Kapitel 23

Noah

M eine Arme und mein Rücken taten mir weh, während ich meine Schultern und meinen Nacken hinter dem Schreibtisch lockerte. Der Sturm hatte in den letzten zwei Tagen einen Meter Schnee gebracht, und ich hatte fast zwei Stunden gebraucht, um Georgias Haus freizuschaufeln. Hätte ich bei der Stadt anrufen und einen Schneepflug bestellen können? Sicher, aber der Winter in Colorado machte meine Lieblingsbeschäftigung – das Klettern – unmöglich, also nahm ich das als Gelegenheit, mich körperlich zu betätigen. Außerdem hatte ich die Länge der Einfahrt gründlich unterschätzt.

«Bist du beschäftigt?» Georgia steckte ihren Kopf durch die offene Bürotür, und ich vergaß jeden einzelnen meiner schmerzenden Muskeln. «Ich will dich nicht unterbrechen, aber ich habe dich nicht tippen gehört und dachte, das wäre ein guter Moment fürs Mittagessen.» Hätte ich nicht gesessen, hätte mich ihr Lächeln umgehauen.

«Du kannst jeden Moment von mir haben, den du willst.» Ich meinte es genau so. Was auch immer sie wollte, konnte sie haben – mich eingeschlossen.

«Na ja, es ist nicht viel, aber ich habe Grilled-Cheese-Sandwiches gemacht.» Sie stieß die Tür mit der Hüfte auf und trug einen Teller mit zwei Sandwiches und ein Glas mit, wie ich wusste, ungesüßtem Eistee herein.

«Das klingt fantastisch, danke.» Ich nahm den Untersetzer aus der obersten Schublade und stellte ihn auf den Schreibtisch, bevor sie den Tisch erreichte. Seltsam, wie leicht wir uns beide in den letzten Wochen an die Bedürfnisse des anderen angepasst hatten.

«Gern geschehen. Danke, dass du uns freigeschaufelt hast.» Sie stellte den Teller neben meinen Laptop und den Tee auf den Untersetzer, während ich den Stuhl ein paar Zentimeter zurückrollte.

«War mir ein Vergnügen.» Ich umfasste ihre Hüften und zog sie auf meinen Schoß. Gott, fühlte sich das gut an – sie berühren zu können, wann immer ich wollte. Die letzten zwei Tage waren wir von der Zivilisation abgeschnitten gewesen und hatten nichts anderes getan, als uns gegenseitig zu erkunden. Das war meine Vorstellung von «himmlisch».

«Das hier hilft dir nicht dabei, das Buch fertig zu bekommen.» Sie lächelte und schlang ihre Arme um meinen Nacken.

«Nein, aber es hilft mir dabei, dich in die Finger zu bekommen.» Ich ließ eine Hand in ihren Nacken und in ihr Haar gleiten, dann küsste ich sie, bis wir beide atemlos waren. Mein Verlangen nach ihr war nicht gestillt, sondern eher noch größer geworden. Das mit ihr und alles, was ich mir für uns wünschte, war komplett neu für mich.

Als ich sie das erste Mal gesehen hatte, wusste ich es, und mit jedem Kuss wurde es deutlicher – sie war es. Die Eine. Die Einzige. Es spielte keine Rolle, dass wir tausend Meilen voneinander entfernt wohnten oder dass sie sich immer noch von ihrer Scheidung erholte. Ich würde warten. Ich würde mich ihr beweisen. Ich würde genau das tun, was ich versprochen hatte, und sie für mich gewinnen, nicht nur ihren Körper, sondern auch ihr Herz.

Ihre Zunge tanzte mit meiner, und sie stöhnte leise auf, als ich sie tiefer in meinen Mund saugte. Wir passten nicht nur im Bett gut zusammen, wir waren leicht entflammbar, fingen ständig Feuer für den anderen. Zum ersten Mal in meinem Leben wusste ich, dass ich nie genug bekommen würde. Das hier würde nicht ausbrennen.

«Noah», wimmerte sie, und mein Körper war bereit. Sie konnte mit mir machen, was sie wollte, und ich wusste, dass es mir verdammt gut gefallen würde. «Du bringst mich noch um.»

«Das wäre eine ziemlich schöne Art zu sterben.» Ich fuhr mit meinen Lippen an ihrem Hals entlang, ließ meine Zunge über die empfindlichen Stellen gleiten und atmete den Duft von Bergamotte und Zitrusfrüchten ein. Sie roch immer so verdammt gut.

