North Weald, England
«G enau jetzt wäre ein guter Zeitpunkt», sagte Jameson zu Scarletts Bauch. Er kniete in voller Uniform vor ihr auf dem Boden. «Denn genau jetzt bin ich hier. Und ich weiß, dass du willst, dass ich hier bin, wenn du zur Welt kommst, stimmt’s?»
Scarlett rollte mit den Augen, fuhr aber mit den Fingern durch Jamesons Haar. Jeden Tag führte er das gleiche einseitige Gespräch mit ihrem Baby, das nach Schätzung der Hebamme etwa eine Woche überfällig war.
«Und wenn ich erst einmal losgeflogen bin, ist es wirklich schwer, schnell wieder zurückzukommen», erklärte er und legte seine Hände sanft auf beide Seiten ihres Bauches. «Also, was sagst du? Willst du heute die Welt kennenlernen?»
Scarlett sah, wie die Hoffnung auf Jamesons Gesicht der Frustration wich, und unterdrückte ein Lächeln.
«Es ist definitiv ein Mädchen», sagte er und sah zu ihr auf. «Sie ist stur wie ihre Mutter.» Er drückte ihr einen Kuss auf den Bauch, dann stand er auf.
«Es ist ein Junge, der gerne ausschläft, genau wie sein Vater», widersprach sie und schlang ihre Arme um Jamesons Nacken.
«Ich will heute nicht gehen», gab er leise zu. «Was ist, wenn sie zur Welt kommt und ich nicht da bin?» Er verschränkte seine Finger in ihrem Rücken, was angesichts ihres aktuellen Umfangs nicht leicht zu bewerkstelligen war.
«Das hast du den ganzen letzten Monat gesagt. Es gibt keine Garantie, dass es heute passiert, und wenn doch, dann wartet dein Sohn auf dich, wenn du nach Hause kommst. Es ist ja nicht so, als würde ihn jemand nach der Geburt stehlen, nur weil du nicht zu Hause bist.» Jameson hatte sogar verlangt, während der Geburt bei ihr im Zimmer zu bleiben, aber das würde ganz sicher nicht passieren. Obwohl sie zugeben musste, dass der Gedanke, ihn bei sich zu haben, mehr als tröstlich war.
«Das ist wirklich nicht witzig», sagte er seufzend.
«Geh zur Arbeit. Wir warten hier auf dich, wenn du zurückkommst», drängte sie und verbarg ihre sehr reelle Angst, ihn gehen zu lassen. Jameson brauchte beim Fliegen seine volle Konzentration. Alles andere führte dazu, dass er abgeschossen wurde. «Ich meine es ernst. Geh jetzt.»
Er seufzte noch mal. «Okay. Ich liebe dich.»
«Und ich liebe dich», erwiderte sie, während ihr Blick wie jeden Tag über sein Gesicht glitt, um es sich einzuprägen … nur für alle Fälle.
Er küsste sie langsam, tief, als wäre er nicht spät dran. Als würde er nicht gleich in eine noch unbekannte Schlacht fliegen oder möglicherweise Bomber bei einem Angriff begleiten. Er küsste sie, als würde er es noch tausendmal tun, ohne auch nur den kleinsten Hinweis darauf, dass es ihr letzter Kuss sein könnte.
So küsste er sie jeden Morgen – oder Abend –, bevor er zum Hangar aufbrach.
Sie schmolz dahin, ihr Griff um seinen Nacken wurde fester, sie zog ihn näher zu sich und küsste ihn noch eine Minute länger. Sie brauchten immer nur noch eine Minute länger. Einen weiteren Kuss. Eine weitere Berührung. Einen weiteren Blick.
Sie waren jetzt seit einem Jahr verheiratet, und sie war immer noch völlig vernarrt in ihren Mann.
«Ich wünschte, du würdest mir erlauben, ein Telefon anzuschließen», sagte er an ihrem Mund und löste sich aus dem Kuss.
«Du sollst in zwei Wochen zurück nach Martlesham-Heath versetzt werden. Willst du diese Extravaganzen in allen unseren Häusern einrichten?» Sie strich mit ihrem Mund über den seinen.
