Kapitel 29

Noah

W ar das Zufall? Ein Beweis? War es überhaupt wichtig? Ich klickte mich durch die vier Dokumente, die meine Anwälte vor einer Stunde geschickt hatten. Drei Sterbeurkunden. Eine Heiratsurkunde.

Mein Handy vibrierte auf dem Schreibtisch, und ich warf einen Blick auf das Display. Adrienne .

Ich drückte sie weg und verfluchte meine dumme Hoffnung, weil ich bei jedem Klingeln aufschreckte. Natürlich war es nicht Georgia, aber gehofft hatte ich es trotzdem.

Meine Brust schmerzte, wenn ich an sie dachte, und ich rieb mir direkt oberhalb über die Haut, als würde das den Schmerz lindern. Das tat es aber nicht. Ich vermisste alles an Georgia. Nicht nur die körperlichen Dinge, wie sie zu halten oder sie lächeln zu sehen. Ich vermisste es, mit ihr zu reden, ihre Sichtweise zu hören, die immer anders war als meine. Ich vermisste, wie ihre Stimme klang, wenn sie aufgeregt über die Arbeit mit der Stiftung sprach, wie das Licht in ihre Augen zurückkehrte, während sie wieder auf die Beine kam und begann, ihr Leben neu zu gestalten.

Ich wollte an diesem Leben teilhaben, mehr, als ich meine beiden nächsten Verträge wollte.

Adrienne rief wieder an.

Ich drückte sie weg.

Meine kleine Schwester war nicht von meiner Seite gewichen, während ich in dem kleinen Zimmer im Grantham Cottage meine Koffer packte. Wir hatten denselben Flug zurück nach New York genommen, auch wenn ich mich durch den Dunst des Herzschmerzes und Selbsthasses, der in meinem Kopf dröhnte, nicht an viel davon erinnern könnte. Trotz ihrer Angebote, mich nach Hause zu begleiten, war ich vom Flughafen aus allein heimgefahren, und seitdem ignorierte ich den Rest der Welt.

Leider ignorierte der Rest der Welt mich nicht.

Adriennes Name leuchtete wieder auf meinem Display auf, und plötzlich machte ich mir Sorgen. Was, wenn sie in Schwierigkeiten steckt? Ich wischte über den Bildschirm und nahm den Anruf entgegen, der automatisch auf meine Bluetooth-Kopfhörer übertragen wurde. «Ist etwas mit Mom?» Meine Stimme war rau, klang belegt, weil sie sie so lange nicht mehr benutzt hatte.

«Nein», antwortete sie.

«Den Kindern?»

«Nein. Also, wenn du …»

«Mason?»

«Allen geht es gut, außer dir, Noah», sagte sie seufzend.

Ich legte auf und starrte wieder auf meinen Computer. Die Fotos im Anhang der E-Mail waren sehr grobkörnig – eindeutig eingescannte Kopien der Originale –, und ich hatte sechs Tage und einen Anruf bei meinen Anwälten gebraucht, um sie zu erhalten.

Adrienne rief wieder an.

Warum zum Teufel konnten mich nicht einfach alle in Ruhe lassen? Beim Lecken meiner Wunden konnte ich keine Zuschauer gebrauchen.

«Was?», knurrte ich und ging ran, obwohl ich das verdammte Ding am liebsten aus dem Fenster geworfen hätte.

«Mach deine Haustür auf, Arschgesicht», schnauzte sie und legte auf.

Ich trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch und wünschte, er wäre aus polierter Kirsche und nicht aus modernem Glas. Mich wünschte ich etwa sechzehnhundert Meilen weit weg und dreitausend Meter höher. Dann holte ich tief Luft, schob meinen Stuhl zurück, ging zur Eingangstür meiner Wohnung und machte sie auf.

Adrienne stand auf der Schwelle, den Mantel bis zum Kinn zugeknöpft. Sie balancierte ein Tablett mit zwei Bechern Kaffee in der einen und ihr Handy in der anderen Hand, während sie mich in die Wohnung zurückschob, wobei sich ihr Mund mit schnellen lautlosen Worten bewegte.

Ich riss meine Kopfhörer herunter, ließ sie einfach um meinen Hals baumeln und schloss die Tür.

«… Mindeste, was du tun kannst, ist, mir zu sagen, dass du noch lebst!» Ich bekam gerade noch das Ende ihrer Schimpftirade mit.

«Ich lebe noch.»

«Offensichtlich. Ich klopfe seit mindestens zehn Minuten an die Tür, Noah.» Sie wölbte eine Braue.

«Tut mir leid. Kopfhörer mit Noise-Cancelling.» Ich deutete auf die Bose-Kopfhörer um meinen Hals und ging zurück ins Büro. «Ich stecke gerade mitten in der Recherche.»