Sie seufzte, legte den Kopf zurück, und ich küsste ihre Halsgrube.

«Was machen wir hier?», fragte sie, und ihre Finger umfassten meinen Nacken.

«Was immer wir wollen», antwortete ich an ihrer Haut.

«Ich meine es ernst», flüsterte sie.

Das weckte meine Aufmerksamkeit. Ich hob meinen Kopf und zog mich leicht zurück, um ihren Gesichtsausdruck betrachten zu können. Die Hälfte von dem, was Georgia sagte, kam nicht aus ihrem Mund. Es zeigte sich in ihren Augen, der Art, wie sie den Mund verzog, und der Anspannung in ihren Schultern. Ich mochte ein paar Monate gebraucht haben, um ihre Signale zu verstehen, aber mittlerweile erkannte ich sie immer besser, und jetzt war sie besorgt.

«Wir machen, was immer wir wollen», wiederholte ich, legte meine Hände auf ihre Taille und ignorierte das fast schmerzhafte Pochen unter meinem Gürtel.

«Du lebst in New York.»

«Das stimmt.» Das konnte ich nicht leugnen. «Du hast mal in New York gelebt.» Mein Ton wurde weicher, und die Hoffnung, die ich normalerweise für mich behielt, schlich sich in diese letzten Worte ein.

«Aber nicht noch mal.» Sie senkte den Blick. «Ich bin damals für Damian hingezogen. Ich war dort nie glücklich. Du hingegen liebst die Stadt.»

«Das tue ich. Es ist mein Zuhause.» War es das wirklich? Konnte es mein Zuhause sein, wenn Georgia nicht dort war? Wenn ich sie in diesen Bergen, die sie liebte, zurücklassen musste?

«Deine Familie lebt dort.» Sie strich mir mit ihren Fingerknöcheln über die Wange. Es war über eine Woche her, dass ich mich rasiert hatte, und meine Stoppeln bewegten sich langsam ins Bart-Territorium.

«Das stimmt.»

Sie schluckte, ihre Augenbrauen zogen sich zusammen.

«Sag mir, was du denkst, Georgia. Lass mich nicht raten.» Ich drückte sie etwas fester an mich, als könnte ich so verhindern, dass sie mir entglitt.

Doch sie blieb stumm, und ihre unruhigen Gedanken manifestierten sich in einer subtilen Anspannung ihres Kiefers.

Vielleicht braucht sie es, dass du anfängst. Gut. Es war an der Zeit, ihr zu sagen, wie tief ich schon in dieser Sache drinsteckte, wie sehr ich wollte, dass es funktionierte, und wie wenig ich gewillt war, sie gehen zu lassen.

«Georgia, ich bin ganz verrückt …»

«Ich denke, wir sollten die Sache einfach beim Namen nennen», platzte sie heraus.

Wir sprachen gleichzeitig, ihre Worte unterbrachen meine. «Und der lautet?», fragte ich langsam.

«Eine Affäre.» Sie nickte.

Mein Kiefer klappte zu, so heftig, dass meine Zähne mit einem Geräusch aufeinanderschlugen. Eine Affäre? Was zur Hölle sollte das? Ich hatte schon viele Affären gehabt. Das hier war keine.

«Wir fühlen uns zueinander hingezogen, arbeiten auf engem Raum zusammen … Es musste ja so kommen, und versteh mich nicht falsch, ich bin froh, dass es passiert ist.» Sie hob die Brauen und ihre Wangen wurden rot. «Ich bin wirklich, wirklich froh, dass es so gekommen ist.»

«Ich auch …»

«Gut. Ich fände es furchtbar, wenn ich das Gefühl hätte, das ginge nur mir so», murmelte sie.

«Glaub mir, so ist es nicht.» Wenn überhaupt, dann war ich derjenige, der emotional am meisten investiert hatte, was ein Novum war.

«Okay, dann lass es uns möglichst einfach halten. Ich bin noch nicht bereit für etwas Festes. Ich kann nicht einfach von einer ernsten Beziehung zur nächsten springen. So will ich nicht sein.» Sie rümpfte die Nase. «Auch wenn ich zugegebenermaßen von Damians Bett direkt in deines geschlüpft bin – was übrigens viel besser ist. Alles an dir ist besser.» Ihr Blick glitt über mein Gesicht. «So viel besser, dass es beängstigend ist.»