«Vielleicht.» Er seufzte und richtete sich zu seiner vollen Größe auf, schob seine Hände in ihr Haar und ließ die Strähnen, die knapp unter ihrem Schlüsselbein endeten, durch seine Finger gleiten. «Vergiss nicht, was wir besprochen haben. Du gehst nach nebenan zu Mrs. Tuttle, sie wird …»
Scarlett lachte, dann schob sie ihn an der Brust zurück. «Wie wäre es, wenn ich mich um die Geburt dieses Babys kümmere und du jetzt gehst und dein Flugzeug fliegst?»
Seine Augen verengten sich. «Na gut.» Er griff sich seinen Hut vom Küchentisch, und Scarlett folgte ihm zur Haustür, wo er seinen Mantel vom Ständer nahm und anzog.
«Pass auf dich auf», forderte sie.
Er holte sich einen weiteren Kuss, diesmal hart und schnell, der mit einem leichten Biss in ihre Unterlippe endete. «Sei noch schwanger, wenn ich nach Hause komme … falls du Einfluss darauf hast.»
«Ich gebe mein Bestes. Und jetzt geh.» Sie deutete in Richtung Tür.
«Ich liebe dich!», rief er beim Hinausgehen.
«Ich liebe dich!» Erst nachdem sie die Worte ausgesprochen hatte, schloss er die Tür.
Scarlett legte eine Hand auf ihren dicken Bauch. «Sieht so aus, als wären wir zwei jetzt allein, Liebling.» Sie drückte ihren Rücken durch, in der Hoffnung, den andauernden Schmerz am Ansatz ihrer Wirbelsäule ein wenig lindern zu können. Der Babybauch war so groß geworden, dass selbst ihre Umstandskleider kaum noch passten, und sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal ihre Füße gesehen hatte.
«Sollen wir heute eine Geschichte schreiben?», fragte sie ihren Sohn, während sie sich hinter der Schreibmaschine niederließ, die einen festen Platz am Küchentisch hatte, und ihre Füße auf dem nächstgelegenen Stuhl hochlegte.
Dann starrte sie auf die Seiten, die sie in einer alten Hutschachtel aufbewahrte. In den letzten drei Monaten hatte sie Dutzende von Geschichten begonnen, war aber nie über die ersten Kapitel hinausgekommen, bevor ihr etwas anderes in den Sinn kam und sie die Geschichte wechselte, aus Angst, die Idee zu vergessen, wenn sie sie nicht aufschrieb.
Das Ergebnis war eine Hutschachtel voller Möglichkeiten, aber kein Manuskript.
Klopf, klopf, klopf.
Scarlett stöhnte auf. Sie hatte es sich gerade halbwegs gemütlich …
«Scarlett?», rief Constance von der Vorderseite des Hauses aus.
«In der Küche!», rief Scarlett zurück, sehr erleichtert, dass sie nicht aufstehen musste.
«Hallo, kleiner Liebling!» Constance kam um den Tisch herum und umarmte sie.
«Ich bin definitiv nicht mehr klein», widersprach Scarlett, und ihre Schwester ließ sich auf den Stuhl neben ihr fallen.
«Wie kommst du darauf, dass ich mit dir geredet habe?» Sie lächelte und beugte sich zu Scarletts Bauch herunter. «Hast du schon mit dem Gedanken gespielt, dich bald zu uns zu gesellen?»
«Du bist genauso schlimm wie Jameson», murmelte Scarlett und drückte erneut ihren Rücken durch. Wie konnte es sein, dass der Schmerz schlimmer wurde? «Hast du heute keinen Dienst?»
«Wie es der Zufall will, habe ich heute frei.» Sie blickte zurück zur Küchentür und runzelte die Stirn. «Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal einen Sonntag frei hatte. Ich nehme an, Jameson kann das nicht von sich behaupten?»
«Nein. Er ist gerade weg.»
«Was sollen wir machen?» Constance trommelte mit den Fingerspitzen auf den Küchentisch, und Scarlett tat ihr Bestes, nicht auf den Ring zu schauen, der an ihrer Hand funkelte. Es war schon paradox, dass etwas so glitzernd Schönes der Vorbote von so viel Zerstörung sein konnte.