«Du steckst gerade mitten im Selbstmitleid», widersprach sie und folgte mir. «Wow», murmelte sie, als ich mich in meinen Bürostuhl sinken ließ. «Ich dachte, das Stanton-Buch wäre fertig?» Sie deutete auf einen Stapel mit Scarletts Büchern auf dem Couchtisch.

«Ist es auch. Wie du weißt.» Das war der Grund, warum ich in Manhattan saß und nicht in Poplar Grove.

«Du siehst beschissen aus.» Sie schob zwei Ordner beiseite und stellte das Tablett auf die freie Stelle. «Hier, etwas Koffein.»

«Kaffee wird das nicht wieder in Ordnung bringen.» Ich warf meine Kopfhörer auf einen Stapel mit Recherchematerial und lehnte mich in meinem Stuhl zurück. «Aber danke.»

«Es ist schon acht Tage her, Noah.» Sie knöpfte ihren Mantel auf, streifte ihn mit einem Zucken ihrer Schultern ab und legte ihn über den Stuhl gegenüber meines Schreibtisches, bevor sie sich setzte.

«Und?» Acht unerträgliche Tage und schlaflose Nächte. Ich konnte nicht klar denken, konnte nicht essen und fragte mich ständig, was Georgia wohl durch den Kopf ging.

«Und genug Selbstmitleid!» Sie nahm einen der Becher vom Tablett und lehnte sich zurück, wobei ihre Haltung der meinen so ähnlich war, dass es fast lächerlich wirkte. «Das bist doch nicht du.»

«Ich bin gerade nicht in Bestform.» Ich verengte die Augen. «Und bist du nicht eigentlich die Mitfühlende in der Familie?»

«Nur, weil die Rolle des sturen Arschlochs schon besetzt war.» Sie nippte an ihrem Kaffee.

Meine Mundwinkel hoben sich.

«Na sieh mal einer an, er lebt.» Sie prostete mir mit dem Becher zu.

«Nicht ohne sie», erwiderte ich leise und blickte auf die Skyline von Manhattan. Was auch immer das hier war, es war kein Leben. Ich existierte vielleicht, aber ich lebte nicht. «Ich dachte immer, der Begriff jemandem verfallen sein sei so etwas wie ein Oxymoron. Es sollte sich durch jemanden erheben heißen, oder nicht? Liebe sollte einem das Gefühl geben, ganz oben zu sein. Aber vielleicht ist dieser Ausdruck so populär, weil es nur bei ganz wenigen funktioniert. Der Rest stürzt am Ende einfach ab.»

«Es ist noch nicht vorbei, Noah.» Adriennes Gesichtsausdruck wurde weicher. «Ich habe euch beide zusammen gesehen. So, wie sie dich angesehen hat … Es kann einfach nicht sein, dass es so endet.»

«Wenn du gesehen hättest, wie sie mich in diesem Büro angesehen hat, würdest du vielleicht anders denken. Ich habe sie wirklich verletzt», erwiderte ich leise. «Dabei habe ich versprochen, das nicht zu tun.»

«Jeder macht mal Fehler. Sogar du. Aber dich in deiner Wohnung zu verkriechen und in dem hier, was auch immer das ist» – sie deutete auf das Katastrophengebiet auf meinem Schreibtisch – «zu vergraben, wird nicht dazu führen, dass du sie zurückgewinnst.»

Ich verschränkte meine Arme vor der Brust. «Bitte, erzähl mir mehr darüber, was ich tun soll, um die Frau zurückzugewinnen, die ich wochenlang absichtlich und unverhohlen belogen habe.»

«Na ja, wenn du es so sagst …» Sie rümpfte die Nase. «Aber du hast sie doch zumindest nicht betrogen, wie ihr Ex?»

«Ich bin mir nicht sicher, ob der Ansatz, ein Lügner sei besser als ein Betrüger, wirklich der richtige Weg ist, um das hier wieder zu richten.» Ich rieb mir über den Nasenrücken. «Ich habe meine beste Waffe benutzt – Worte, Wortklaubereien –, um zu bekommen, was ich wollte, und das hat sich gerächt. Ganz einfach. Es gibt bei ihr keinen Weg zurück.»

«Du behauptest also, sie ist eine Darcy?» Adrienne legte nachdenklich den Kopf schief.

«Wie bitte?»

«Du weißt schon … ihre gute Meinung, einmal verloren, ist für immer verloren.» Sie zuckte mit den Schultern. «Stolz und Vorurteil ? Jane Austen?»

«Ich weiß, wer Stolz und Vorurteil geschrieben hat, und ich würde behaupten, dass Georgia einer der gutherzigsten Menschen ist, die ich kenne.» Sie hatte ihrer Mutter eine Chance nach der anderen gegeben.