«Du brauchst keine Angst zu haben.» Ich machte mir nicht die Mühe, darauf hinzuweisen, dass es über ein Jahr her war, dass sie in Ellsworths Bett gelegen hatte, denn darum ging es hier nicht, nicht wirklich. Ihre Mutter. Sie wollte nicht wie ihre Mutter sein. «Wir können das so einfach halten, wie du es brauchst.»

In dieser Sekunde, als ich in diese kristallblauen Augen blickte, wurde mir klar, dass ich mich Hals über Kopf in Georgia Stanton verliebt hatte. Ihr Verstand, ihr Mitgefühl, ihre Stärke, ihre Anmut und ihr Durchhaltevermögen – ich liebte alles an ihr. Aber ich wusste auch, dass sie nicht bereit für meine Liebe war.

«Einfach», wiederholte sie, bewegte sich auf meinem Schoß hin und her und klammerte sich an meine Schultern, während ein zaghaftes Lächeln um ihre Mundwinkel spielte. «Einfach ist gut.»

«Dann halten wir es simpel.» Für den Moment. Was ich brauchte, war Zeit.

«Okay. Das ist gut. Dann sind wir uns einig.» Sie drückte mir einen kurzen Kuss auf die Lippen, dann rutschte sie von meinem Schoß. «Oh, du hattest doch nach dem Originalmanuskript von The Diplomat’s Daughter gefragt, richtig?»

«Richtig.» Ich nickte und fühlte mich mehr als nur ein bisschen aus dem Gleichgewicht gebracht. Hatten wir vereinbart, dass wir es einfach halten würden? Oder ging es um mehr?

«Ich habe es oben aus dem Schrank geholt», sagte sie, nahm eine Hemdenschachtel aus einem der Bücherregale im Büro und stellte sie auf eine freie Stelle auf den Schreibtisch. «Sie hat alle ihre Originale da oben.»

«Danke.» Ich wusste, was sie mir da anvertraute, und an jedem anderen Tag hätte ich mich gefreut, mich weiter in das seltsamste literarische Puzzle zu vertiefen, über das ich je gestolpert war, aber mein Kopf war nicht ganz bei der Sache.

«Ich habe in ein paar Minuten ein Telefonat mit den Anwälten, um ein paar Fragen zu Grans Stiftung zu klären, also lasse ich dich jetzt in Ruhe.» Sie kam um den Schreibtisch herum und küsste mich kurz und hart, bevor sie zur Tür ging.

«Georgia?», rief ich, kurz bevor sie das Foyer erreichte.

«Hm?» Sie drehte sich um und hob die Brauen. Sie war so verdammt schön, dass mein Herz spürbar schmerzte.

«Worauf genau haben wir uns gerade geeinigt?», fragte ich. «Was das zwischen uns betrifft?»

«Auf eine Buch-Schreib-Affäre», antwortete sie lächelnd, als wäre das offensichtlich. «Einfach, ohne Verpflichtungen, und sie ist vorbei, sobald du das Buch fertig geschrieben hast.» Sie zuckte mit den Schultern. «Richtig?»

Vorbei , sobald das Buch fertig geschrieben war.

Meine Hände ballten sich auf den Stuhllehnen zu Fäusten. «Klar. Gut.»

Ihr Telefon klingelte, und sie zog es aus ihrer Gesäßtasche. «Wir sehen uns, sobald du deine Wortanzahl für heute erreicht hast.» Sie schenkte mir ein Lächeln, nahm den Anruf entgegen und schloss die Tür in einer einzigen geschmeidigen Bewegung.

Unsere Beziehung hatte nun dieselbe Deadline wie das Buch, und natürlich hatte ich eigentlich vorgehabt, nach der Fertigstellung zu gehen, aber das mit Georgia hatte die Dinge verändert … zumindest für mich.

Scheiße. Das Einzige, was ich brauchte, um sie für mich zu gewinnen, war Zeit, und ich war der Fertigstellung näher, als sie ahnte. Näher, als ich bereit war zuzugeben.

***

I ch beendete das Manuskript – beide Versionen davon – vier Wochen später. Dann saß ich im Büro und starrte auf zwei Dateien auf meinem Desktop.

Meine Zeit war um.

Mein Abgabetermin war übermorgen.

