Kapitel 30

Mai 1942

Ipswich, England

K lack. Klack. Klack. Das Geräusch des Tippens erfüllte die Küche, während Scarlett das Herz der Diplomatentochter brach.

Ihr Herz krampfte sich zusammen, als spürte sie selbst den Schmerz, den sie ihrer Figur zufügte. Sie versicherte sich, dass sie die beiden wieder zusammenbringen würde, sobald sie sich weit genug entwickelt hatten, um den anderen zu verdienen. Dies war kein dauerhafter Herzschmerz. Dies war eine Lektion.

Das Klopfen an der Tür verschmolz fast mit dem monotonen Klicken der Schreibmaschine.

Fast.

Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war nach elf, aber es war auch der erste Abend, an dem Constance aus ihren Flitterwochen zurück sein sollte.

Scarlett stieß sich vom Tisch ab und ging barfuß zur Tür, wappnete sich gegen das, was sie auf der anderen Seite erwartete. Wer wusste schon genau, was dieses Monster ihrer kleinen Schwester in der letzten Woche angetan hatte?

Sie setzte ein Lächeln auf, dann öffnete sie die Haustür. Und blinzelte verwirrt.

Auf ihrer Türschwelle stand Howard, in Uniform, er war blass und wirkte erschöpft.

Er war nicht allein. Hinter ihm standen weitere Männer, alle in Uniform mit Adlern auf ihren Schultern.

Ihr Magen krampfte sich zusammen, und sie umklammerte den Türrahmen so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Wie viele? Wie viele von ihnen waren hier?

«Scarlett», sagte Howie und räusperte sich, als seine Stimme brach.

Wie viele?

Ihr Blick sprang von einem Hut zum nächsten. Elf. Es standen elf Piloten vor ihrer Tür.

«Scarlett», versuchte Howie es noch einmal, aber sie hörte ihn kaum.

Jameson flog normalerweise in einer Formation von zwölf Mann. Drei Reihen zu je vier Flugzeugen.

Elf von ihnen waren hier.

Nein. Nein. Nein. Das konnte nicht sein. Es war nicht möglich.

«Sag es nicht», flüsterte sie, als der Boden unter ihren Füßen wankte. Es konnte nur einen Grund geben, warum sie hier waren.

Howie nahm seinen Hut ab, und die anderen taten es ihm nach.

Oh Gott. Dies geschah wirklich.

Sie verspürte den plötzlichen, überwältigenden Drang, ihnen die Tür vor der Nase zuzuschlagen, den Brief nie zu öffnen, aber die Worte waren bereits geschrieben, nicht wahr? Es gab nichts, was sie tun konnte, um zu verhindern, dass dies zu dem wurde, was es bereits war.

Sie presste die Lider zusammen und lehnte sich an das robuste Holz des Türrahmens, als ihr Herz aufnahm, was ihr Gehirn bereits wusste. Jameson war nicht nach Hause gekommen.

«Scarlett, es tut mir so leid», sagte Howie leise.

Sie holte tief Luft, richtete sich auf, reckte ihr Kinn vor und öffnete die Augen. «Ist er tot?»

Die Frage hatte sie sich in den letzten zwei Jahren Hunderte Male gestellt. Sie spukte in ihrem Kopf herum und verstärkte ihre schlimmsten Befürchtungen, jedes Mal, wenn er zu spät kam. Die Frage, die sie, als sie noch als Plotter eingesetzt war, fast um den Verstand gebracht hatte. Die Frage, die sie nie zuvor laut ausgesprochen hatte.

«Wir wissen es nicht.» Howard schüttelte den Kopf.

«Ihr wisst es nicht?» Scarletts Knie zitterten, aber sie fiel nicht. Vielleicht war er nicht tot. Vielleicht gab es noch Hoffnung.

«Er ist irgendwo an der niederländischen Küste abgestürzt. Nach dem, was er über Funk gemeldet hat, und dem, was einige von uns gesehen haben, wurde sein Treibstofftank getroffen.»

Alle nickten, aber nur wenige Augenpaare wagten, ihren Blick zu erwidern.

«Es besteht also eine Chance, dass er noch lebt.» Sie sprach es aus wie eine Tatsache, und die ausgefransten Ränder ihrer Beherrschung klammerten sich mit einer Heftigkeit an diese Möglichkeit, von der sie nicht geahnt hatte, dass sie dazu fähig war.

«Die Wolkendecke war sehr dicht», sagte Howard.

Dem folgte zustimmendes Gemurmel der Piloten.

«Keiner von euch hat den Absturz gesehen?», fragte sie, während ein dumpfes Dröhnen ihre Ohren erfüllte.

Sie alle schüttelten den Kopf.

«Er sagte, dass er abstürzt.» Howie verzog für einen Augenblick das Gesicht, aber er atmete tief durch und riss sich zusammen. «Er sagte, ich soll dir sagen, dass er dich liebt. Das war das Letzte, was ich von ihm gehört habe, bevor er verschwand.» Seine Worte endeten in einem Flüstern.

Ihr Atem ging stoßweise, sie konnte nur versuchen, die Panik beiseitezuschieben. Er war nicht tot. Das konnte nicht sein.

Es war einfach nicht möglich, in einer Welt zu leben, in der er nicht existierte, und deshalb konnte er auch nicht tot sein.