«Solange ich mich dabei nicht bewegen muss, bin ich mit allem einverstanden.»
Constance lächelte, dann streckte sie die Hand nach der Hutschachtel aus. «Erzähl mir eine Geschichte.»
«Die sind noch nicht fertig.» Scarlett griff nach der Schachtel, aber Constance war schneller – oder sie selbst zu langsam.
«Wann hast du mir jemals eine Geschichte erzählt, die schon fertig war?» Constance schnaubte und wühlte in den Seiten. «Da drin sind mindestens zwanzig!»
«Mindestens», gab Scarlett zu und rutschte wieder auf ihrem Stuhl herum.
«Ist alles in Ordnung?», fragte Constance, die die Anspannung ihrer Schwester bemerkt hatte. Auf ihrem Gesicht war unverhohlene Sorge zu erkennen.
«Mir geht’s gut. Ich fühle mich nur ein wenig unwohl.»
«Ich mache dir einen Tee.» Constance stieß sich vom Tisch ab und setzte den Kessel auf. «Hast du mal darüber nachgedacht, eine dieser Geschichten zu beenden?»
«Ja, irgendwann schon.» Scarlett lehnte sich weit vor, um sich die Hutschachtel zurückzuholen, solange Constance am Herd stand.
«Warum schreibst du nicht erst eine zu Ende und fängst dann eine neue an?» Sie holte den Tee aus dem Schrank.
Das hatte Scarlett sich auch schon oft gefragt. «Ich habe immer Angst, dass ich eine Idee vergesse. Es fühlt sich fast an, als würde ich Schmetterlingen hinterherjagen. Ich sehe einen, und dann denke ich, dass ein anderer schöner ist, aber ich fange nie einen, weil ich es nicht schaffe, nur einem einzelnen zu folgen.» Sie starrte die Hutschachtel an.
«Es gibt keinen Grund zur Eile.» Constances Stimme wurde weicher. «Du könntest deine Ideen als kurze Zusammenfassung aufschreiben, damit du sie nicht vergisst, und dann zu dem Schmetterling zurückkehren, den du jagen willst.»
«Das ist eine ausgezeichnete Idee.» Scarlett hob die Augenbrauen. «Manchmal frage ich mich, ob ich einfach nur die Anfänge von Geschichten genieße und deshalb nie über sie hinauskomme. Die Anfänge sind es doch, die das Ganze romantisch machen.»
«Nicht der ganze Teil mit dem Verliebtsein?», zog Constance sie auf und setzte sich wieder auf ihren Platz.
«Nun, der auch.» Sie hob eine Schulter. «Aber vielleicht sind es wirklich die Möglichkeiten, in die man sich am leichtesten verliebt. Jede Situation, jede Beziehung, jede Geschichte zu betrachten und sich ausmalen zu können, wohin sie uns führen wird, macht ein bisschen süchtig. Wirklich. Jedes Mal, wenn ich ein leeres Blatt Papier einlege, verspüre ich einen Rausch. Wie der erste Kuss der ersten großen Liebe.»
Constance warf einen kurzen Blick auf ihren Verlobungsring, bevor sie die Hand unter dem Tisch in ihren Schoß legte. «Du legst also lieber neues Papier ein, anstatt eine Seite zu beenden?»
«Schon möglich.» Scarlett rieb sich die Stelle direkt unter den Rippen, wo ihr Baby oft und gern die Grenzen ihres Körpers austestete. «Ich weiß nicht, ob das Baby ein Junge oder ein Mädchen wird. Ich kann nicht erklären, warum, doch ich glaube, es ist ein Junge. Aber jetzt, in diesem Moment, kann ich mir sowohl einen Jungen mit Jamesons Augen und seinem unbekümmerten Lächeln vorstellen als auch ein Mädchen mit blauen Augen, wie wir beide sie haben. Im Moment bin ich in beide verliebt und schwelge in den Möglichkeiten. In ein paar Tagen – zumindest hoffe ich, dass es nur noch ein paar Tage sind, sonst platze ich – werde ich es wissen.»
