Kapitel 37

Georgia

«D as war wirklich zum Niederknien», seufzte Hazel.

«Ja, der Teil war gut.» Ich hielt das Telefon an mein anderes Ohr und wusch mir den Schmutz von den Händen. Die Setzlinge wuchsen gut an, und in ein paar Wochen würden sie stark genug sein, um im Garten ausgepflanzt zu werden. Genau dann, wenn das Wetter freundlich genug werden dürfte, um es zuzulassen.

«Und holy guacamoly , die Hochzeitsnachtszene. Ich muss es wissen, war das deine Gran? Oder versteckt sich da ein bisschen Noah drin, denn es war so heiß, dass ich runter zu Owen in die Praxis …»

«Hör sofort auf zu reden. Das Bild will ich nicht vor Augen haben, wenn ich das nächste Mal zum Zahnarzt gehe.» Ich trocknete mir die Hände ab und versuchte, nicht daran zu denken, wie viel davon von Noah war. Ich schätze, er hatte sich vorgenommen, mir zu beweisen, dass ich mit meiner Bemerkung unbefriedigend , die ich an jenem Tag im Buchladen gemacht hatte, falschlag.

«Meinetwegen. Aber im Ernst: heiß.»

«Ja, ja», sagte ich, als es an der Tür läutete.

«Bist du sicher, dass du nicht zum Essen vorbeikommen willst?», fragte sie, während ich durch den Flur ins Foyer ging. «Mir gefällt der Gedanke nicht, dass du an einem Abend wie heute Pizza isst. Du solltest feiern. Gran hätte dieses Buch geliebt.»

«Mir geht’s gut, und ja, das hätte sie sicher. Warte mal kurz, meine Pizza ist da.» Ich riss die Tür auf. Mein Herzschlag setzte kurz aus und raste dann im Galopp davon.

«Georgia.» Noah stand in der Tür und sah mich mit einem derart glühenden Blick an, dass ich augenblicklich zu Asche zerfiel.

«Hazel, ich muss auflegen.»

«Wirklich? Du willst es dir nicht noch mal überlegen? Wir hätten dich nämlich sehr gerne bei uns.»

«Ja, ich bin sicher. Noah ist hier», sagte ich so beiläufig, wie es mir angesichts der Tatsache, dass ich nicht atmen konnte, möglich war. Drei Monate Sehnsucht stürzten mit der Wucht einer Abrissbirne auf mich herab.

«Oh, gut. Frag ihn wegen der Sexszene, ja?», scherzte sie.

Er wölbte eine dunkle Braue. Offensichtlich hatte er sie gehört.

«Äh, ich glaube, das Gespräch darüber muss noch warten. Er sieht ein wenig aufgebracht aus.» Ich umklammerte den Türgriff fester, nur um nicht umzukippen. Der Selbsterhaltungstrieb verlangte, dass ich den Blick von diesen dunkelbraunen Augen abwandte, aber die Gesetze der Magnetik ließen mich nicht.

«Moment, das ist kein Scherz, oder?» Der Humor war aus ihrer Stimme gewichen.

«Nope.»

«Bye!» Sie legte auf, und ich war auf mich allein gestellt, während ich einem ziemlich verärgerten Noah gegenüberstand, was sich in etwa so anfühlte, als würde ich in den Lauf einer Pistole sehen.

«Lässt du mich rein?», fragte er und hakte seine Daumen in die Taschen. Es sollte verboten sein, so gut auszusehen wie er.

«Wirst du mich anschreien?», fragte ich.

«Ja.»

«Na gut.» Ich wich zur Seite, und er trat ein. Ich schloss die Tür und lehnte mich dagegen.

Er drehte sich im Foyer um. Uns trennten nur wenige Schritte voneinander; ein Abstand, der zu viel und gleichzeitig nicht genug war.

«Ich dachte, du würdest mich anrufen, sobald du zurück bist», begann ich schwach. Ich war heute auf vieles vorbereitet gewesen, ihn zu sehen gehörte allerdings nicht dazu – nicht dass ich mich darüber beschwerte.