«Du sagst mir also, dass mein Mann vermisst wird.» Ihre Stimme schien von irgendwo jenseits ihres Körpers zu kommen, als wäre nicht sie diejenige, die sprach. In diesem Moment fühlte sie sich in zwei Hälften gespalten. Die eine Scarlett stand in ihrer Tür, redete und suchte nach logischen Gründen, um glauben zu können, dass Jameson möglicherweise noch am Leben war. Die andere Scarlett, diejenige, die an Boden gewann, schrie aus der Tiefe ihrer Seele.

«Scarlett?», fragte eine höhere, vertraute Stimme. Die Ansammlung der Piloten teilte sich, als Constance sich auf dem Bürgersteig näherte. «Was ist hier los?» Sie fragte zuerst Scarlett, doch als keine Antwort ihre Lippen verließ, trat Constance neben sie in den Türrahmen und wandte sich Howie zu. «Was. Ist. Hier. Los?»

«Jameson wird vermisst.» Diesmal brach seine Stimme nicht, als wäre es leichter geworden, es auszusprechen.

Als hätte er es akzeptiert.

«Wo?», fragte Constance und legte ihren Arm um die Taille ihrer Schwester.

Das war nicht richtig. Es war Scarletts Aufgabe, Constance zu trösten, nicht andersherum.

«Wir sind nicht hundertprozentig sicher», gab Howie zu. «Es war direkt an der Küste der Niederlande. Wir wissen also nicht, ob er es geschafft hat, zu landen, oder …»

Oder ob er ins Meer gestürzt ist , beendete Scarlett den Satz in Gedanken.

Die Chancen, einen Absturz oder sogar eine Gefangenschaft zu überleben, standen besser, als die Kälte des Meeres zu überwinden.

«Ihr werdet nach ihm suchen, oder?», fragte Scarlett, und für einen Moment stockte ihr der Atem. «Sag mir, dass ihr nach ihm suchen werdet.» Es war keine Bitte.

Howard nickte, aber es lag keine Hoffnung in seinem Blick. «Sofort bei Sonnenaufgang», bestätigte er. «Wir haben die groben Koordinaten der Stelle, an der wir angegriffen wurden.»

Ein weiterer Faden, an dem man sich festhalten konnte. Ein weiteres Fünkchen Hoffnung. Er war nicht tot. Das konnte nicht sein.

«Und du wirst mir sagen, was ihr findet.» Eine Forderung. «Ganz gleich, was es ist, Howie. Wrackteile … oder auch gar nichts. Du wirst es mir sagen.»

«Du hast mein Wort.» Howie drehte seinen Hut in den Händen. «Scarlett, es tut mir so leid. Ich wollte nie …»

«Er ist noch nicht tot», platzte es aus Scarlett heraus. «Er wird vermisst. Findet ihn.»

Die Piloten nickten ihr zu, verabschiedeten sich und gingen zurück zu den Autos, mit denen sie vom Flugplatz hergefahren waren.

Howie war der Letzte, der sich umwandte, er schien mit sich selbst zu ringen, suchte nach Worten, aber als sie nicht kamen, ging auch er.

Scarlett stand in der Tür, Constances Arm um ihre Taille, während die Autos wegfuhren und aus ihrem Blickfeld verschwanden. Sie musste ins Haus gehen. Musste die Tür schließen, das Verdunklungsgebot galt noch immer. Aber sie konnte ihre Füße nicht bewegen. Sie war wie eine Statue, eingefroren in diesem Moment, zusammengehalten nur durch Leugnung und die brüchige Fassade ihres Willens.

«Komm schon, Liebes», sagte Constance beruhigend und führte Scarlett ins Haus.

«Er ist nicht tot. Er ist nicht tot. Er ist nicht tot.» Scarlett flüsterte das Mantra vor sich hin, und ihr Herz tat sein Bestes, um ihren Verstand davon zu überzeugen, nicht zu zerbrechen.

Sie würde es wissen, nicht wahr? Wenn ihr Herz noch schlug, dann musste Jamesons auch noch schlagen. Und William … Nein. Denk nicht daran.

Constance führte sie zum Sofa, stützte den größten Teil von Scarletts Gewicht. «Alles wird gut», versprach sie, so wie Scarlett es ihr einst auf dem Boden des Vorratsdepots versprochen hatte.

Sie sah hoch zu ihrer Schwester und wurde von einer willkommenen Taubheit erfasst. «Ich hätte den Brief nicht gelesen.»

Constance ließ sich neben ihr auf dem Sofa nieder und nahm Scarletts Hand.

Jetzt konnten sie nichts weiter tun, als zu warten.

Jameson,

 

ich schwöre, ich konnte spüren, wie mein Herz in eine Million Stücke zerbrach, als ich dich gehen sah, und doch liebt dich jeder winzige Splitter dieses gebrochenen Herzens. Ich kann nicht begreifen, dass du so weit weg bist, wo du doch hier überall bist, wohin ich auch sehe. Du stehst unter dem Baum und lädst mich ein, mit dir zu fliegen. Du sitzt im Pub in der Ecke und hältst unter dem Tisch meine Hand. Du stehst auf dem Bürgersteig und wartest auf mich, wenn mein Dienst vorbei ist. Ich spüre dich überall. Ich weiß, dass du die neuen Piloten des Eagle Squadron ausbildest und keine Kampfeinsätze fliegst, aber bitte sei vorsichtig. Pass auf dich auf, mein Liebster. Wir schaffen das. Das müssen wir einfach.

 

Mit all meiner Liebe

Scarlett