wir gehen. Jetzt.» Jameson drehte ihren Eltern den Rücken zu, schnitt ihnen einfach den Weg ab, ohne Scarletts Hand loszulassen.

«Sie hat nicht einmal mehr ein Land!», rief Nigel ihnen nach.

«Sie ist bald Amerikanerin», sagte Jameson über seine Schulter hinweg, ohne seine Schritte zu verlangsamen.

Scarlett hielt den Kopf hoch erhoben, und Jameson trat auf die Straße, um ein Taxi zu rufen. Ein schwarzer Wagen hielt am Bordstein, Jameson öffnete die Tür und ließ Scarlett zuerst einsteigen. Wut raste durch seine Adern, heiß und dick.

«Wohin?», fragte der Fahrer.

«Zur US -Botschaft», antwortete Jameson.

«Was?» Scarlett drehte sich in ihrem Sitz um, während das Taxi sich schon in den Verkehr einfädelte.

«Du brauchst ein Visum. Du kannst hier nicht bleiben. Unser Baby kann hier nicht bleiben.» Er schüttelte den Kopf. «Du hast mir gesagt, sie seien kalt und herzlos, aber das war …» Ein Muskel in seinem Kiefer zuckte. «Mir fehlen die Worte, um zu beschreiben, was gerade passiert ist.»

«Du bringst mich also zur Botschaft.» Sie hob eine Augenbraue.

«Ja!»

«Liebster, wir haben weder unsere Heiratsurkunde noch irgendetwas anderes dabei, mit dem ich mich ausweisen kann. Sie werden mir nicht einfach ein Visum geben, nur weil du es willst», sagte sie und streichelte ruhig seine Hand.

«Scheiße!»

Der Fahrer warf ihnen kurz einen Blick zu, fuhr aber weiter.

«Ich weiß, sie sind … furchtbar. Aber sie haben keine Macht mehr über mich – über uns. Jameson, sieh mich an.»

«Falls mir etwas zustößt, muss ich die Gewissheit haben, dass du nach Colorado gehen kannst.» Allein der Gedanke, dass sie zu ihrer Familie zurückkehren würde, ließ ihn erneut vor Wut schäumen. «Wir sind nicht arm – zumindest nicht, was den Besitz von Land betrifft –, und ich habe mein Testament bereits geändert. Wenn ich sterbe, hast du verschiedene Optionen, aber zu den beiden zurückzugehen, ist keine davon.»

«Ich weiß.» Sie nickte langsam. «Dir wird nichts passieren …»

«Das kannst du nicht wissen.»

«… aber falls doch, werde ich nie wieder dorthin zurückkehren. Ich verspreche es.»

Sein Blick suchte ihren. «Versprich mir, dass wir das Visumverfahren in die Wege leiten.»

«Ich werde dich nicht verlassen!»

«Versprich. Es. Mir. Dann hättest du das Visum wenigstens, falls ich sterbe.» Er gab diesmal nicht nach, war nicht der vernünftige, einfühlsame Ehemann. Sie musste irgendwo hingehören, falls er abgeschossen wurde.

«Okay. Also gut. Wir werden den Prozess in die Wege leiten. Aber heute können wir nichts mehr tun. Wir müssen erst einen Termin machen …»

Er küsste sie hart und schnell, ohne sich darum zu scheren, dass sie in der Öffentlichkeit waren oder den Taxifahrer damit möglicherweise in Verlegenheit brachten.

«Danke», flüsterte er und lehnte seine Stirn an ihre.

«Können wir jetzt zurück zum Hotel fahren?»

Er nannte dem Fahrer die neue Adresse, mit einem Grinsen, das auch auf dem Weg zum Hotel nicht schwächer wurde. Es verblasste nicht einmal, als sie die breite Treppe zu ihrem Zimmer hinaufstiegen oder als er ihre Tür aufschloss.

Selbst wenn er diesen Krieg nicht überleben würde – sie würde es, und ihr Kind würde es.

***

«W as ist das?», fragte Scarlett, als sie das Zimmer betraten, und deutete auf einen großen Karton, der auf dem Schreibtisch stand. Sie war völlig erschöpft, nicht nur von den vielen Kilometern, die sie beim Einkaufen zurückgelegt hatten, sondern auch von der Begegnung mit ihren Eltern.

«Ich habe ein Geschenk für dich gekauft, als du heute Morgen geschlafen hast, und es liefern lassen. Sieh es dir an.» Er deutete auf das Paket.

«Ein Geschenk?» Sie stellte die Tüte mit der Babykleidung auf ihr Bett, dann musterte sie ihn skeptisch über die Schulter hinweg. «Warum?»

«Mach es einfach auf.» Er schloss die Tür, trat dann neben sie und setzte sich halb auf den Schreibtisch, um sie beobachten zu können.

«Ich habe doch gar nicht Geburtstag.» Sie zog einen der beiden Teile des Deckels auf.

«Nein, aber es ist der Beginn einer neuen Ära für dich.»

Sie zog den zweiten Teil zur Seite und schaute in den großen Karton, nachdem dieser endlich offen war.

Dann keuchte sie auf, und ihre Brust zog sich bei dem, was sie darin fand, zusammen. «Jameson», flüsterte sie.

«Gefällt sie dir?», fragte er grinsend.

Sie fuhr mit ihren Fingern leicht über das kühle Metallgehäuse. «Sie ist …» Großartig. Wunderbar. So ein aufmerksames Geschenk. Zu viel.

«Ich dachte, du könntest vielleicht ein paar von den Geschichten aufschreiben, die du dir in deinem wunderschönen Gehirn immer ausdenkst.»

Ein freudiges Lachen brach aus ihrer Kehle hervor, sie warf sich in seine Arme und hielt ihn fest. «Ich danke dir. Ich danke dir. Ich danke dir.»

Er hatte ihr eine Schreibmaschine gekauft.

Jameson,

 

ich vermisse dich. Wie lange ist es her, dass wir uns zuletzt Briefe geschrieben haben? Monate? Obwohl wir im selben Haus wohnen, verpassen wir uns wegen deiner Einsätze und meiner Dienste immer um Minuten. Es ist die süßeste Form der Folter, neben deinem Kissen zu schlafen, bis mein Kopf erfüllt von deinem Duft ist, und zu wissen, dass du über mir am Himmel fliegst. Ich bete, dass du in Sicherheit bist, dass du das hier liest, während ich schon bei der Arbeit bin, und lächelst, während du neben meinem Kissen mit meinem Duft einschläfst und dir wünschst, du würdest mich im Arm halten. Schlaf gut, mein Liebster, und vielleicht schaffe ich es, heute Nachmittag zu Hause zu sein, bevor du wieder in die Luft steigen musst. Ich liebe dich.

 

Scarlett