Ich hatte es geschafft, sowohl Georgias als auch meine eigenen Anforderungen zu erfüllen und dabei den vertraglich vereinbarten Termin einzuhalten, und doch war da kein Gefühl von Stolz oder Erfolg, sondern nur die schiere Angst, die Frau, in die ich mich verliebt hatte, zu verlieren.

Ich hatte nur vier Wochen Zeit gehabt, und das war nicht genug. Georgia öffnete sich mir, aber die Teile von ihr, die ich brauchte, um ihr Vertrauen zu erlangen, waren noch immer unter Verschluss. Für sie war das zwischen uns immer noch eine Affäre. Immer wenn ich dachte, sie würde ihre Meinung ändern, sagte sie etwas in der Art, dass sie das Beste aus der Zeit machen wollte, die uns noch blieb – und jetzt war diese Zeit vorbei.

Mein Telefon klingelte. Ich nahm den Anruf an und stellte auf Laut. «Hey, Adrienne.»

«Du kommst also über Weihnachten nicht nach Hause?», fragte meine Schwester mit mehr als nur einem Hauch von Vorwurf in ihrer Stimme.

«Das ist eine komplizierte Frage.» Ich klappte meinen Laptop zu und schob ihn auf die andere Seite des Schreibtischs. Mit meiner existenziellen Krise konnte ich mich später noch befassen.

«Das ist es nicht. Entweder bist du am fünfundzwanzigsten Dezember in New York oder nicht.»

«Ich weiß es noch nicht.» Ich stand auf und ordnete vier der geliehenen Hemdenkartons auf dem Schreibtisch vor mir an, öffnete sie und legte den jeweils dazugehörigen Deckel darunter. Ich übersah etwas. Etwas, das direkt vor mir lag und mich in den Wahnsinn trieb. Die Manuskripte stammten aus verschiedenen Phasen in Scarletts Karriere. Ihre überarbeiteten, veröffentlichten Werke waren natürlich glatter, aber ich kam nicht umhin, fasziniert zu sein von den stilistischen Unterschieden zwischen ihren früheren Werken und den späteren, kam nicht umhin, mich zu fragen, ob der Verlust von Jameson ihr nicht nur das Herz gebrochen, sondern sie auch grundlegend verändert hatte.

Ich kam nicht umhin, mich zu fragen, ob mir das Gleiche geschehen würde, wenn ich Georgia verlor.

«Es sind nur noch drei Wochen bis Weihnachten.»

«Drei Wochen und …» Ich rechnete im Geiste nach. «Vier Tage.»

«Ganz genau. Denkst du nicht, dass du das Buch bis dahin fertig hast?»

Mein Kiefer verkrampfte sich bei dem Gedanken, meine Schwester anzulügen. Eigentlich jeden anzulügen. «Es geht nicht um das Buch.»

«Nicht? Moment, hast du auf Laut gestellt? Wo ist Georgia?»

Ich lachte leise. «Welche Frage soll ich dir zuerst beantworten?»

«Die letzte.»

«In der Stadt, sie arbeitet in ihrem Atelier.» Während des letzten Monats war Georgia eine Urgewalt gewesen. Sie arbeitete unermüdlich, beaufsichtigte die Bauarbeiten im vorderen Teil des Ateliers und stellte Werke fertig, die sie mich nicht sehen ließ – die überhaupt niemand sehen durfte. Sie hatte den Eröffnungstermin auf ihren Geburtstag, den zwanzigsten Januar, gelegt, und ich war mir nicht einmal sicher, ob ich dabei sein würde, was ein ziemlicher Schlag in die Magengrube gewesen war.

«Schön. Ich wette, sie genießt das Leben abseits der Klatschpresse.»

«Das tut sie.» Was ein weiterer Grund war, warum sie nicht nach New York zurückwollte.

«Sie hat dir noch nicht die kalte Schulter gezeigt?» Die Stimme meiner Schwester hatte einen neckenden Unterton, sie wusste sehr wohl, wie steinig das Terrain war, auf dem Georgia und ich angefangen hatten.