Er verengte die Augen, dann griff er in seine Gesäßtasche, holte sein Handy heraus und drückte zwei Tasten.

Mein Telefon klingelte.

«Willst du mich verarschen?», fragte ich, als ich seinen Namen auf dem Display entdeckte.

Er hob sein Handy herausfordernd an sein Ohr.

Ich verdrehte die Augen, ging aber ran.

«Hi, Georgia», sagte er mit tiefer, leiser Stimme, die mein Inneres zu Brei werden ließ. «Ich bin wieder da.»

«Seit wann bist du zurück?», fragte ich. Meine Wangen wurden heiß, als mir klar wurde, dass ich mitten in meinem Foyer mit ihm telefonierte.

Er zog nur grinsend die Augenbrauen hoch, als wäre sein Auftauchen hier Antwort genug.

«Oh Mann», stöhnte ich, und wir beide steckten unsere Handys in unsere Gesäßtaschen. «Beantworte die Frage.»

«Seit achtzehn Stunden», erwiderte er und schob die Ärmel seines Pullovers über die Unterarme nach oben. «Sechs davon habe ich geschlafen. Eine habe ich damit verbracht, herauszufinden, was du getan hast, dann insgesamt elf, um einen Flug zu buchen, zum Flughafen zu fahren, tatsächlich herzufliegen, ein Auto zu mieten und den langen Weg von Denver bis hierher zu fahren.»

«Okay, ich würde sagen, das gilt als seit heute

«Hast du genug Zeit gehabt?» Er hakte die Daumen wieder in seine Taschen. «Oder möchtest du immer noch, dass ich dich in Ruhe lasse?»

«Ich?», quietschte ich. «Du warst doch derjenige, der verschwunden ist. Ich dachte, du wärst nach einer Woche zurück, vielleicht nach zwei, aber nicht nach sechs . Du hättest anrufen und es mir sagen können. Hättest mir ein Update oder eine Brieftaube schicken können. Irgendwas.»

«Du hast mir gesagt, dass du Zeit für dich brauchst und ich anrufen soll, wenn ich zurück bin. Das sind ziemlich genaue Anweisungen, Georgia, und es hat mich verdammt noch mal umgebracht , sie zu befolgen.»

«Oh.»

«Warum hast du das Ende des Buches geändert?», fragte er unvermittelt.

Und los geht’s . «Oh, stimmt. Das.» Ich verschränkte die Arme vor der Brust und wünschte, ich hätte mich heute für etwas anderes als Jeans und ein Longsleeve entschieden. Dieses Gespräch verlangte nach einer Rüstung … oder nach Dessous.

«Ja. Das.» Er hob die Brauen. «Warum hast du es geändert?»

«Weil ich dich liebe!»

Seine Augen weiteten sich.

«Weil ich dich liebe», wiederholte ich und schaffte es dieses Mal, nicht zu schreien. «Und du hattest recht mit dem Ende. Ich hatte unrecht. Ich wollte nicht, dass deine Karriere zerstört wird, weil ich verbittert und kalt und gemein …»

Bevor ich den Satz beenden konnte, war er bei mir, sein Körper drückte meinen gegen die Tür, seine Hände waren in meinem Haar, sein Mund küsste mich, bis ich alles andere vergaß.

Gott, ich hatte das vermisst – ich hatte ihn vermisst. Ich erwiderte seinen Kuss, legte alles hinein, verschränkte meine Arme hinter seinem Nacken, während er mich, eine Hand unter jedem Unterschenkel, hochhob. Ich kreuzte meine Knöchel hinter seinem Rücken. Näher. Ich musste ihm noch näher kommen.

Immer wieder nahm er meinen Mund in Beschlag und setzte mich in Brand wie ein Streichholz, das in eine Benzinlache fällt – wie ein Blitz, der in Zunder einschlägt.

«Warte», sagte er an meinem Mund, dann zuckte er zurück, als hätte ich ihn gebissen. «Wir können das noch nicht tun.» Seine Brust hob sich schwer.