«Und du willst es nicht wissen?» Constance zog eine Augenbraue hoch.
«Natürlich will ich es wissen. Ich werde meinen Sohn oder meine Tochter von ganzem Herzen lieben. Das tue ich schon. Aber obwohl ich über beide Möglichkeiten nachgedacht habe, entspricht nur eine davon der Wahrheit. Sobald das Baby geboren ist, ist dieser Teil der Geschichte vorbei. Eines der Szenarien, die ich mir in den letzten sechs Monaten ausgemalt habe, wird nicht wahr werden. Das macht das Ergebnis nicht weniger süß, aber wann immer eine Geschichte endet, egal auf welche Art, sind die Möglichkeiten vorbei. Sie ist, was sie ist, oder sie war, was sie immer war.»
«Dann sei nett zu deinen Figuren und gib ihnen allen ein Happy End», schlug Constance vor. «Das ist besser als alles, was sie in der wirklichen Welt erleben würden.»
Scarlett starrte die Hutschachtel an. «Vielleicht ist das Netteste, was ich für die Figuren tun könnte, ihre Geschichten unvollendet zu lassen. Ihnen ihre Möglichkeiten, ihr Potenzial zu lassen, auch wenn sie nur in meinem Kopf existieren.»
«Du lässt den Brief ungeöffnet», sagte Constance leise.
«Vielleicht tue ich das.»
Ein trauriges Lächeln umspielte Constances Mund. «Und in dieser Welt voller Möglichkeiten hat Edward vielleicht Urlaub und schleicht sich nach Kirton-in-Lindsey, um mich zu sehen.»
Scarlett nickte, ihr gesamter Körper verspannte sich fast schmerzhaft.
Der Teekessel pfiff, und Constance erhob sich. «Es könnte ein bisschen schwierig werden, sie zu veröffentlichen, wenn du es auf diese Weise mit dem Schreiben versuchst», sagte sie über die Schulter mit einem gezwungenen, neckischen Lächeln. «Ich glaube, die meisten Leute schätzen Bücher mit einem Ende.»
«Ich habe noch nicht darüber nachgedacht, ob ich wirklich etwas veröffentlichen will.» Der Schmerz in ihrem Rücken wurde schlimmer, und sein atemraubender, bösartiger Griff breitete sich bis nach vorn in ihren Unterleib aus.
«Das solltest du aber. Ich habe mir deine Geschichten immer gern angehört. Jeder sollte die Chance dazu bekommen.»
Scarlett verlagerte ihr Gewicht erneut, während Constance Tee kochte. «Ich glaube, wir sollten lieber ins Wohnzimmer gehen. Dieser Stuhl ist mir heute zu unbequem.»
«Dann machen wir das.»
Sie stellte die Tassen mit einem leichten Klirren bereit, während Scarlett sich auf die Beine kämpfte. Nach und nach verschwanden die Schmerzen, und sie schaffte es, endlich wieder richtig durchzuatmen.
«Scarlett?», fragte Constance mit dem Tablett in den Händen.
«Mir geht’s gut. Bin nur ein bisschen steif.»
Constance stellte das Tablett auf den Tisch. «Sollen wir lieber einen Spaziergang machen? Würde das helfen?»
«Nein. Ich muss mich sicherlich einfach nur mal kurz strecken.»
Constance warf einen Blick auf die Uhr. «Warum rufen wir nicht die Hebamme an? Nur zur Sicherheit.»
Scarlett schüttelte den Kopf. «Das nächste Telefon ist drei Blocks entfernt, und mir geht es gut.» Es ging ihr auch gut … bis der Schmerz zurückkehrte, sich wieder ausbreitete und alle Muskeln ihres Unterleibs sich verkrampften.
«Dir geht es ganz sicher nicht gut.»
Scarlett spürte plötzlich etwas Warmes über ihre Oberschenkel strömen. Ihre Fruchtblase war geplatzt. Angst, wie sie sie noch nie empfunden hatte, überrollte sie, heftiger noch als die Wehen.