«Du solltest hierherkommen und sie kennenlernen. Nächsten Monat eröffnet sie das Atelier mit einer Party. Sie ist ganz anders als das, was du über sie in der Regenbogenpresse liest, Adrienne.» Ich seufzte, fuhr mir mit den Händen durchs Haar und begann mit dem Handy am Ohr, an den Bücherregalen entlangzulaufen. «Sie ist freundlich, klug, verdammt witzig und hilft, wo immer sie kann. Sie ist immer mit irgendwas beschäftigt, sie kann gut mit den Kindern ihrer besten Freundin umgehen und hat kein Problem damit, mich in die Schranken zu weisen, was du sicher zu schätzen weißt.» Ich ließ meinen Blick über die Fotos wandern, die Scarletts Regale säumten, und hielt bei dem Fotoalbum inne, das Georgia liegen gelassen hatte. «Sie ist …» Ich konnte sie nicht in Worte fassen.

«Heilige Scheiße, Noah. Du hast dich in sie verliebt, stimmt’s?»

«Sie ist für so etwas noch nicht bereit», sagte ich leise und blätterte in dem Album.

«Du aber schon!» Sie quietschte fast vor Aufregung.

«Vergiss es.» Das Letzte, was ich brauchte, war, dass sie Moms Kopf mit Unsinn füllte.

Adrienne schnaubte. «Ja, klar. Du weißt schon, mit wem du hier gerade sprichst, oder?»

«Gutes Argument.» Ich rieb mir über die Stelle zwischen den Augenbrauen. «Sobald ich hier weg bin, ist es vorbei, und das will ich nicht. Aber Ellsworth hat tiefe Wunden bei ihr hinterlassen.»

«Dann geh einfach nicht», sagte Adrienne, als wäre das die Lösung.

«Wenn es nur so einfach wäre. Sie hat das zwischen uns eine Buch-Schreib-Affäre genannt. Sobald das Buch fertig ist, sind wir beide es auch.» Und es war fertig und wartete nur darauf, an eine E-Mail an Adam angehängt zu werden.

«Okay, dann beende das Buch eben nicht», schlug sie vor, und ihre Stimme rutschte eine Oktave höher.

«Sehr hilfreich.» Ich blätterte zu den Hochzeitsbildern und deckte Ellsworth mit meiner Hand ab, sodass nur Georgia mich anlächelte. Dann schaute ich genauer hin. Sie war glücklich, aber ihr Lächeln war nicht so strahlend wie das, das sie mir schenkte.

«Ich meine es ernst. Bleib. Verschieb einmal in deinem Leben eine Deadline nach hinten. Ich hole Mom zu Weihnachten her, du kannst anrufen. Glaub mir, wenn dadurch die Chance besteht, dass du heiraten und sesshaft werden könntest …»

«Adrienne», sagte ich warnend.

«Irgendwann», lenkte sie ein. «Mom wird auf jeden Fall einverstanden sein. Wir wollen beide nur, dass du glücklich bist, Noah. Wenn Georgia Stanton dich glücklich macht, dann kämpf. Kämpf um sie. Tu so, als wärst du eine deiner eigenen Figuren, und hilf ihr, das zu reparieren, was Ellsworth kaputt gemacht hat.»

«Bist du fertig mit deiner Motivationsrede?», stichelte ich halbherzig.

«Soll ich dir noch einen Vortrag darüber halten, wie selten es ist, jemanden zu finden, den man wirklich liebt?»

«Gott bewahre, nein.» Ich warf einen Blick auf den Laptop. «Rechne nicht damit, dass ich Weihnachten zu euch komme. Aber ich hab dich lieb.»

«Ich hab dich auch lieb, und ich verzeihe dir, dass du Weihnachten verpasst, wenn du mir dafür eine Schwägerin schenkst!»

«Tschüss, Adrienne.» Ich legte auf, schüttelte den Kopf und stieß ein Schnauben aus. Wenn es so einfach wäre, Georgia zu heilen, hätte ich es schon längst getan. Ich hob meine Hand und starrte auf Georgias Hochzeitsfoto hinunter, wobei ihre Worte über diesen Tag immer wieder in meinem Kopf erklangen, wie ein Soundtrack.

Es gibt eine Warnung, ein Geräusch, das dein Herz macht, wenn es zum ersten Mal merkt, dass es bei der Person, der du vertraut hast, nicht mehr sicher ist.

Bei Georgia ging es nur um Vertrauen. Ellsworth hatte ihres so sehr missbraucht, dass sie keins mehr hatte. Aber sie hatte mir Scarletts Geschichte gegeben. Sie war die Kletterwand hinauf geklettert. Sie hatte mir ihr Haus geöffnet. Sie hatte mir ihren Körper ohne Vorbehalt angeboten. Sie vertraute mir alles an, außer ihrem Herzen, denn sie war schon einmal verlassen, einfach zurückgelassen worden …

Zum ersten Mal …

«Oh, Scheiße», murmelte ich, als die Erkenntnis mich traf. Ich habe nie gesagt, dass er das getan hat.