«Was?» Meine Füße landeten wieder auf dem Boden, und einen Herzschlag später stand er in der Mitte des Foyers, die Hände über dem Kopf verschränkt. «Was ist los?»

«Das hier ist schon mal schiefgegangen, weil ich dir etwas verheimlicht habe.»

«Seltsamer Zeitpunkt für diesen Hinweis, aber okay.» Ich lehnte mich gegen die Tür und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Er war nicht der Einzige, der Geheimnisse gehabt hatte. «Im Sinne der absoluten Offenheit sollte ich dir wohl mitteilen, dass ich Kinder bekommen kann.»

«Ich dachte …» Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, und zwei kleine Falten erschienen auf seiner Stirn. «Nicht, dass es von Bedeutung wäre, aber für mich war das sowieso nie ein Problem. Es gibt viele Wege zur Elternschaft, nicht nur den biologischen.»

«Danke. Aber ich kann Kinder kriegen. Ich … wollte nur keine mit Damian haben, also habe ich die Pille nicht abgesetzt. Ich wollte nicht wissen, was für eine Mutter ich in der damaligen Situation sein würde. Das habe ich ihm allerdings nicht gesagt.»

«Oh. Okay. Also, ich habe die letzten sechs Wochen zwischen England und den Niederlanden verbracht.» Er fischte einen kleinen, weißen Umschlag aus seiner Hosentasche.

«Du hast für ein Buch recherchiert. Hat Adam mir erzählt.» Dafür hatte er uns unterbrochen? Wir könnten längst nackt sein, er aber wollte über Buchrecherche plaudern?

«Nicht ganz. Ich habe eine Firma für Tiefsee-Bergung beauftragt, Jamesons Flugzeug zu orten, anhand der letzten Koordinaten aus den Funksprüchen an jenem Tag.»

«Du hast was?»

«Ich glaube, wir haben es letzte Woche gefunden, und mit glaube meine ich, dass ich mir verdammt sicher bin, aber bevor das offiziell bestätigt werden kann, steht noch eine Menge Bürokratie an. Die Eagles sind erst im September zum amerikanischen Militär übergetreten, und er ist im Juni abgestürzt, also war er da noch bei der RAF , aber gleichzeitig amerikanischer Staatsbürger. Man ist sich nicht ganz einig, wer zuständig ist.» Er drehte den Umschlag zwischen seinen Fingern.

«Aber du glaubst, du hast ihn gefunden?», fragte ich leise.

«Ja … und nein.» Er seufzte. «Es ist eine Spitfire, aber die Abzeichen am Heck sind nicht mehr zu erkennen und die Wrackteile liegen weit verstreut.»

«Wo?»

«Vor der Küste der Niederlande. Es ist …» Er seufzte. «Es ist zu tief, um das ganze Wrack bergen zu können, aber wir haben ein ferngesteuertes Unterwasserfahrzeug runter geschickt.» Er kam langsam auf mich zu. «Wir haben eine Aluminiumplatte des Rumpfes und das, was wir für das Cockpit halten, gefunden, aber keine … Überreste.»

«Oh.» Ich wusste nicht, ob ich erleichtert oder am Boden zerstört sein sollte. So nah dran zu sein und doch keine Gewissheit zu haben. «Warum glaubst du dann …»

Noah nahm meine Hand mit der Handfläche nach oben und öffnete den Umschlag darüber. Ein goldener Ring glitt heraus und in meine Hand. Er war noch warm aus Noahs Tasche. «Lies die Inschrift.»

«J In Liebe, S.» Meine Kehle schnürte sich zu. «Das ist seiner», flüsterte ich.

«Das glaube ich auch», stimmte Noah zu, und seine Stimme wurde rau. «Ich bringe ihn zurück in die Nordsee, wenn du das möchtest. Wir haben nach irgendetwas gesucht, das das Wrack identifizieren könnte, und da lag der Ring, mit Gravur und allem … als hätte er darauf gewartet, gefunden zu werden. Das Team, das ich angeheuert habe, sagte, sie hätten so etwas noch nie erlebt.»

Meine Finger schlossen sich um den Ring. «Danke.»