«Ich rufe die Hebamme an.» Constance nahm Scarletts Ellbogen und führte sie zu dem Stuhl. «Setz dich. Versuch nicht aufzustehen, bis ich dich ins Bett bringe.»
«Ich will Jameson.»
«Natürlich», sagte Constance in dem für sie typischen, beruhigenden Tonfall, während sie sich vergewisserte, dass Scarlett tatsächlich Platz nahm.
«Constance», schnauzte Scarlett und wartete, bis ihre Schwester ihr in die Augen sah. «Ich. Will. Jameson.»
«Ich rufe erst die Hebamme an und dann sofort das Geschwader, versprochen. Die Hebamme zuerst, es sei denn, dein Mann weiß plötzlich, wie man Kinder auf die Welt holt.»
Scarlett funkelte sie wütend an.
«Gut. Bleib sitzen. Rühr dich nicht von der Stelle. Lass mich einmal in deinem Leben das Sagen haben.» Sie rannte aus der Tür, bevor Scarlett widersprechen konnte.
Fünf Minuten. Zehn. Scarlett beobachtete auf der Uhr, wie die Minuten verstrichen, während sie auf Constance wartete.
Zwölf Minuten, nachdem sie gegangen war, öffnete sich die Haustür.
«Ich bin wieder da!», rief Constance aus dem Wohnzimmer, kurz bevor Scarlett hörte, wie die Tür geschlossen wurde. Ihre Schwester kam durch die Küchentür und setzte ein breites, falsches Lächeln auf. «Gute Nachrichten. Die Hebamme kommt gleich. Sie sagte, ich soll dich nach oben in ein sauberes Bett bringen.»
«Jameson?», fragte Scarlett mit zusammengebissenen Zähnen, als eine weitere Wehe einsetzte.
«Wie viele Wehen hattest du, während ich weg war?», fragte Constance, holte ein paar Handtücher aus einer Küchenschublade und wischte das Fruchtwasser auf.
«Zwei. Das ist die. Dritte.» Scarlett kämpfte sich mit tiefen Atemzügen hindurch, dieser Schmerz war nur die Spitze des Eisbergs. «Wo. Ist. Jameson?»
Constance warf die Handtücher in den Wäschekorb.
«Constance!»
«Irgendwo über der Nordsee.»
«Natürlich ist er das», presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie hätte ihn bitten sollen zu bleiben, aber es dazu gab keinen Grund – zumindest keinen, der für den Staffelführer akzeptabel gewesen wäre.
«Ich werde nicht von deiner Seite weichen», versprach Constance, während sie Scarlett auf die Beine half.
Und das tat sie auch nicht.
N eun Stunden später lag Scarlett völlig erschöpft zwischen frisch gewaschenen Laken, glücklicher als je zuvor, als sie in ein Paar strahlend blaue Augen sah.
«Es ist mir egal, was die Hebamme gesagt hat.» Constance blickte ihr über die Schulter. «Diese Augen werden genau so perfekt blau bleiben.»
«Selbst wenn nicht, sind sie immer noch perfekt», sagte Scarlett und fuhr mit dem Finger über die Spitze der kleinsten Nase, die sie je gesehen hatte.
«Stimmt.»
«Willst du ihn mal halten?», fragte Scarlett.
«Darf ich?» Constance strahlte.
«Das ist nur fair, schließlich warst du heute zu gleichen Teilen Krankenschwester und Dienstmädchen. Ich danke dir.» Ihre Stimme wurde weicher. «Ohne dich hätte ich es nicht geschafft.» Sie hob ihren Sohn hoch, der in eine der Decken gewickelt war, die Jamesons Mutter gefertigt und ihnen geschickt hatte, und legte ihn in Constances Arme.
«Das hätte ich um nichts in der Welt verpassen wollen», sagte Constance und schob das Neugeborene etwas höher auf ihre Arme. «Er ist perfekt.»
«Wir möchten, dass du seine Patin wirst.»
Constance sah ruckartig zu ihr. «Wirklich?»