Ich blätterte eilig rückwärts durch das Album, als ihre Worte auf eine Weise in mein Bewusstsein drangen, wie sie es in der Situation selbst nicht getan hatten. Ich fand ihren Highschool-Abschluss im Album, ihren Geburtstag, an dem Ava wieder aufgetaucht war, und blätterte langsamer, als ich ihren ersten Kindergartentag erreicht hatte.

Die Fotos unmittelbar davor zeigten Georgia, die mit Ava zusammenlebte, ihre Augen leuchteten, ihr Lächeln war eine jüngere Version des strahlenden Lächelns, das ich aus den letzten Wochen kannte. Echte Liebe muss ertränkt, unter Wasser gedrückt werden, bis sie aufhört zu strampeln. Und genau das zeigten die Fotos Jahr für Jahr. Das langsame Ertrinken der Liebe.

Es war nicht Ellsworth, der Georgia gebrochen hatte – es war Ava. Ava, die verschwunden und wieder aufgetaucht war, wann immer es ihr passte.

Immer dann, wenn sie etwas brauchte.

«Wenn das ein Buch wäre, was würdest du tun?», fragte ich mich, blätterte durch die Seiten und landete bei dem Foto ihres zwölften Geburtstags. «Du würdest die Vergangenheit nutzen, um die Gegenwart zu heilen.»

Die Ateliereröffnung – ich könnte Ava einfliegen lassen. Wenn du in sieben Wochen noch hier bist. Georgia hatte ihr schon alles gegeben, was sie wollte, und wenn ihre Mutter keine Hintergedanken mehr hätte … Es könnte klappen. Ich könnte mich daranmachen, langsam die riesigen Krater zu füllen, die Ava in Georgia hinterlassen hatte, indem ich mit den kleinen Rissen begann. Ich musste nur dafür sorgen, dass Ava allein aus dem Grund hier sein wollte, dass Georgia glücklich war.

Ich schloss das Album, setzte mich an den Schreibtisch, schob die Hemdschachteln beiseite, stellte meinen Laptop vor mich und klappte ihn auf. Wie zum Teufel sollte ich Georgia davon überzeugen, mich weitere sieben Wochen bleiben zu lassen?

Ich betrachtete eingehend das Bild von Jameson und Scarlett, das auf der linken Seite des Schreibtisches stand. «Hast du irgendeinen Tipp?», fragte ich ihn. «Ich kann sie ja nicht mal eben in den Sonnenuntergang fliegen, und seien wir mal ehrlich, du hattest in Constance eine verdammt gute Helferin.» Zudem hatte es nicht geschadet, dass die beiden in einer Zeit gelebt hatten, in der es klug war, die verbleibende Zeit so gut es ging zu nutzen.

Ich trommelte mit den Fingern auf dem Schreibtisch und starrte auf die beiden fertigen Dateien auf meinem Desktop.

Jameson hatte Scarlett für sich gewonnen, indem er die Regeln ausreizte … Vielleicht würde das Gleiche funktionieren, um seine Urenkelin für mich zu gewinnen.

Ich rief Adam an.

«Bitte sag mir, dass du mir gleich das fertige Manuskript schickst.»

«Dir auch Hallo», murmelte ich. «Ich habe noch zwei Tage Zeit.»

«Du weißt doch, dass die Deadline für den Druck dieses Buches enger ist als die Spanx meiner Schwiegermutter.» Ich hörte seinen Stuhl knarren.

«Ja, was das angeht …» Ich schauderte.

«Sag mir nicht, dass du zum ersten Mal in deiner Karriere eine Deadline nicht halten kannst. Nicht bei diesem Buch. Weißt du, wie schwer es sein wird, das zu lektorieren? Sich ständig zu fragen, ob ich das letzte verdammte Buch von Scarlett Stanton versaue?» Seine Stimme wurde höher.

«Du klingst gestresst. Warst du joggen, seit ich abgereist bin?»

«Du bist der Grund dafür, dass mein Blutdruck so hoch ist.»

Und ich stand mit meiner Bitte kurz davor, ihn noch weiter steigen zu lassen, nur damit ich eine Chance hatte, Georgia für mich zu gewinnen. Was für ein egoistisches Arschloch tat das seinem besten Freund an? Offensichtlich du.