«Gut, dann bring das in Ordnung.» Sie nickte. «Du hast recht. Liebe – die gute, echte, lebensverändernde Liebe – ist selten. Man muss um sie kämpfen, Noah. Ich weiß, dass du das noch nie tun musstest, dass du es bei Frauen immer leicht hattest, aber das liegt daran, dass du noch nie genug für jemanden empfunden hast, um lange bei ihr zu bleiben.»

«Gutes Argument.» Das alles war Neuland für mich.

«Du lebst in einer Welt, in der du die Worte schreiben kannst, die jemand sagt, in der eine große Geste alles sofort besser macht. Aber Beziehungen in der realen Welt sind in Wahrheit Arbeit . Wir alle machen Fehler. Wir alle sagen Dinge, die wir bereuen, oder tun das Falsche aus den richtigen Gründen. Du bist nicht der erste Typ, der ordentlich zu Kreuze kriechen muss.»

«Seit wann wartest du schon darauf, mir diese Rede zu halten?» Ich lehnte mich über den Schreibtisch und nahm meinen Kaffeebecher vom Tablett.

«Seit Jahren », gab sie grinsend zu. «Wie habe ich mich geschlagen?»

«Fünf Sterne.» Ich hielt einen Daumen nach oben und nahm einen tiefen Schluck Koffein.

«Ausgezeichnet. Es ist Zeit, sich der Menschheit wieder anzuschließen, Noah. Mach einen Termin beim Frisör, rasier dich, und geh, um Himmels willen, bitte duschen, hier drin riecht es nach Schweiß und altem Essen.»

Ich schnupperte diskret an meiner Achsel und konnte nicht widersprechen. Stattdessen warf ich einen Blick auf die Einladung, die Adam mir vor ein paar Tagen zugeschickt hatte. So wenig es mir gefiel, es gab noch eine Person, die mir die Frage beantworten konnte, die mich in den letzten Monaten immer wieder beschäftigt hatte. Die Frage, die Georgia Scarlett nie gestellt hatte.

«Mein Job hier ist erledigt.» Adrienne stand auf und schlüpfte in ihren Mantel.

«Sich der Menschheit wieder anschließen, mhm?»

«Ja.» Sie nickte und knöpfte ihren Mantel zu.

«Willst du meine Begleitung sein?» Ich reichte ihr die Einladung.

«Diese Veranstaltungen sind so langweilig», stöhnte sie, begann aber zu lesen.

«Diese hier nicht. Paige Parker ist eine der wichtigsten Spenderinnen.» Ich hob die Augenbrauen. «Ich wette, dass Damian Ellsworth auch da sein wird.»

Adriennes Augen leuchteten überrascht auf, ihr Blick huschte zu mir, dann verengten sich ihre Augen. «Irgendjemand muss dich ja vor Ärger bewahren. Ich habe an dem Abend Zeit. Hol mich um sechs ab.»

«Gegen eine gute Show hattest du noch nie etwas einzuwenden.» Ich lachte.

Sie schnaubte und marschierte geradewegs aus meinem Büro.

Ich hörte, wie die Haustür ins Schloss fiel, genau in dem Moment, in dem mich mein Handy über den Eingang einer neuen Nachricht informierte.

GEORGIA : Ich habe beide Enden gelesen.

Mein Herz blieb stehen beim Anblick der drei kleinen Punkte am unteren Rand der Nachricht, die anzeigten, dass sie mit dem Tippen noch nicht fertig war.

GEORGIA : Nimm das wahre. Du hast ihre Trauer, ihren Kampf, hierherzukommen, und das Glück, das sie schlussendlich noch fand, als sie Brian heiratete, sehr gut dargestellt.

Ich schloss die Augen, um der Welle aus anbrandendem Schmerz standzuhalten, die mich überrollte. Verdammt noch mal. Es war nicht nur der Verlust des von mir bevorzugten Endes, des Endes, das Scarlett und Jameson verdient hatten, sondern auch das Wissen, dass es mir nicht gelungen war, Georgia davon zu überzeugen, dass sie das gleiche Glück in ihrem eigenen Leben haben konnte. Ich atmete tief durch, um den Schmerz zu verdrängen, und schaffte es, eine Antwort zu schreiben, die nicht aus tausend Entschuldigungen und der Bitte, mich zurückzunehmen, bestand.

NOAH : Bist du dir sicher? Das glückliche Ende ist besser geschrieben.

Weil mein Herz und meine Seele darin steckten. Es war das Richtige.

GEORGIA : Ich bin mir sicher. Das ist dein Markenzeichen. Zweifle nicht an deiner Fähigkeit, jemandem das Herz herausreißen zu können.

Autsch . Sie wurde bereits wieder zu Eis, was ich ihr nicht verübeln konnte. Und ich war der Grund dafür, verdammt.

NOAH : Ich liebe dich, Georgia.

Sie antwortete nicht. Das hatte ich auch nicht erwartet.

«Ich werde es dir beweisen», sagte ich zu mir selbst, zu ihr, zu der ganzen Welt.