Scarlett nickte. «Ich kann mir keine bessere vorstellen. Du wirst ihn beschützen, nicht wahr? Falls etwas … passieren sollte.» Die Gefahr, während eines Bombenangriffs getroffen zu werden, war in ihrem Bett genauso da, wie wenn sie noch Dienst für die WAAF leisten würde. Nichts war sicher.
«Mit meinem Leben.» Constance traten Tränen in die Augen, als sie wieder auf das Baby in ihren Armen blickte. «Hallo, mein Kleiner. Hoffentlich kommt dein Vater bald nach Hause, damit wir dich bei deinem richtigen Namen nennen können.» Sie warf Scarlett einen tadelnden Blick zu.
Scarlett lächelte. Sie hatte sich geweigert, über seinen Namen zu sprechen, bevor Jameson seinen Sohn nicht im Arm gehalten hatte.
«Ich bin deine Tante Constance. Ich weiß, ich weiß, ich sehe deiner Mummy sehr ähnlich, aber sie ist mindestens einen Zentimeter größer als ich, und ihre Füße sind eine ganze Nummer größer. Keine Sorge, du wirst uns besser auseinanderhalten können, wenn du ein paar Monate älter bist.» Sie senkte ihr Gesicht. «Soll ich dir ein Geheimnis verraten? Ich werde deine Patentante sein. Das heißt, ich werde dich lieben und verwöhnen und dich immer, immer beschützen. Sogar vor den furchtbaren Kochkünsten deiner Mummy.»
Scarlett schnaubte.
Constance lächelte noch einmal auf das Baby hinunter und reichte es dann an Scarlett zurück. «Ich mache dir etwas zu essen. Brauchst du noch etwas, bevor ich nach unten gehe?» Sie erhob sich vom Bett, und dann flog die Schlafzimmertür auf.
«G eht es dir gut?» Jameson brachte die letzten Schritte bis zum Bett rasch hinter sich, und Constance huschte an ihm vorbei aus dem Schlafzimmer. Sein Herz hatte nicht aufgehört zu rasen, seit er gelandet war, oder genauer gesagt, seit der Mann vom Stützpunkt ihn aufgespürt und ihm gesagt hatte, dass Constance am Morgen angerufen hatte.
An. Diesem. Morgen. Niemand hatte sich per Funk gemeldet – nicht, dass er die Mission hätte abbrechen und einfach zurückfliegen können, aber er hätte es getan. Irgendwie.
«Alles in Ordnung», versicherte Scarlett und lächelte ihn an. Ihr Lächeln war strahlend wie sonst auch, zeigte aber ihre, wie er vermutete, bleierne Erschöpfung. Sie sah unversehrt aus, aber viel von ihr verbarg sich auch unter all den Decken vor seinem Blick. «Darf ich vorstellen: dein Sohn.» Ihr Lächeln wurde breiter, als sie das kleine, in eine Decke gewickelte Bündel hochhob.
Er setzte sich auf die Bettkante und wiegte das winzige, zerbrechliche Baby in seinen Armen, wobei er darauf achtete, das Köpfchen zu stützen. Die Haut seines Sohnes war rosa, der Haarschopf, den er sehen konnte, war schwarz, und seine Augen waren blau. Er war hinreißend, und Jameson war sofort schockverliebt.
«Unser Sohn.» Jameson suchte den Blick seiner Frau, die ihn bereits mit tränenverschleierten Augen ansah. «Er ist unglaublich.»
«Das ist er.» Sie schenkte ihm ein Lächeln, und zwei Tränen liefen ihr über das Gesicht. «Ich bin so froh, dass du hier bist.»
«Ich auch.» Er beugte sich vor und wischte ihre Tränen weg, achtete aber darauf, seinen Sohn sicher in seiner Armbeuge zu halten.
«Es tut mir leid, dass ich es verpasst habe.»
«Nur die chaotischen Teile», erwiderte sie. «Es ist erst eine Stunde oder so her.»
«Und dir geht es wirklich gut? Wie fühlst du dich?»
«Müde. Glücklich. Als wäre ich in zwei Teile zerrissen worden. Wahnsinnig verliebt.»
Sie beugte sich leicht vor und blickte auf ihren Sohn hinunter.