«Gern geschehen. Ich bin sicher, dass dich diese Woche noch jemand anruft. Die Amerikaner. Die Briten. Ich kann dir nicht sagen, wer.» Er schluckte. «Das war aber nicht der einzige Grund, warum ich nach England geflogen bin. Ich weiß, dass du möglicherweise wieder wütend auf mich wirst, und ich habe keine Beweise, aber ich glaube …» Er schüttelte den Kopf, holte tief Luft und setzte erneut an. «Ich glaube, das Buch – unser Buch – wurde von zwei verschiedenen Personen geschrieben.»

«Genau so ist es.» Ein Lächeln breitete sich langsam auf meinen Lippen aus, und ich spürte das harte Metall des Eherings auf meiner Handfläche.

Noahs Augen weiteten sich und er öffnete den Mund.

«Die ältesten Seiten – die unbearbeiteten Originalseiten – wurden von Scarlett während des Krieges geschrieben.» Ich schluckte. «Und die neueren, die Überarbeitungen und die zusätzlichen Seiten … die stammen alle von …»

«Constance», vermutete er.

Ich nickte. «Woher weißt du das? Bis vor sechs Wochen hatte ich keine Ahnung.» Was hatte er gesehen, was ich nicht gesehen hatte?

«Das Buch selbst hat mir einen Hinweis gegeben. Ich hätte es nicht herausgefunden, wenn unser Buch das letzte gewesen wäre, das sie geschrieben hat … und nicht das erste. Dann war da noch die Heiratsurkunde. Sie hat Damian erzählt, dass sie so lange brauchte, um wieder heiraten zu können, weil sie das Gefühl hatte, ihre erste Ehe sei noch nicht vorbei, was sich mühelos dahingehend interpretieren ließ, dass sie Jameson immer noch liebte … bis ich die Sterbeurkunde von Henry Wadsworth fand, und die Jahreszahlen übereinstimmten. Das war kein Beweis … nur eine Vermutung, und ich wollte dein Vertrauen in sie nicht ohne einen verdammt guten Grund erschüttern. Aber ich habe beschlossen, mit dem Graben aufzuhören, bevor es noch jemandem auffällt.»

«Gran – Constance hat es mir erzählt. Sie hat das alles ein Jahr vor ihrem Tod aufgeschrieben und mir zustellen lassen. Als ich es gelesen hatte, habe ich dich angerufen, aber du warst schon weg, also habe ich Adam angerufen.»

«Und das Ende des Buches geändert.»

Ich nickte.

«Weil du mich liebst.» Sein Blick suchte meinen.

«Weil ich dich liebe, Noah. Und weil Gran im wahren Leben ihr Happy End hatte. Sie hat dafür gekämpft. Sie brauchte dich nicht, um es für sie zu erschaffen – sie hatte es schon bekommen, sie hatte es bereits gelebt. Du hast Scarlett und Jameson die Geschichte gegeben, die sie verdient haben. Der Absturz, das Untertauchen, der holländische Widerstand – alles. Du hast eine Geschichte beendet, die das Schicksal zu Unrecht verkürzt hatte. Gran … konnte das nicht. Sie ließ sie unvollendet, weil sie sie nicht gehen lassen konnte – sie konnte Scarlett nicht gehen lassen. Du hast sie befreit.»

Er umfasste mein Gesicht. «Ich hätte es für dich getan. Hätte dir alles gegeben, was du wolltest, egal, was die anderen denken.»

«Ich weiß», flüsterte ich. «Weil du mich liebst.»

«Weil ich dich liebe, Georgia, und weil ich es leid bin, ohne dich zu leben. Bitte zwing mich nicht dazu.»

Ich schlang meine Arme um seinen Hals und stellte mich auf die Zehenspitzen, um mit meinen Lippen über seine zu streichen. «Colorado oder New York?»

«Herbst in New York. Zumindest den August und September.» Er lächelte an meinen Mund. «Colorado im Winter, im Frühling und im Sommer.»

«Wegen des Herbstlaubs?», vermutete ich und knabberte sanft an seiner Unterlippe.

«Wegen der Mets.»

«Abgemacht.»