«Noah, was ist hier los?» Adams Tonfall wurde sanfter.

«Auf einer Skala von eins bis zehn, was würdest du sagen, wie gut sind wir befreundet? Denn ich würde wahrscheinlich sagen …»

«Du warst mein Trauzeuge. Du bist mein bester Freund. Sprichst du mit mir als deinem Lektor? Oder als Patenonkel meines Kindes?»

«Beides.»

«Scheiße.» Ich konnte förmlich vor mir sehen, wie er sich die Schläfen rieb. «Was brauchst du?»

«Zeit.»

«Die hast du nicht.»

«Nicht meine. Deine. Was hältst du davon, die doppelte Arbeit zu machen, ohne doppelt so viel zu verdienen?» Ich hielt den Atem an und wartete auf seine Antwort.

«Erklär mir, was du meinst.»

Das tat ich dann auch. Ich erzählte dem Menschen, der in meinem Privat- und in meinem Berufsleben eine wesentliche Stütze war, alles, und kaum war ich fertig, hörte ich, wie sich das Garagentor öffnete. Georgia war zu Hause.

«Georgia ist zurück. Machst du es?»

«Verdammt», murmelte er. «Ja, du weißt, dass ich es machen werde.»

«Danke.» Jeder Muskel in meinem Körper entspannte vor Erleichterung.

«Nichts zu danken», bellte er durch den Freisprecher. «Ich fange mit dem an, was schon da ist, aber du schuldest mir ein Ende, Noah.»

Die Bürotür öffnete sich, und Georgia steckte ihren Kopf herein. «Schlechter Zeitpunkt?», flüsterte sie.

Ich schüttelte den Kopf und bedeutete ihr, hereinzukommen. «Ich weiß, es ist ärgerlich, aber ich habe es versprochen.»

«Okay, aber es wird eng werden mit der Druckerei. Du bekommst die Zeit, die du brauchst, aber du solltest dich auf eine ziemlich hastige Überarbeitung gefasst machen.»

Georgias Stirn legte sich besorgt in Falten, während sie ihren Mantel aufknöpfte.

«Ich schaffe das schon.» Ich würde alles schaffen, wenn das bedeutete, dass ich die Zeit bekam, die ich mit Georgia brauchte.

«Das solltest du auch. Oh, und Carmen hat mir aufgetragen, dir auszurichten, dass die Chanukka-Geschenke für die Kinder angekommen sind. Du weißt, dass du das nicht tun musstest, aber danke. Wir werden dich über die Feiertage vermissen, Noah.»

«Geh einfach wieder joggen, Adam. Ich würde dich nur ungern meinen Staub fressen lassen, wenn ich zurückkomme.» Falls ich zurückkomme. Wir legten auf, und ich zog Georgia auf meinen Schoß, ließ meine Hände unter ihren Mantel und ihren Pullover gleiten, um die Wärme ihrer Haut zu spüren.

«Worum ging es da?», fragte sie und strich mir die Haare aus dem Gesicht.

Gott, ich liebte diese Frau.

«Zeit», antwortete ich und küsste sie sanft. Jetzt konnte ich nur noch beten, dass die Hypothek, für die ich meine Karriere verpfändet hatte, mir auch genug davon erkauft hatte.

Sie riss die Augen auf. «Oh Gott, dein Abgabetermin. Der ist diese Woche, nicht wahr? Ist das Buch fertig?» War da ein Hauch von Panik in ihrer Stimme? Oder hörte ich nur, was ich hören wollte?

«Noch nicht.» Es war nicht fertig, zumindest redete ich mir das ein, um ein wenig mehr Zeit mit ihr zu bekommen. Sicher, der Text stand, aber es war nicht fertig , bevor es nicht redigiert war. «Mach dir keine Sorgen. Das ist nur die Abgabe. Adam jongliert mit ein paar Dingen im Kalender und fängt mit dem an, was wir haben, damit wir den Drucktermin halten, während ich die Enden richtig hinbekomme. Meinst du, du hältst es aus, mich noch ein bisschen länger hier zu haben?» Wortklaubereien . Nichts davon war unwahr, aber es fühlte sich trotzdem wie eine Lüge an.

Weil es eine war.

Aber das Lächeln, das sie mir schenkte? Das war es auf jeden Fall wert.