«Kommen wir noch einmal auf den In-zwei-Teile-gerissen-Part zurück», forderte er.
Scarlett lachte. «Mir geht’s gut. Wirklich. Nichts Ungewöhnliches.»
«Du würdest es mir sagen, wenn dem nicht so wäre? Wenn du verletzt wärst?» Jameson musterte sie eingehend, wog ihre Worte gegen ihre Augen, ihren Gesichtsausdruck und die Haltung ihrer Schultern ab.
«Das würde ich», versprach sie ihm. «Auch wenn er das wert gewesen wäre.»
Jamesons Blick fiel auf seinen Sohn, der ihn mit stiller Erwartung ansah. Eine alte Seele also. «Wie willst du ihn nennen?» Sie hatten schon seit Monaten über Namen nachgedacht.
«Mir gefällt William.»
Jameson lächelte, blickte zu seiner Frau und nickte. «Hi, William. Willkommen im Leben. Das erste, was du wissen musst, ist, dass deine Mutter immer recht hat, was du wahrscheinlich schon weißt, da sie seit sechs Monaten sagt, dass du ein Junge bist.»
Scarlett lachte, aber nur leise. Ihre Augenlider hingen tief herab.
«Die zweite Sache ist, dass ich dein Dad bin, also ist es gut, dass du deiner Mom sehr ähnlich siehst.» Er senkte seine Lippen auf Williams Kopf und drückte ihm einen sanften Kuss auf den Haaransatz. «Ich liebe dich.»
Er beugte sich vor und strich mit einem Kuss über Scarletts Mund. «Und ich liebe dich. Danke für ihn.»
«Ich liebe dich auch, und ich könnte dasselbe sagen.» Ihre Atemzüge wurden tiefer. Jameson legte ihren Sohn in die kleine Wiege neben dem Bett und deckte seine Frau zu.
«Kann ich irgendetwas tun?»
«Bleib einfach», flüsterte sie und schlief ein.
Diese erste Nacht öffnete ihm die Augen. William wurde alle paar Stunden wach, und Jameson tat, was er konnte, um zu helfen, aber er konnte ihn nicht wirklich füttern.
Um sieben Uhr morgens waren sie bereits wach, als es an ihrer Schlafzimmertür klopfte.
«Wahrscheinlich Constance», murmelte Scarlett mit William an ihrer Brust.
Jameson warf einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass sie zugedeckt war, dann öffnete er die Tür und sah Constance im Flur stehen, die Howard den Weg versperrte.
«Du kannst unten warten», schnauzte sie.
«Das kann nicht warten.»
«Was ist hier los?», fragte Jameson von der Tür aus.
Howard fuhr sich mit der Hand durch die Haare und sah Jameson über Constances Kopf hinweg an. «Ich dachte mir schon, dass du die Nachrichten noch nicht eingeschaltet hast.»
«Nein.» Sein Magen krampfte sich zusammen.
«Die Japaner haben Pearl Harbor angegriffen. Tausende sind tot. Die Flotte ist zerstört», sagte er, und seine Stimme brach ein wenig.
«Heilige Scheiße.» Tausende sind tot . Jameson stützte sich gegen den Türrahmen. Er hatte die letzten zwei Jahre seines Lebens dem Ziel gewidmet, dass dieser Krieg amerikanischen Boden nicht erreichte, und dann hatte ihnen ein anderer einen unerwarteten Schlag versetzt.
«Ja. Du weißt, was das bedeutet?» Howards Kiefer spannte sich an.
Jameson nickte und warf einen Blick zurück auf Scarletts entsetzten Gesichtsausdruck, bevor er sich wieder seinem Freund zuwandte. «Wir befinden uns auf der falschen Seite der Welt.»
Scarlett,
wie geht es dir, meine Liebste? Geht es dir so schlecht wie mir? Ich habe ein Zuhause außerhalb des Stützpunktes für uns gefunden. Jetzt steht nur noch der Versetzungsbefehl für dich aus, und wir sind wieder zusammen. Ich werde für immer auf dich warten, Scarlett. Für immer …